Nr. 202.

Amts- und Anzeigeblatt für den Oberamtsbezirk Calw.

9V. Jahrgang.

Erscheinungsweise: 6mal wöchentlich. Anzeigenpreis: Im Oberamts­bezirk Ealw für die einspaltige BorgiSzeile 10 Pfg.. außerhalb desselben 12 Pfg., Reklamen 25 Pfg. Schluß sur Jnseraranncchme 10 Uhr vormittags. Telefon S.

Dienstag, den 31. August 1915.

Bezugspreis: In der Stadt mit Trägerlohn Mk. 1.25 vierteljährlich. Post­bezugspreis für den OrtS- und Nachbarortsverkehr Mk. 1.30. im Fernverkehr Mk. 1.30. Bestellgeld in Württemberg 30 Pfg.. in Bayern und Reich 42 Pfg.

Aussichtsreiche VersslgW Mer Brest-Litmsk.

Vor Mm md Srodm.

Die politische Lage.

Während die verbündeten Armeen im Osten an verschiedenen Punkten neuen großen Ereignissen entgegengehen, wird durch Diplomatie und Presse dauernd an der politischen Weiterentwicklung der Dinge gearbeitet. Die Haupttätigkeit auf diesem Gebiet liegt bei England, das ja gewöhnt ist, durch Worte und Geld seine Interessen zu vertreten. Als England uns den Krieg erklärt hatte, hatte nach der kürzlichen Veröffentlichung derNorddeutschen Allgemeinen Zeitung" Erey den deutschen Bot­schafter Lichnowsky vor seiner Abreise in seine Woh­nung gebeten, um von ihm Abschied zu nehmen und ihm noch eine vertrauliche Mitteilung zu machen. Fürst Lichnowsky hat Wer diese Unterredung fol­gende interessante Mitteilung gemacht: Sir Edward Grey war sichtlich bewegt, als er mich empfing und sagte mir, daß der Entschluß, den er hätte fassen müssen, für ihn das Schwerste gewesen sei in seinem bisherigen Leben. Die Erwägung wäre hierbei ausschlaggebend gewesen, daß der Schaden den Eng­land durch den Krieg erfahren, durch die Beteiligung nicht viel größer würde, als durch Passivität, und daß England als beteiligte Macht noch mehr in der Lage sei, fern Wort in die Wagschale zu werfen, als wie durch Neutralität, schon weil es alsdann jeder­zeit einen Rückzug aus dem Kampf antreten könne. Grey bot sich dann für den Fall, daß der Krieg für Deutschland nicht den Ausgang nehme, den die deutscheMilitärpartei" erwarte, als Vermittler an, um uns behilflich zu sein. Es liege ihm jede Ab­sicht fern, Deutschland zu erdrücken. Alles was er wünsche, sei, den Frieden unter annehmbaren Be­dingungen sobald wie möglich wieder herzustellen, um das namenlose Unglück, das die gesamte zivili­sierte Welt betroffen, nach Möglichkeit einzuschrän­ken. Auf meine Bemerkung, daß die Rolle des Schiedsrichters ihm bei der Neutralität viel eher zugefallen wäre, entgegnets der Minister, daß er im Gegenteil glaube, daß die Beteiligung Englands die Dauer des Krieges eher beschränken könne, wie das Gegenteil. Natürlich hat Erey diese von ihm gemachten Aeutzerungen dementieren lassen, aber wir haben keinen Anlaß, Herrn Grey mehr zu glau­ben als dem deutschen Botschafter. Der Hintergedanke der Grey scheu vertraulichen Mitteilung ist natür­lich der, daß England sein bisher stets mit Erfolg getriebenes Spiel, seine Konkurrenten mit Hilfe anderer unschädlich zu machen, um sie sich dann wieder gegen einen neuen Gegner zu gewinnen, auch an uns probieren wollte. Ein aus diesem Kriege siegreich hervorgehendes Rußland wäre eben dem perfiden Albion zu stark gewesen. Es hätte also durch diplomatische Unterstützung des wirtschaft­lich ruinierten Deutschland wieder eine Handhabe gegen Rußland, mit dem es sehr unbequeme Nach­barschaft in Zentralasien erhalten hätte, gewinnen mögen. Der englische Plan ist an der ungeahnten Widerstandskraft Deutschlands und seiner Verbün­deten gescheitert. Die Engländer werden über kurz oder lang einsehen müssen, daß sie bei den künftigen Friedensverhandlungen nicht wie sie hofften, den Vermittler, oder besser gesagt, den Diktator spielen können, sondern daß sie eher noch auf den guten Willen Deutschlands »ingewiesen sein werden. Es scheint aber, als habe in maßgebenden Kreisen diese Einsicht schon gehörig gedämmert, denn schon bei der Beurteilung des offenen Briefes von Grey sprachen wir die Vermutung aus, ob seine Frage, was Deutsch­land zur Entschädigung feines -ugestandenenUn-

Das bisherige Ergebnis im Osten.

Ein 1 Vs-Millionen-Heer vernichtet.

(WTB.) Berlin, 30. Aug. Aus dem Haupt­quartier wird uns geschrieben: Im gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem durch den Fall der inneren russi­schen Verteidigungslinie ein gewisser Abschluß in den fortlaufenden Operationen erreicht wurde, ist es lehrreich, sich kurz das bisherige Ergebnis zu ver­gegenwärtigen. das am 2. Mai mit dem Durchbruch bei Eorlice begann. Die Stärke der russischen Ver­bände, auf die der eigentliche Stoß nach und nach traf, wird gering mit etwa 1400 VVV Mann beziffert werden können. In den Kämpfen sind rund 11VV VVV Mann gefangen und mindestens 300 000 Mann ge­fallen oder verwundet, wenn man die Zahl der so Ausgeschiedenen (ohne Kranke) auf nur 30 Pro­zent der Gefangenen veranschlagt. Sie ist sicher höher, denn seitdem der Feind, um den Rest seiner Artillerie zu retten, seinen eiligen Rückzug ohne jede Rücksicht auf Menschenleben in der Hauptsache durch Infanterie zu sichern versucht, hat er natürlich ungeheure blutige Verluste erlitten. Man kann also sagen, daß die Heere, auf die unsere Offensive gestoßen ist. einmal ganz vernichtet worden sind. Wenn der Gegner trotzdem noch Truppen im Felde stehen hat, so ist dies dadurch zu erklären, daß er die für eine Offensive gegen die Türkei bereit gehaltenen Divisionen heranzog. daß er sehr viele halbausge- bildete Ersatzmannschaften aus dem Innern Ruß­lands eiligst heranführte, und daß er endlich ans jenen Fronten, an denen unser Druck weniger fühl­bar war, zahlreiche Mannschaften einzeln und in kleinen Verbänden nach Norden vorschob. Alle diese Maßnahmen haben das Verhängnis nicht aufhalten können. Aus Galizien, Polen, Kurland und Litauen ist der Feind vertrieben. Seine geschlossene Front ist zerrissen, seine Heere fluten in zwei völlig ge­trennten Truppen zurück. Nicht weniger als zwölf Festungen, darunter vier große und ganz modern ausgebaute, fielen in die Hände unserer tapferen, treuen Streiter und damit die äußere und die innere Sicherungslinie des russischen Reiches.

rechts" an Belgien tun wolle, nicht vielleicht so ein kleiner Wink für eine Verständigung sein sollte. Die heutige Meldung derFranks. Zeitg.". wonach derEkonomist", das angesehenste wirtschaftliche Fachblatt Englands an leitender Stelle bei Be­sprechung von Greys Brief darauf hinweist, daß in der Zity der Eindruck vorherrsche, daß die Friedens­verhandlungen nicht mehr entfernt erscheinen, scheint unserer Anschauung also Recht zu geben. Daß man in England aber genug am Krieg hat, und sich von einer Weiterführung keinen Umschwung der militärischen Verhältnisse mehr verspricht, das weist dieNordd. Allgem. Zeitg." durch die Kommentie­rung eines Artikels der offiziösenWestminster Ga­zette" nach, die über die Rede des Reichsschatzsekre­tärs Helfferich, in der er auseinandersetzte, daß das Bleigewicht der Milliarden Kriegskosten die An- ftiste» dieses Krieges zu tragen hätten, in höchste

Erregung geraten ist. Das Geständnis der Absicht, den Alliierten eine Kriegsentschädigung aufzuer­legen, streife an Geisteskrankheit, meint das offi­ziöse Organ und auch Erey hat ja diesen Satz Helf- ferichs besonders unterstrichen, indem er daraus fol­gerte, Deutschland wolle die ganze Welttribut­pflichtig" machen: es erstrebe also doch die Welt­herrschaft. Mit Recht stellt dieNordd. Allgem. Zeitg." angesichts dieser komischen Tiraden der amt­lichen Kreise Englands fest, daß anscheinend nichts die Herren Briten so nervös machen könne, als die Geldfrage, bei der sie der zahlende Teil sind. So­lange die Engländer Wer noch daran glaubten, daß sie Deutschland demütigen könnten, da war eine von Deutschland zu zahlende Kriegsentschädigung, die uns für lange Jahre unter wirtschaftlichem Druck gehalten hätte, selbstverständlich. Wenn also heute die englischen lÄaatsmänner eine Kriegsentschädi­gung für unmoralisch und verrückt erklären, so kann diese Meinungsänderung doch sicherlich nur dadurch entstanden sein, daß sie sich zu der Anschauung durch­gerungen haben, daß England mit zu den Zahlen­den gehören werde.

Wenn sich aber auch allmählich, mit unfern fortschreitenden Siegen im Osten, in gewissen Krei­sen der Entente die Einsicht einschleicht, daß man mit einer Niederringung Deutschlands und seines Verbündeten nicht mehr rechnen könne, so wird im allgemeinen doch immer noch versucht, die Lage zu halten. Trotz der fürchterlichen Niederlage der Rus­sen, deren Ilmfang uns heute wieder recht plastisch vor Augen geführt wurde, fährt die russische Re­gierung sott, das eigene Land und das Ausland durch Trostberichte Wer den Ernst der Lage wegzu­täuschen. Andererseits rechnet der Vierverband wohl immer noch mit einer Unterstützung des Balkans. Man ist auch bezüglich dieses Hexenkessels immer noch nicht im Klaren. Die Ratifizierung des tür­kisch-bulgarischen Vertrags läßt auf sich warten. Nach diesem Vertrag wäre Bulgarien zu wohlwol­lender Neutralität verpflichtet, während die von den Vierverbandsstaaten Bulgarien gewährten Zu­geständnisse bezüglich Mazedoniens dieses zur Kriegs­erklärung an die Türkei, verpflichtet hätten. Allen Anzeichen nach ist die Verzögerung der Unterzeich­nung des türkisch-bulgarischen Vertrags aber wohl nur äußeren formellen Umständen zuzuschreiben, da Bulgarien eben immer noch in Unterhandlungen mit dem Vieroerband steht, und wohl auch seine Gründe hat, nicht sofort abzubrechen. Daß Bulga­rien übrigens seinen Hafen Warna am schwarzen Meer mit schweren Geschützen ausriistet, ist ein Zei­chen, daß es wohl nicht gegen die Türkei rüstet. Bezüglich Rumäniens und Griechenlands, welch letz­teres unter besonders starkem Druck Englands steht, kann nicht viel gesagt werden. Rumänien mobili­siert anscheinend im Stillen, und Griechenland will, wie es heißt, auch unter Venizelos' Regierung seine Neutralität vorläufig beibehalten. Wie die Dinge liegen, wird aber die Neutralität des Balkans kaum mehr lange anhalten. O. 8.

Die deutsche amtliche Meldung.

(WTB.) Großes Hauptquartier, 30. August. (Amtlich.) Westlicher Kriegsschauplatz. Keine besonderen Ereignisse.

Oestlicher Kriegsschauplatz. Heeres­gruppe des Generalfeldmarschalls v. Hinden- b « rg: Truppen des Generals v. Bülow stehen im Kampfe um den Bttiüenkopf südlich von Friedrich-