Sonntagsausgabe der Schwarzwälder Tageszeitung „Aus den Tannen"
Nummer 25/143
>i Anzeigenpreis: Die einfpalt. Milli- ss meterzeile 6 L, Reklamezeile 18 Z.
Altensteig, Sonntag, den 24. Juni 1934
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„Nimm und lies'."
Vor 400 Jahren hat Luther die Bibelübersetzung vollendet. Wie man zu seiner Zeit schon das fertige Werk beurteilte, geht aus dem Wort des Fürsten Georg von Anhalt hervor: „Luther hat die Bibel nicht anders denn aus sonderlicher Gnade und Gabe des heiligen Geistes so reinlich, klar und verständlich in unsere deutsche Sprache gebracht." Seitdem haben Geschlechter um Geschlechter aus der Bibel ihr Bestes geschöpft. Haben auch wir es getan? Könnten wir die Bibel entbehren, ohne etwas Wesentliches aus unserem Leben zu verlieren?
Der Mensch will zu allen Zeiten in dem, was er liest, sich selber finden. Das reißt ihn mit, was er selber erlebt haben könnte. Hier fühlt er sich zu Hause, hier lobt er, hier geht er mit. Mit den Gestalten der Bibel kann er zunächst nicht viel anfangen. Sie leben ja nicht aus Eigenem. Sie stehen nicht von vornherein mit dem Leser auf einer Ebene der Erlebnisse. Das wäre dann der Fall, wenn er sich aus ihre Seite schlüge, wenn ihre Rede auch seine Rede, ihr Bekenntnis das seine und ihre Tat sein Handeln wäre. Aber dieser Sprung fällt ihm schwer. Er müßte dabei zwar nicht seine persönliche Eigenart aufgeben — das kann ei gar nicht —. aber das sich in allem selber Haben und Finden-Wollen, das müßte er allerdings ausgeben, und das ist bitter.
Es gibt wohl manche Menschen, die nicht merken, daß es mit ihnen beim Lesen der Bibel so weit kommen sollte. Vielleicht gehören wir zu diesen. Dann müßten wir uns jagen lassen, daß man die Bibel nicht wie irgend ein anderes Schriftstück, so wichtig dieses sein mag, lesen darf. Aber vielleicht merken wir das selber, wenn wir recht treu rn unserem Bibelstudium sind. Vielleicht merken wir selber — und dies mit brennendem Herzen —, daß aus den Zeilen da vor dem Auge einer uns anspricht, den wir zuvor nicht so vernahmen, daß da das Wort vom Heil über uns aufsteigt und uns umschließt, wie wir es sonst nirgends, weder in der Natur noch in dem erhabensten Menschenwerk, finden. Und wenn wir dessen nicht gewahr werden sollten, wenn wir ärgerlich, vielleicht schon von Jugendtagen her, dem Buch der Bücher Valet sagen sollten: Die Bibel wartet auf uns. Sie wird sich dem auftun, der in Treue bei ihr anklopft.
Wenn es aber soweit kommt, daß die Bibel sich uns er- * Ichließr und uns überwältigt, verlieren wir dann den Kern unserer Persönlichkeit? Vielleicht die Eitelkeit unseres Herzens, wenn wir darin verstrickt sind. Sicher die Sucht, in allem sich und sein Lob haben und finden zu wollen. Unsere Persönlichkeit aber verlieren wir nicht, so wenig der von der Schrift überwundene Luther seine mannhafte Art verlor. Im Gegenteil, unsere Persönlichkeit empfängt ihren letzten Adel erst dann, wenn sie vor dem lebendigen Gott steht, mit dem uns die Bibel zujammenführen will. Sollte es sich nicht verlohnen, zu ihr zu greifen, die nur durch di« Glaubenstreue der Väter zu uns kam und die wir mit ehrlichem Herzen dereinst in die Hand unserer Kinder sollten legen können? Es könnte sein, daß uns das fürstliche Won dann ganz aufginge: „Luther hat die Bibel nicht anders denn aus sonderlicher Gnade und Gabe des heiligen Geistes so reinlich, klar und verständlich in unsere deutsche Sprache gebracht." Wir wüßten dann auch, wem wir dafür zu danken hätten.
WM
27. Fortsetzung
Wochen schon war die Baronin Hammerstein nicht mehr nach Dörnach gekommen. Der große Haushalt des Klausenhofes wollte im Gang gehalten sein. Der Sommer war trotz aller Hilfe von Köchin, Stuben- und Hausmädchen eine große Bürde von Arbeit und Ueberlastung.
Nun schritt sie mit ihrem immer noch stolzen, federnden Gang den Wiesenpfad nach Dörnach hinüber. An ihrer Seite das Rösli. Aber das wollte heute gar nicht plaudern. Immer guckte es geradeaus, sagte kaum „ja" und „nein" und hatte ein stummes Suchen in den Augen.
Nun Machte der Fluß eine Biegung, und als sie diese umgangen hatten, leuchtete zwischen Weiden und Erlengebüsch der blaue Kirchturm von Dörnach herüber. Er tauchte in die Helle Glut des Sommerhimmels, und das Kreuz darauf flimmerte im Glast der Sonne wie eitel Gold.
Ihnen entgegen — vielleicht noch fünfzig Metdr entfernt — kam ein Herr, bei dessen Anblick das Rösli einige Schritte hinter die Tante zurücktrat. Sie bückte sich und begann, großsternige Margueriten zu pflücken, während die Majorin ahnungslos weiterging.
Nur einmal wandte sie sich um und mahnte gütig: „Bleib nicht so lange, Kind, wir müssen um sieben Uhr wieder zu Hause sein."
Der Herr kam immer näher, er trug den Mantel über dem Arm und schlenkerte einen schmalen Stock, dessen Silbergriff blitzend aufspiegelte. Die Baronin blieb unvermittelt stehen, nahm den Fremden fest ins Auge — suchte in ihrem Erinnern, wer noch diesen raschen, stolzen Gang und genau dieselbe Handbewegung wie er gemacht hatte — zuckte zusammen und deckte die Hand über die Augen.
Zehn Meter war man noch voneinander entfernt, da klang ein Helles „Mutter!" zu ihr.
Die Hände an das Kleid gedrückt, reglos, wie die Blumen, in die ihre FUß« traten, stand sie, fühlte sich von zwei Armen umfaßt und ihren Mund, der kein Wort zu sprechen vermochte, immer wieder von einem anderen Munde geküßt. „Mutter!" sagte die dunkle Stimme noch einmal. „Mutter!"
Tränen liefen über die Wangen, die Lippen zuckten, die Augen suchten nach dem schmalen, blassen Gesicht des Sohnes, sie konnte nicht sprechen, die Kehle gab keinen Laut, und die Zunge gehorchte nicht. Ihre Hände mit den seinen umschlossen hallend, sah Leo Hammerstein auf sie herab. „Verzeih mir, Mutter!"
Da löste sich die Erstarrung in ihr. Sie lächelte, zog die Finger aus den seinen und hob sie tastend nach seinem Gesichte. „Du hast dich kaum verändert, Leo."
„Nicht, Mutter?"
„Nein!-Bist du krank gewesen?" Jetzt sprach die
Angst aus ihr. Sie sah die blassen Wangen, die dunklest Ringe um die Augen und wurde ganz von Sorge erfüllt. „Nun mußt du bei mir bleiben und dich erholen. Ich habe ein Haus drüben in Dörnach."
Er zeigte große Verwunderung.
„Wirklich, Mutter?" .
»Ja."
Ihr Blick glitt zu seinen Händen herab und blieb daraus haften. Er war nicht verheiratet. — Liebkosend strich sie über den Aermel seines Hellen Anzuges und forschte in seinen Augen — erinnerte sich plötzlich und wandte den Kopf zurück.
Vom Rösli war nichts mehr zu sehen. Der Wiesenpfad stand leer. Grau und lispelnd hingen die Weiden über das Wasser und die Stämme der Erlen gleißten silbern.
„Nach wem hältst du Ausschau, Mutter?"
„Das Rösli", sagte sie nur und schüttelte den Kopf. „Eben war es noch bei mir."
Und während ihre Augen noch immer suchten, lachten die seinen freudetrunken über sie hinweg. „Das Rösli, ja", er wußte genau, warum es verschwunden war. Es wollte die Wiedersehensfreude zwischen Mutter und Sohn nicht stören. „Sie sind wohl sehr groß geworden, die Klausenhoftöchter, ja, Mutter?" fragte er.
„Ja, Leo, groß und schön und gut."
„Soll ich „Grüß Gott" sagen drüben, oder wollen wir erst nach Dörnach?"
„Erst zum Klausenhos", bat sie. „Alles wartet auf dich. Die Annemarie will es ohnedies nicht leiden, daß du in Dörnach wohnst. Sie findet es zu einsam dort für dich. Und das Rösli ist so furchtbar neugierig-"
„Ah!" lachte er, und der Baronin war, als höre sie das frohe, Helle Lachen ihres Mannes, dem der Sohn in so vielem ähnlich war.
Leo Hammerstein neigte sich Herab und schob den Arm unter den ihren.
„Soll ich dir erzählen, Mutter?"
„Jetzt nicht", wehrte sie. „Später, mein Bub. Jetzt will ich nur deine Nähe fühlen und mich in den Gedanken hineinleben, daß ich dich wirklich wieder habe. Nur das eine mußt du mir sagen: War deine Krankheit schwer?"
„Tropensieber, Mutter."
„Ich werde sofort nach einem Arzt schicken."
„Ich war schon dort, Mama. Es geht aufwärts. Es tut mir nur leid, daß du dich schon wieder in Sorge stürzst.
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Fünfzehn lange Jahre hat sich niemand um mich gekümmert."
„Leo", schrie sie auf und riß den Arm aus dem seinen,
„Du hast mich falsch verstanden", beruhigte er sie und legte den Arm um sie. „Du trägst ja keine Schuld daran. Ich meinte die anderen, die um mich waren. Niemanden kümmerte es, ob es mir gut oder schlecht ging. Man kann draußen im Straßengraben verkommen, was liegt daran! Einer weniger an der Futterkrippe, das ist nur ein Vorteil."
Ihr Gesicht zeigte fassungslosen Schrecken. „Warum kamst du nicht früher?"
„Früher? — Ich wäre vielleicht auch jetzt nicht gekommen. Aber der Tod saß mir in den Knochen, und ich wollte dich noch einmal sehen, Mutter, und nicht in fremder Erde liegen, wenn es wirklich mit mir zu Ende ging."
Er hörte ihr stummes Schluchzen zu sich herauf und preßte die Lippen aufeinander. Sein Arm legte sich fest unk ihren Rücken. So führte er sie behutsam den schmalen Pfad am Fluß entlang. Denn ihre Augen sahen den Weg nicht mehr. Immer enger, immer hilfloser werdend, drückte sie sich an ihn.
Er ging, den Kopf zu ihr hinabgeneigt und sprach leise, daß selbst das Summen der Bienen, die über den Gräsern schwirrten, noch hörbar war, von den fünfzehn Jahren, die er fern gewesen, seinem Hoffen, seinen Enttäuschungen! Von dem Rennen nach Brot, den Spelunken, in denen er gesessen, der Hefe von Menschheit, den er in Kneipen und Schänken begegnet war.
„Und du hast ihnen zum Tanze aufgespielt?" stammelte sie in seine Worte.
„Ja, Mutter — zum Tanz und trug den Tod im Nacken."
Er fühlte, wie sie zusammenschauerte und sich noch enger rn fernen Arm drückte. „Das war meine Strafe. Mutter, daß ich von dir gegangen bin. Ich habe sie auf mich genommen als eine gerechte Sühne. — Es gab Tage, wo ich kernen Kreuzer Geld in der Tasche hatte, kein Stück Brot zum Mittag und kein Bett zur Nacht. Ich saß mit dem Hut vor mir am Eingang der Jahrmärkte und habe-"
„Nicht mehr!" wimmerte sie. „Nicht mehr!" Sie strauchelte, kühlte sich von seinem Arm gehalten und preßte die Hände gegen das Gesicht.
„Laß mich sprechen", fuhr Leo fort. „Ich bin erst ruhig, wenn rch dir alles gesagt habe. Mein erstes festes Engagement bekam ich auf einem Schiff. Der Kapellmeister erkrankte schwer, starb, und ich rückte an seine Stelle. Es war ern großer Dampfer der Amerika-Linie. So sah ich die ganze Welt, lind bin beinahe in jedem Erdteil gewesen."
„Und jetzt?" fragte die Baronin und wagte kaum zu atmen. '
. ''Je^ --?" Leo Hammerstein reckte sich hoch und
schloß die Arme fester um die verängstigte Frau. „Jetzt will ich vorläufig nichts, als bei dir gesund werden, Mutter'"
„Ja", lächelte sie selig. „Ja, mein Bub!"
„Und wenn ich gesund bin, kommst du mit mir", schmeichelte er und hielt im Schreiten inne.
„Wohin?"
„Nach Budapest."
Sie sah auf und hatte schon wieder eine stumme Sorge in den Augen.
„Hast du dort ein Engagement?"
Er nickte. „Ich bin Generalmusikdirektor an der dortigen Oper geworden! Genügt dir das?"
„Du wirst nicht mehr hungern müssen, Leo?"
„Nein, Mutter!"
„Und nie mehr in Spelunken und auf Jahrmärkte« spielen?"
„Das ist gewesen und kommt nie wieder!" Er ließ plötzlich den Arm von ihren Hüften fallen und begann zu laufen
Denn über die Wiese kam eine Helle Gestalt, verhielt einen Augenblick und rannte ihm dann entgegen
„Stop, Mädel, stop", rief er und sperrte mit ausgebreiteten Armen den Weg. Das Rösli mußte wohl oder übel in diesen Armen landen, tat es ohne jedes Zögern und lachte und weinte zugleich zu dem Manne auf, der es um Haupteslänge überragte.
„Komme ich zu früh, Leo?"
„Gerade recht, mein Kleines! Mutter, ich danke dir. daß du mir das da behütet hast." Und ehe die Baronin zu begreifen vermochte, wie das möglich wäre, lag das Rösli schon an ihrem Hals und berichtete atemlos: „Er ist ja schon zwei Wochen hier, Tante. Drüben in Dörnach. Aber er war so krank! Da wollten wir dich nicht erschrecken. Darum hatte ich auch so oft drüben zu tun. weißt du. Er