Gerte 2
Schwarzwälder SonnkagsLttrt«
Hr. 23/143
»rußte doch jemand haben, der ihn pflegte. Hab ich's nicht gut gemacht, Leo?"
„Vortrefflich, mein Kleines!" Hammerstein zog sie in die Arme und küßte sie mitten auf den lieben, lachenden Mund. „Bist du zufrieden mit der Schwiegertochter, die ich dir ausgesucht habe, Mutter? Und wirft du für mich bei Klaus und Annemarie bitten, daß sie mir ihr Kind zur Frau geben?"
„Mit sechzehn Jahren!" entsetzte sich die Baronin. „Du mußt warten, Leo!"
„Warten? Nein! Ich brauche eine Frau, damit ich drunten in Budapest nicht verlumpe. Das willst du doch sicher nicht auf dein Gewissen laden, Mutter."
„Rösli", bat die Baronin, „du Haft ihm doch nicht schon für bestimmt zugesagt, daß du-"
„Daß ich mit ihm gehe! Natürlich, Tante! Was denn sonst? — Weißt du, so ein Malariafieber, das kommt immer wieder, sagt Doktor Kolbe. Leo braucht also unbedingt jemand, der ihn pflegt. Und du hättest ja doch keine Ruhe, wenn er wieder allein fortgeht! Und ich auch nicht. Da gehe ich also besser mit. Dann kann ich dir auch immer schreiben, wie es ihm geht, nicht wahr? Sonst bekommst du vielleicht wieder fünfzehn Jahre lang keine Nachricht."
Hammerstein lachte und küßte die Wangen der Mutter, ..Frau Generalmusikdirektor, Baronin Hammerstein", klingt das nicht hübsch?"
„Fein", bejahte das Rösli an Stelle der Tante.
Die Majorin aber machte Einwände. „Du bist ja noch gar nicht fertig mit der Erziehung!"
„Oh!" kam es sorglos. „Leo erzieht mich schon noch ganz, nicht wahr?"
„Sicher!" stimmte er zu, und sein Lachen klang wie eine Helle Glocke über die Blumen hin. „Darüber mach dir keine Sorgen, Mutter. Die Hauptsache ist, daß Klaus und Annemarie „Ja" sagen. Dann packt das Rösli seine Koffer. Die meinen stehen schon in Budapest. Eine Wohnung habe ich bereits zur Verfügung gestellt bekommen. Eine sehr hübsche Villa an der Peripherie der Stadt. Und für das tägliche Brot reicht es auch."
„Mit sechzehn Jähren!" Die Baronin kam einfach über diesen Punkt nicht hinweg.
„Morgen bin ich schon wieder einen Tag älter", warf das Rösli ein. „Und übermorgen zwei. Und nächsten Samstag schon eine ganze Woche. Siehst du, wie schnell das geht. Und wenn der Papa mich nicht läßt, brenne ich einfach durch und fahre hinter Leo drein."
Die Majorin erstarrte förmlich. „Rösli", sagte sie nun, „'das könntest du tun?"
„Ja, Tante, todsicher! — Ich kann mir auch nicht die Augen herausweinen, bloß deswegen, weil ich erst sechzehn Jahre bin."
Das klang so urkomisch, daß selbst der Majorin ein Lachen entschlüpfte. „Nun gut, ich will tun, was sich für euch tun läßt, Kinder."
„Fein", jubilierte das Mädchen. „Und weißt du, Tante", dabei hing sie sich fest in Leo Hammersteins Arm, „wenn ich fort bin, hast du auch so viel Arbeit weniger. Keine zerrissenen Strümpfe mehr zu stopfen, keine Löcher mehr an den Ellbogen."
„Wer stopft die dann?" fragte die Baronin lächelnd.
„Oh, ich selber! Wenn's auch nicht so schön wird. Mit der Zeit lern ich's schon. Leo braucht doch auch jemand, der ihm seine Sachen ausbessert."
Die Majorin nickte schweigend und ging, von den jungen Menschen geführt, den Pfad entlang, der gleich darauf in den großen Obstgarten des Klausenhofes mündete.
(Fortsetzung folgt.)
KZ« Fahre Rattenfänger von Hameln
Auf den Spuren einer alten Sage — Ein interessantes Dementi aus dem Jahre 1580 — Die Wahrheit über den Rattenfänger und seine Untat
Von Frank Helm er ding
Ebenso wie jedes deutsche Kind die Sage vom Rattenfänger von Hameln kennt, der da einmal die kleine ÜPeser- stadt durch die Gewalt seines Flötenspieles von einer Rattenplage befreite, vom Magistrat um den ausbedungenen Lohn betrogen wurde und aus Rache dafür alle Kinder hinter sich her und in einen Berg lockte, dieweil die Eltern gerade in der Kirche waren — ebenso, wie jeder von uns diese Sage kennt, haben die Forscher des deutschen Mythos seit langem an ihr Herumgerätselt.
Bis heute ist übrigens der Streit unserer Wissenschaft über diesen Stoff noch nicht beendet worden, und vollends die außerordentlich zahlreichen, rein künstlerischen, musikalischen, dramatischen und novellistischen Darstellungen der Sage haben keinerlei Licht in die wirklichen Zusammenhänge jenes Geschehens zu tragen vermocht, das der alten Mär zugrunde liegt.
Wenn sich nun am 26. Juni dieses Jahres der Johannestag des Sommers 1284 zum sechshundertfünfzigsten Male jährt, der Tag eben, auf den die Sage zurllckgeht, so mag man zunächst fragen, inwieweit überhaupt ein tatsächliches und geschichtlich zu notierendes Ereignis als Ausgangspunkt der Sage vom Hamelner Rattenfänger vorliegt. Das ist deshalb der Fall, weil die ältesten Urkunden der Stadt Hameln mit einer sozusagen urhamelnschen Zeitrechnung bezugnehmend aus diesen Tag datiert worden sind. Man weiß, mit welch löblicher Pedanterie zwischen Dreizehn- und Vierzehnhundert Urkunden ausgestellt und datiert wurden, und wird nicht annehmen wollen, jene Sage sei lediglich die Frucht einer Dichterphantasie, wenn es in den alten Schriften der Weserstadt an vielen, vielen Stellen heißt: „Dreißig Jahre nach dem Auszug unserer Kinder -- hundert Jahre nach dem Auszug unserer Kinder —."
Und ebensowenig hat man sicherlich Ursache, den bildlich und textlich ebenso zuverlässig vorliegenden Angaben zu mißtrauen, nach denen damals, also am 26. Juni 1284, genau 130 Hamelner Kinder von ihren Eltern fortgezogen und auf Nimmerwiedersehen im Kalvarienberg verschwunden sind. Uebrigens bezeugen alte Autoren auch, daß em großes Sandsteinkreuz auf jenem, heute nicht mehr sicher
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„Baden-Ausstellung " iu Berlin
Im Columbushaus in Berlin wurde die Ausstellung des Landes- vertehrsverbandes Baden eröffnet, die einen Ueberblick über die landschaftlichen Schönheiten der südwestdeutschen Grenzmark und! über Geschichte und Volkstum des Landes gibt Schwarzwälder Uhren und eine Wiege, Erzeugnisse des badischen Handwerks.
auszumachenden Kalvarienberge die Stelle bezeichnet habe, an der die Kinder im Berg verschwanden.
Dieses durch alte Urkunden glaubhaft gemachte Eedenk- kreuz ist übrigens nicht der einzige lokale Hinweis auf das Geschehen der Rattenfängersage. Noch im siebzehnten Jahrhundert war das Musizieren und Singen in der Straße verboten, auf der die Kinder damals zum Osttor hinausgezogen sind, und sowohl in Glasmalereien als auch in Holzschnittwerken, die einwandfrei aus jener Zeit stammen, in der das Unglück geschah, finden sich vollkommen glaubwürdige, stoffliche Dokumente für den Auszug der 130 Kinder.
Aber es ist natürlich klar, daß nie und nimmer ein pfeifender Rattenfänger die Blüte der Weserstadt in den Tod gelockt haben kann, und tatsächlich taucht die heute bekannte Lesart der Sage auch erst im sechzehnten Jahrhundert auf!
Sie wurde damals nicht als Sage empfunden, immerhin aber mögen nur wenige sie so ausgewertet haben wie ein hannoverscher Autor, der 1584 allen Ernstes ein Buch mit den Vorwürfen füllte, die man den Hamelner Eltern ihrer Unachtsamkeit wegen machen müsse. Er fand damals gläubige Herzen, die Stadt Hameln litt unter dem Verruf, in den sie ihrer Heimatsage wegen geriet, und ein hoher Magistratsbeamter setzte sich hin und verfaßte eine Gegenschrift, in der er die Argumente des Hannoveraners zu entkräften suchte. Er schrieb, die Hamelner seien eben in der Kirche gewesen, als das Unglück geschah.
Schon damals also muß der Schutt oder der Schmuck der Ueberlieferung sich recht üppig um die nackte Wahrheit des Jahres 1284 gerankt haben. Die Sage als solche hatte über den wahren Sachverhalt gesiegt, und als pure Sage wäre der Rattenfänger von Hameln sicherlich in die Geschichte eingegangen, befänden sich eben nicht so nüchterne Zeugen, wie , jene Dokumente, die man nach dem Unglückstage datierte, wie jener Stein auf dem Kalvarienberg und jene Darstellungen in der Hand des Forschers, und zwängen sie ihn nicht, nach einem Stück Wirklichkeit in der Sage zu suchen.
In Wahrheit ist dieses Stück wirklichen Geschehens nicht allzu schwer zu finden, wenn man die Sage mit einer gewissen schlichten Kritik auf sich wirken läßt. Man wird dann zunächst fragen, warum es gerade 130.Kinder gewesen sein sollen, die man verlor, wer überhaupt in jener unstatistischen Zeit die verlorengegangenen kleinen Hamelner so peinlich gezählt haben soll und wieso nirgendwo davon die Rede ist, daß man in Hameln versucht hat, die Kinder wieder zurückzuholen.
Wenn in keinem einzigen Hause ein Erwachsener als Hüter der Kleinen zurückblieb, als die Bürgerinnen und Bürger zur Kirche gingen, so müßten diese selbst das Fehlen ihrer Sprösslinge doch spätestens am Mittagstisch ge- . merkt haben, und wenn dann Heller Aufruhr und plötzliche Trauer in der Stadt herrschte, wird niemand auf den Gedanken gekommen sein, die Verschwundenen nach den Angaben der Trauernden zu zählen, während jeder den Wunsch « gefühlt haben müßte, den Zug des bösen Pfeifers zu ver- ! folgen und ihm die Kinder zu entreißen, i Wenn man nun aber als wahr unterstellt, daß diese ! Kinder schon tot waren, als sie die Stadt durch das l Osttor verließen, so erklären sich alle Widersprüche von i selbst. Hundertdreißig kleine Särge, die einer hinter dem anderen aus der Stadt getragen werden, zählt man unwillkürlich, wenn sie an uns vorüber kommen. Hundertdreißig tote Kindlein verfolgt niemand, um sie zurllckzu- bringen. Hundertdreißig kleine Leichlein bewacht man nicht, denn niemand wird sie stehlen. Und wenn man dann noch erfährt, daß um das Jahr 1284 böse Seuchen gerade das Weserland heimsuchten, so begreift man, daß es wirklich hundertdreißig tote Kinder waren, die man da am Johannestage jenes Jahres aus der Stadt ziehen la>- sen mußte, um sie in einer, der Ansteckungsgefahr wegen etwas entfernteren Gruft, in einer Vergsenke oder in einer natürlichen Höhle zur letzten Ruhe beizuset-en.
So bezeichnete das Kreuz auf dem Kalvarienberg, dessen
Name ja auf diese Bedeutung hinwetft, nicht eine verwunschene Stelle, an der einmal ein Teufelswesen einschritt, sondern ein Sammelgrab, von dem so sehr viel traurige Gedanken nach Hameln hin ausstrahlten, daß man in gemeindlichen Urkunden auf jenen llnglückstag ganz allgemein Bezug zu nehmen sich gewöhnte.
Eine Seuche hat am 26. Juni 1284 in Hameln 130 Kinder zu einem gemeinsamen Leichenzug versammelt. Dieser Trauerzug ging durch Las Osttor, vielleicht hat wirklich nur ein einzelner Musikante Len klagenden Troß angeführt, vielleicht aber ist die Figur dieses Querpfeifers auch auf einem anderen Wege auf die bildlichen Darstellungen des Unglücks gekommen. Nämlich so, daß die Künstler die allegorische Gestalt des Todes, der seinem Opfer zum Friedhofsweg aufspielt, zur Dramatisierung ihrer Werke benutzten, ebenso wie man auf diesen Bildern und Holzschnitte« Mäuse aufmarschieren ließ, entweder weil man die Seuche, an der die Kleinen starben, nur dadurch in das Bild hineinkomponieren konnte, daß man sie als Mäuseplage auffaßte oder jene Seuche als Begleiterscheinung einer tatsächlichen Nagetierplage kannte.
Erst spätere Ausbeuter haben dann diese Darstellungen, die ganz kurz nach dem eigentlichen Unglück entstanden sein dürften, nur dadurch verständlich machen können, daß sie de« Tod als Rattenfänger auffaßten und damit die Sage begründeten, deren Endform wir heute kennen und die im Grunde doch nichts weiter ist als eine vor lauter Ausschmückung und Dramatisierung fast unkenntlich gewordene Erinnerung an den bösen Tag einer guten und sehr schöne« Stadt an Deutschlands heimeligstem Strom.
Irr Aullnker
Erzählung von Wilhelm Lennemann
Ueber oie Aecker brandet sie Sommerjonne ;Gras und Halm schwimmen in Duft und Glanz, die Felder blühen und reisen der Ernte entgegen.
Ein einziger Acker nur liegt brach und tot Kein Pflug geht darüber hin, kein Korn ward darein geworfen, seit Jahren nicht. Disteln wuchern, und nur hie und da wagt sich ein armes einsames Hälmchen hoch. Die Menschen haben den Acker verlassen.
Blut har er einst getrunken. Ein Bruder wurde darauf von -em anderen erschlagen, mit der Seme zu Boden gerissen, daß er nicht wieder aufstand. Der alte Bauer hatte das Erbe unter seine beiden Söhne verteilt. Unklar war ledoch geblieben, wem dieser eine Acker zufallen sollte.
„Mir!" schrie ein jeder. Und der eine setzte seinen Pflug darauf. Da sprang vom nahen Kleeacker der andere hinzu und fiel den Pferden in die Zügel. Flüche und Drohungen wetterren, dann jauste ein schwerer Peitschenstiel nieder. Ein Schrei, ein Senjenblitz, und der andere lag mit aufgerissenem Leibe: sein Blut floß in die Furche, die sein Pflug gezogen.
Seitdem ist kein Eisen mehr über den Acker gegangen, kein Korn auf ihn gefallen. Das rote Blut in ihm ist wieder hochgestiegen: Wenn aus den anderen Aeckern alles in gelber wogender Fülle reift, lohen aus ihm tausend und aber tausend flammende Mohnblüten Flamme sprüht neben Flamme: blutrot leuchtet der Acker. Mitten aus der roten Flut ragt ein Kreuz empor, grob und stark: tief und fest gefügt, als müsse es wider Wetter und Sturm Jahrhunderte überdauern.
Das Kreuz klagt, und das Blut schreit zum Himmel, und keiner erlöst den Acker von Klage und Schrei. —
Wieder ist ein Sommer mit Saat und Ernte gekommen. Dbr Bauer Stephens, der den Totschlag begangen, ist längst gestorben, und sein ältester Sohn fitzt aus dem Hof. Und drüben auf dem anderen der einzige nachgeborene Sohn des Toten. Er ist schon in die Jahre gekommen, aber noch hat er kein Wort mit seinem Vetter gesprochen. Feindschaft und Haß lauern zwischen den Hissen, obwohl tue beiden Bauern längst ihre Jugend über>chrirten habe» und Kinder besitzen, die in reifen Jahren stehen und nach eigenem Herde ausjchauen. Und Kinder denken oft anders als die störrischen Väter, und die Herzen gehen oft wunderliche Wege .
Sonne fällt vom blanken Himmel auf die Wiesen. Bunte Falter tummeln über Heuhaufen. Ein starker, würziger Duft weht wie ein Rauch über allem.
Der Sohn des Erschlagenen fährt Heu heim. Der Wagen ist hoch geschichtet. Der Heubaum liegt darüber. Die Tochter, die ihrem Vater geholfen, sitzt hoch und stolz oben auf dem Wagen.
Nicht weit davon arbeitet der Vetter aus dem Felde, und seitwärts von beiden blüht der rote Mohn.
Der Bauer faßt das Pferd am Zügel. „Hü!" Das Pferd zieht an, dann stockt und steht es. Glatt liegen die Ohren. In den Augen brennt dumpfe Angst, die Nüstern beben. Vergeblich zerrt und zieht der Bauer am Geschirr. Treibt das Tier an und fuchtelt mit der Peitsche. Er murmelt einen Fluch zwischen den Zähnen. Das Pferd bockt und schlägt aus. — Der Bauer steht vor dem Pferd. „Biest!" schreit er, zerrt mit der Linken am Geschirr und reißt mit der Rechten die Peitsche nieder.
„Vater!" schreit es oben vom Heu.
Doch schon ist es zu spät! Hoch bäumt sich das Pferd, oie Eisenhufe knallen nieder und werfen den Bauer hin. Ueber ihn weg jetzt das Tier. Da springt und lagt einer in flüchtigen Sätzen herbei und hängt sich in die Zügel Das Pferd zitteri und schlägt: der Mann stemmt sich mit Riesengewall dagegen.
Da steht das Tier.
Knapp vor den Rädern weg zieht der Mann den Niedergeschlagenen.
Mühselig steht der Getroffene auf: der eine Arm hängt schlaff und schwer. Verwirrt schaut er seinen Retter an.. „Du!" will er jagen, preßt aber die Lippen auseinander und schweigt.
Schon will der Vetter wenden, da springt das Mädchen herbei und hält ihn. „Vater!" ruft es mahnend.
Da sieht der Vetter den anderen an.
„Quitt!" stößt er zwischen den Zähnen hervor. Dann geht er zu seinem Pferd.