Nr. 264.

Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.

90. Jahrgang.

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Donnerstag, den 11. November 1915.

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Schlechte Stimmung im englischen Oberhaus.

Die englischen Lords.

England, das Land des freien Bürgertums, steht mehr unter konservativ-aristokratischem Einfluß, als der Außenstehende vermutet. Daß diese Tatsache von den wenigsten erkannt wird, beruht auf der meister­haften Taktik der englischen Politik, die allesfür das Volk tut und alles durch das Volk". Der Adel in Eng­land tritt nach außen hin nicht so exklusiv in Erschei­nung; es ist ja bekannt, daß beim niederen Adel immer nur dem Erstgeborenen die Privilegien des Standes zugutekommen, während die Nachgeborenenen nur den bürgerlichen Namen tragen. Natürlich bewegen sich diese durch Geburt Benachteiligten in gesellschaftlicher Beziehung meistens genau in denselben Kreisen wie ihreglücklicheren" Anverwandten, die nachgeborenen Söhne nehmen meistens den Beruf von Politikern, Be­amten, Eroßkaufleuten, Offizieren an, und stärken auf diese Weise merklos, aber umso nachhaltiger, die Macht der Aristokratie, zu der sie sich alle als gehörig be­trachten. Für den Eingeweihten ist es daher kein Ge­heimnis, daß die wichtigsten Aemter in England vom Adel besetzt sind, an welche Feststellung aber zugleich auch die höchst bedeutsame Betrachtung geknüpft wer­den muß, daß der englische Adel in keinerlei Weise m-it der Genealogie des kontinentalen Adels verglichen werden darf. Gerade durch die Einrichtung, daß immer nur ein Erbe den Adelstitel weiterführt, und dadurch zu einer außerordentlichen gesellschaftlichen Stellung gewissermaßen qualifiziert ist, während die anderen Glieder der Familie gezwungen sind, sich irgend einem bürgerlichen Wirkungskreis zu widmen, gewinnt der englische Adel stets neues Blut und bleibt auch auf diese Weise stets im gleichen Schritt mit der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Lan­des. Eine Erstarrung in den Ueberlieferungen, wie wir sie größtenteils beim kontinentalen Adel erlebt haben, wird dadurch ausgeschlossen. Nur so aber war es auch der englischen Aristokratie möglich, die Herrschaft in dem durch seine insulare Lage für die Entwicklung in­dividualistischen Geistes hervorragend begünstigten Lande aufrecht zu erhalten. Denn, daß diese Herrschaft besteht, ist schon MS der Persönlichkeit der Männer er­sichtlich, die bisher die Geschicke Englands geleitet ha­ben. Ganz gleich, ob ein konservatives oder eine li­berales Ministerium am Ryder war, die leitenden Männer entstammten zum überwiegenden Teil dem Adel, und darin dürften auch mit die Gründe gesucht werden, warum des Zwei-Parteiensystem in England sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Diese Ein­richtung hat den herrschenden Klassen gewissermaßen als Sicherheitsventil gedient, wenn die gerade am Nllder befindliche Regierung einn falschen Kurs auf irgend einem Gebiet eingeschlagen hatte. Der Bolks- anschauung wurde dadurch Rechnung getragen, wie überhaupt dem Volk in jeder Beziehung große Freiheit gegeben wurde, was das Individuum und seine Stel­lung im Staate anbelangt. Der Kardinalpunkt engli­scher Weltanschauung aber besteht seit Jahrhunderten in der Erhaltung der See- und damit der Welt­herrschaft. Hier hat das Volk bisher nicht viel oder gar nichts zu sagen gehabt. Die Lords haben für die Er­haltung und Befestigung der englischen Weltherrschaft bis aus den heutigen Tag gesorgt, selbst wenn auch dem englischen Volk dieMethoden", wie diese Herr­schaft errungen und erhalten wurde, moralisch nicht einwandfrei erschienen. Es geschah zum Wohl des Vol­kes. und es galt und gilt jedem englischen Staatsmann als oberster politischer Grundsatz:Recht oder Unrecht, es geschieht für mein Vaterland".

Diese historische Skizze möge als Einführung in die Debatte im englischen Oberhaus, dem Haus der Lords, voraufgehen, um die Bedeutung der Ausführun­gen dieser Herren ins rechte Licht zu stellen. Es ist charakteristisch, daß im Unterhaus, wo sicherlich noch mehr Stimmen vorhanden waren, die dieselbe Anschau­ung teilten, die hier unverschleiert zum Ausdruck kam, die phrasenreiche Rede Asquith's und die ungünstige Lage der Alliierten bei Weitem nicht in dem Maße kommentiert wurden, wie das im Oberhaus geschehen konnte, von einer so offenen Besprechung der Friedens­frage schon gar nicht zu reden. Wenn solche Worte vom Hause der Lords kommen, so hat das schon etwas anderes zu bedeuten, als die platonischen Erklärungen englischer Sozialisten. Es wäre aber völlig verfehlt, nun zu schließen, daß in den maßgebenden Kreisen Eng­lands Neigung zum Frieden um jeden Preis vorhan­den wäre. Daß das nicht der Fall ist, geht ebenfalls aus den Erklärungen hervor. Aber das ist aus den offenherzigen Reden herauszulesen-. Zn England bricht sich die Anschauung Bahn, daß das Geschäft nicht mehr rentabel ist. Man glaubt nicht mehr an eine Wendung der Dinge, ja man fürchtet für Englands höchste Güter, Indien und Aegypten. Daher die warnenden Töne der edlen Lords, durch deren Musik wir uns aber diesmal nicht mehr irre machen lasten dürfen. Eiebt England das Spiel verloren, so soll es alsGentleman" auch bezahlen, tut es das nicht, so hat es das weitere Ri­siko diesmal selbst zu tragen.

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Scharfe Kritik an der Regierung. Eigen­tümliche Friedensstimmung.

sWTB.) London, lll. Nov. Die Debatte über die Zensur wurde im Oberhause am 8. November fortge­setzt. Lord Lorebury sagte: Wenn man klagt, daß das Publikum den Ernst der Lage nicht kennt, so ist die Ur­sache die, daß die legitimen Nachrichtenquellen verstopft sind. Man sagt, daß wir durch die Erörterung dieser Dinge den Feind ermutigen, aber der Feind weiß über unsere Angelegenheiten erheblich bester Bescheid, als wir selbst. Was ihn ermutigt, ist unsere Unfähigkeit und Verschwendung. Der Redner kritisierte die Kriegs­leitung an den Beispielen des Unterganges des Ge­schwaders des Admirals Cradock, der Unternehmungen in Antwerpen und an den Dardanellen, und fragte: Wie kann die Regierung Vertrauen erwarten, wenn sie solche Fehler begeht und dann den Vorhang zuzieht, so daß wir eine Wiederholung der Fehler nicht verhin­dern können? Diese Fehler, wie auch der Munitions­mangel sind keine gewöhnlichen Wechselfälle des Krie­ges, sondern deuten darauf hin, daß irgendwo wirkliche Unfähigkeit herrscht, aber wir erfahren nicht, wo. Der Redner bedauerte die Bildung des Koalitionskabinetts. Sie habe nur die parlamentarische, nicht die nationale Lage erleichtert und England des Systems der zwei Parteien und der verantwortlichen Kritik durch die Opposition beraubt. Der Redner fuhr fort: Wenn wir die Vergangenheit nicht vergessen können, so brauchen wir Versicherungen bezüglich der Zukunft. Wir stehen vor ernsten Schwierigkeiten auf dem Balkan. Ein neuer Wechsel hat durch Kitchcners zeitweilige Ab­wesenheit, die hoffentlich kurz ist, stattgefunden. Der Redner fragte, ob für die Truppen in Mesopotamien, Oftafrika und Aegypten entsprechende Maßnahmen ge­troffen worden seien, und schloß: Die Lage ist in der ganzen Geschichte ohne Beispiel . Jede große Nation glaubt, daß der Krieg ihr aufgezwungen wurde. Alle glauben, daß sie im Rechte sind und nur durchhalten müssen, um zu siegen. Die Verluste an Menschen, die bereits auf 15 Millionen Tote und Beschädigte geschätzt

werden, und viele Tausende Millionen Kriegsschulden werden die gesamte Zivilisation verändern. Wenn der Krieg endlos fortgeht, so werden Revolutionen und Anarchie folgen. Große Teile des Kontinents werden eine Wildnis sein mit einer Bevölkerung von Greisen, Frauen und Kindern. Die Menschen müßten seltsam konstruiert sein, die nicht jede ehrenvolle Gelegenheit ergreifen würden, um einen Aufreibungskrieg zu ver­hindern, der das schrecklichste Unglück wäre, das die Menschheit treffen könnte.

Lord Milner kritisierte die Zensur, namentlich die Verstümmelung der deutschen Funkenberichte. Die Zen­sur könne doch nicht verhindern, daß diese neutrale Länder erreichten. Die Zensur habe die deutsche Mel­dung unterdrückt, daß die Bemannung eines deutschen Unterseebootes von britischen Matrosen ermordet wor­den sei. Diese Unterdrückung wurde vielfach als Ein­geständnis der Schuld angesehen. Dazu kommt die beständige Zrresührung des Publikums durch optimi­stisch znrechtgemachte Kriegsberichte, wie über die Schlacht bei Nenve-Chapelle am 25. September. Mil­ner kritisierte sodann die Balkanpolitik und sagte: Ich weiß nicht, weshalb die griechsche Krisis uns über­raschte. Sie überraschte uns nicht nur, sondern sie warf uns völlig zu Boden, und wir verharrten in dieser Lage, bis Joffre herüber kam, um uns zu helfen, einen Ent­schluß z« fasten. Milner kritisierte die vielbesprochene Rede Ereys Ende September, die allgemein als un­bedingtes Hilfsversprechen an Serbien ausgefaßt wurde, und sagte: Künftig werden die Nationen unsere Er­klärungen, besonders unsere Versprechungen und Ver­pflichtungen zur Unterstützung, sehr genau prüfen und sie nicht zum Nennwerte nehmen, sondern von allen Seiten betrachten und Nachsehen, wo die Falle steckt. Man muß daher auch die letzten Versicherungen As- quiths sehr genau prüfen. Er sagte: Wir können nicht zulasten, daß Serbien eine Beute der Zentralmächte und Bulgariens wird, aber heute ist cs ihre Beute. As- quith versicherte Serbien, daß es ruhig sein könne. Laß die britische Regierung seine Unabhängigkeit als ein wesentliches Ziel der Alliierten betrachte. Aber diese Erklärung erscheint noch unbestimmter als diejenige Ereys. Wenn die Unabhängigkeit Serbiens in einigen Wochen der Vergangenheit angehört, dann wir- Asquith vielleicht gar in Sorge sein, was die Auslegung seiner Worte betrifft. Vielleicht wird das Haus dann er­fahren, wie viel oder wie wenig seine Worte bedeuten. Milner schloß: Was mich über das Kabinett beun­ruhigt, ist, daß die Elemente der Kraft ausschciden. Es verlor Carson, es verliert mindestens zeitweise Kit- chener. Zch wage vorauszusagen, daß sich Kitchcners Abwesenheit beträchtlich hinziehen wird.

Lord Courtney sagte: Die Bedeutung der neuen Erklärung Asquiths scheint ungenügend verstanden worden zu sein. Wenn die Deutschen auf der Westsront keinen Fuß vorrückten, so können wir nicht sagen. ivvtz wir vorrückten und sic zurückweichen. Denn noch wurden kräftige, energische, tragische Angriffe gemacht, um zu versuchen, die Demarkationslinie zu verändern. Die Lage an der Westfront ist die, daß wir nicht gesiegt ha­ben und nicht besiegt find. Die Lage an den Dardanel­len ist die eines unmöglichen Abenteuers. Auch die Lage zur See weist letzten Endes dieselbe Tatsache auf, da längere Zeit keine Veränderung stattsand und an­scheinend selbst die Möglichkeit einer Veränderung der Lage nicht angenommen wird. Wir beherrschen die Meere, könne« aber die deutsche Flotte nicht zu einer Schlacht zwingen. Der Redner fuhr fort: Die alte, von vielen Generationen aufgebaute Zivilisation ist fast zerstört. Der Krieg hat das Niveau der Zivilisation herabgesetzt, große soziale Rückschritte herbeigeführt