St«-H Bezirk AN- Nachbarschaft.
Talw, den 30. Juli 1914.
Extrablätter.
Außerordentliche Gegebenheiten gebieten einer Zeitung außerordentliche Mittel, um sie ihren Lesern anzukündigen. Ein solches außerordentliches Mittel ist das Extrablatt. Ganz besonders in den letzten Tagen regnete es Extrablätter nur so, und so eilends, wie sie hergestellt wurden, so gierig wurden sie von den Leuten auch verschlungen. Das gab Anlaß zu allerlei interessanten Beobachtungen, die uns veranlassen, einiges Wenige mit unfern Lesern über das Thema Extrablatt zu plaudern.
Für eine Zeitung ist die Herausgabe eines Extrablatts immer mit einer verstärkten Dosis Aufregung verbunden, die das ohnehin immer bewegte, rasche Leben an einem Blatt ganz beträchtlich steigert. Denn vom Telephon oder vom Telegramm bis zur Anschlagtafel soll nur die allerkürzeste Frist verstreichen, damit die Zeit, die zwischen dem berichteten Vorgang und dem Bekanntmachen uner der Einwohner- und Leserschaf eines Platzes liegt, ja unter allen Umständen die denkbar geringste sei. Um dies zu ermöglichen, setzt mit dem Eintreffen des Telegramms oder der mündlichen Uebermittlung eine fliegende, fieberhafte Tätigkeit zunächst auf dem Redakionsbureau ein. In der Regel handelt es sich bei der Ausgabe von Extrablättern nur um knappe Mitteilungen, die das Vorgefallene in einigen wesentlichen Sätzen berichten. Diese also sind zunächst zu Papier zu bringen, indem das am Telephon stenographisch Abgenommene übertragen oder der knappe Stil des Telegramms in ein sinngemäßes Deutsch gebracht wird. Daß das in einer hastenden Fixigkeit geht, ist selbstverständlich und notwendig und daß die Buchstaben nur halb aufs Papier gelangen, versteht sich gleichfalls. Dann fliegt das Manuskript in die Setzerei, und je nachdem, bemächtigen sich seiner zwei, drei Setzer, um mit unglaublicher Geschwindigkeit Buchstabe an Buchstabe zu reihen, den „Kopf" des Extrablatts verwendungsbereit zu machen und nach Vergießung vieler Schweißtropfen der Druckerei das fertiggestellte Extrablatt zu überlassen. Jst's einmal dort, dann ist's gewonnen: nach der nur kurze Zeit in Anspruch nehmenden Schließung der „Form", und „Zurichtung" speit die Druckmaschine in jeder gewünschten und bestimmten Anzahl das gedruckte Extrablatt aus. Dann rennt der Stift zu den Anschlagstellen, die Austrägerinnen treten je nachdem in Tätigkeit und die Leute wissen dann wieder einmal etwas Neues.
W i e sehr der Mensch nach Neuigkeiten springt und spannt, dafür ist sich ja eigentlich jedermann selbst Beispiel; etwas Neues zu wissen, sogar noch ehe es der Nachbar weiß, hat immer mancherlei für sich. Ist dieser Satz als richtig anerkannt, dann sollte man sich im Publikum mehr hüten, bei Nachrichten, ob sie nun in der Zeitung oder auf einem Extrablatt stehen, die sich hinterdrein als unrichtig Herausstellen, auf die „verlogene Zeitung" zu schelten. Denn bis zu einem gewissen Grad ist es gerade das Publikum selbst, das eben Neues wißen will und unter allen Umständen,
und das Blatt schlankweg verdammt, das sich, vom journalistischen Standpunkt aus gesprochen, in der Weitergabe von sensationellen Meldungen zusammennimmt. Sensation! Ja, welch unglaubliche Blüten trieb sie gerade während der gegenwärtigen Kriegszeit! Schon vorige Woche, bezw. am Sonntag, konnte man z. B. in einer Stuttgarter Zeitung lesen, der Krieg zwischen Oesterreich und Serbien sei offiziell erklärt, von Stuttgart herüber brachte man die Nachricht, Rußland habe Oesterreich den Krieg erklär, von Stuttgart aus gelangte nach Calw die selbstverständlich unwahre Meldung, der deutsche Gesandte sei in Serbien ermordet worden — alles, alles entsprach gar nicht den Tatsachen. Man darf es wohl aussprechen: Eine kleine Zeitung tut unter solchen Verhältnissen sehr schwer. Die Leute lassen einen nicht mehr vom Telephon weg: ob das und das auch richtig sei, in dem und dem Extrablatt der und der Zeitung stehe es. Um Sensation zu machen, fehlt einem kleinen Blatt neben dem Willen dazu schon der nötige technische und persönliche Apparat und es begnügt sich schon aus Gründen der Raumersparnis damit, nicht mehr als die einwandfreien, tatsächlichen Vorgänge zu veröffentlichen. Ebenso verfährt es bei der Weitergabe von Nachrichten durch Extrablätter. Begreiflicherweise unterläuft selbst bei der gewissenhaftesten Prüfung und bei sorgfältigster Ueberlegung dann und wann und insbesondere während so unruhiger Zeiten wie den gegenwärtigen, eine Meldung, die sich nachher als nicht richtig herausstellt. Aber es ist immer ein Unterschied, ob eine Zeitung b e w u ß t Sensation treibt, vielleicht zum Zweck des Abonnentenfangs, oder ob sie das Opfern falsch unterrichteter und falsch berichtender Telegraphenbllros ist. Manche Großstadtzeitungen, die ihrem noch jungen Abonnentenstand in der Provinz draußen auf die Beine helfen möchten, kümmern sich, nach den Erfahrungen der verflossenen Tage zu schließen, keinen Deut darum, ob sie mit ihren Radau- und Bluff-„Telegrammen" die Leute in eine maßlose, hinterdrein völlig unbegründete Aufregung hin- einpeitschen, oder dazu eifrig beitragen, ungeheuerliche Gerüchte in die Welt zu setzen, die dann, natürlicherweise erweitert und vergröbert, durch das Volk getragen werden. Man fragt sich, wenn solche faustdicken Schwindelnachrichten durch eine Stadt oder ein Dorf gehen, wo denn da die Verantwortung bleibt, die jeder, der sich öffentlich betätigt, ganz selbstverständlich der Oeffentlichkett gegenüber hat? Und fragt sich weiter, ob die Leute dazu da sind, Neuigkeiten, die aus den Fingern gesogen werden, nur um die Leute für die betr. Zeitung einzufangen, über sich ergehen lassen zu müssen!
Solide, ernst zu nehmende Vorgänge rasch bekanntzugeben, dazu ist heutzutage auch die Kleinstadlpresse in der Lage. Und, angewendet auf das Calwer Tagblatt, ist das auch hier während der derzeitigen ernsten Begebenheiten bewiesen worden. Mit ganz geringen Ausnahmen ist das Calwer Tagbl. stets vor, spätestens m i t den Großstadtzeitungen in der Lage, über tatsächliche Vorgänge zu berichten, bezw. sie durch
Extrablätter zu verbreiten. Seine Meldungen entstammen der amtlichen Wolff'schen Telegraphen- agentur, die sich in der Regel als zuverlässig erwiesen hat.
Wir hoffen, daß unsre geehrten Leser von dieser Darstellung gerne Kenntnis nehmen, sie ist geschrieben in der Absicht, das Vertrauen, das unsre Leser dem Calwer Tagblatt bisher entgegenbrachten, zu kräftigen und sie daran zu erinnern, daß sie sich auf das Calwer Tagblatt verlassen können.
Die Versichertenvertreterwahlen.
Am 30. Juli finden die weiteren Arbeitervertreterwahlen im ganzen Land statt. Von Seiten der Arbeitnehmer liegen für die Spruchkammerwahlen je zwei Wahlvorschläge vor und zwar Wahlvorschlag
der von den christlich-nationalen und nicht-sozial- demokvatischen Arbeiterorganisationen eingereicht worden ist, und Wahlvorschlag „tt", eingereicht vom Bezirkskartell der sozialdemokratischen Gewerkschaften Württembergs. In gleicher Weise wurden von den vorstehenden Arbeiterorganisationen für die Wahl der Versichertenvertreter zum Ausschuß der Versicherungsanstalt Württemberg zwei Wahlvorschläge eingereicht. Der Wahlvorschlag der christlich-nationalen und nicht sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen hat auch hier den Buchstaben ,A" bekommen, während der von den sozialdemokratischen Organisationen eingereichte den Buchstaben „tt" erhielt.
Was die Wahl der Versichertenvertreter für dir landwirtschaftliche Unfallversicherung anlangt, so kommt es im Neckar-, Schwarz- waldkreis und Jagstkreis zu einer Abstimmung. Im Donaukreis ist nur ein Wahlvorschlag von christ lich-nationaler Seite oingereicht worden und die vor- geschlagenen Personen gelten deshalb als gewählt; eine Abstimmung findet in diesem Bezirk für diese Wahl nicht statt. In den anderen drei Kreisen kommt es zu einer Abstimmung. Es stehen sich zwei Listen gegenüber. Liste I von den sozialdemokratischen Gewerkschaften und Liste II von den christlich-nationalen und nicht sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen Württembergs. Wahlberechtigt sind bei diesen Wahlen die Vertreter der Versicherten bei den Versicherungsämtern. Die Wahl selbst wird bei demjenigen Versicherungsamt getätigt, bei dem der einzelne Arbeitervertreter als Beisitzer gewählt ist.
Unterstützungen im Kriegsfall. Die Unterstützung der Familien der zum Kriegsdienst einberufenen Heerespflichtigen ist geregelt nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 28. Februar 1888. Darnach erhalten die Familien der Mnanschaften der Reserve, Landwehr, Ersatzreserve, Seewehr und des Landsturms Unterstützungen, sobald die Mannschaften bei Mobilmachungen öder notwendigen Verstärkungen des Heeres oder der Flotte in den Dienst eintreten. Das gleiche gilt bezüglich der Familien solcher Mannschaften, die zur Disposition der Truppen- oder Marineteile beurlaubt sind, sowie der Mannschaften, die das wehrvilichtige Alter Übertritten haben und freiwillig in den Dienst eintreten. — Die Unterstützung wird
Der rote Hahn.
55) Romano. Palle Rosenkrantz. Deutschs. Jda Anders.
16. Kapitel. Höhere Rücksichten.
Assessor Richter saß im Garten des „Hofes" und rauchte seine Zigarre nach dem Mittagessen. Er war recht schlechter Laune. Diese Szene auf dem Rathause hatte ihn doch geärgert, aber es war nun einmal seine Natur, er nahm die Hindernisse, die zu nehmen waren. Es war eine Eitelkeit von ihm, daß er immer die rechte Methode fand, den Sinn der Menschen zu beugen. Und er hatte gesiegt.
Aber er war müde, müde von dem allen, müde vom Kampf, müde des Zornes und des Hasses der Leute, und es war ihm eigentlich so furchtbar gleich- giltig, ob all diese armen Teufel schuldig waren oder nicht. Aber er war wie ein Zugpferd. Einmal in den Sielen, zog er an, daß die Stränge krachten. Hinterher ärgerte er sich und beneidete die andern, die warm in ihren vier Wänden in fetten Aemtern saßen. Besonders der Bürgermeister war ihm ein Dorn im Auge; er sah sehr wohl ein, der brave, dicke Mann hätte sein Freund sein können, so gut wie er der aller andern war. Wer er wollte nicht mit ihm befreundet sein, auch das ärgerte ihn.
Der alte Gefängnisaufseher stand an der Gartentür und verneigte sich.
Treten Sie näher, sagte Richter ein wenig ärgerlich. Nicht einmal seine Siesta durfte er in Frieden halten.
Der Aufseher trat näher.
Der Herr Landrat lassen durch mich fragen, ob es dem Herrn Assessor unbequem wäre, einen Augenblick in das Bureau des Amtsgerichts zu kommen, sobald es dem Herrn Assessor beliebe.
Richter stand auf. Na, sagte er, fängt man also die Sache auf die Fasson an? Wissen Sie, Mortensen, Seine Hochwohlgeboren könnten sich eigentlich die Mühe nehmen, mich aufzusuchen. Es ist ein ziemlich
starkes Stück, daß ich dort hinuntergehen soll, wohin ich sonst nie einen Fuß setze.
Der ehemalige Dragonerwachtmeister richtete sich auf.
Soll ich das dem Herrn Kammerherrn aus- richten?
I Gott bewahre, das ist eine private Mitteilung, für Sie allein bestimmt. Sie sollen natürlich melden, daß ich sofort komme.
Der Aufseher schlug die Hacken zusammen und ging. Richter war überzeugt davon, daß seine Bemerkung sofort an den Bürgermeister weiter gegeben würde, und deshalb hatte er sie auch nur gemacht. Er wußte sehr wohl, wie der alte Gefängnisaufseher dem Bürgermeister alles zutrug, was im Rathaus geschah. Aber das war ihm sehr recht.
Es war fünf Uhr, als Assessor Richter beim Bürgermeister anklopfte. Er benutzte den Bureaueingang und traf den Gendarmen und Penther im Kontor an. Es gab einiges Aufsehen, und der Assessor wurde in den Verschlag des Bürgermeisters geführt. Er war leer. Und aus dem nebeanliegenden Wohnzimmer ertönte munteres Geplauder. Assessor Richter setzte sich auf einen Stuhl und wartete geduldig; dann fiel es dem Schreiber ein, daß es das beste wäre, den Assessor zu melden. Das geschah. Der Bürgermeister fand sich aus dem Wohnzimmer ein, lächelnd und wohlwollend wie immer.
Wollen Sie nicht eintreten, Herr Assessor, der Herr Landrat und ich sitzen bei einem Glase Wein.
Es ärgerte Richters daß er unmöglich nein sagen konnte. Aber das ging nicht an, und außerdem war er in einem fremden Hause.
Also er verneigte sich, dankte und trat ins Wohnzimmer, wo der Landrat saß und seinen Wein trank. Landrat Svane war ein großer, schlanker Bureaukrat mit einem gewaltigen weißen Bart, der zum Teil ein unregelmäßiges recht häßliches Gesicht verbarg. Er war aus guter Familie, aber echt burschikos und ziem
lich taktlos, deshalb ein Schrecken für die Gutsbesitzer seines Kreises, die er herablassend und demütigend behandelte. Er hatte Richter oft auf den Herrenhosen getroffen, und dieser hatte immer eine bessere Figur abgegeben als der Kammerherr, was dieser bemerkt hatte. Deshalb mochte er den Assessor nicht leiden, und zwischen den beiden herrschte eine stille Fehde. Mit dem Kommandeurkreuz auf der Brust und dem Kammerherrnschlüssel im Rücken fühlte sich Svane zwar sicher, doch er sah wohl ein, daß er sich mit dem schlagfertigen Untersuchungsrichter nicht messen konnte. Deshalb pflegte er steif und schweigsam zu sein.
Heute schien er offenbar etwas Offizielles hinter sich zu haben, denn er war herablassend.
Das machte Richter unzugänglich.
Die Haushälterin des Bürgermeisters, die den Herren bis dahin Gesellschaft geleistet hatte, verlies das Zimmer, und die Zurückbleibenden einigten M sehr schnell darin, zur Sache zu kommen.
Ich habe Sie ersucht, hierher zu kommen, Assessor Richter, sagte der Kammerherr in einem würdigen Vorgesetztenton, wegen einer sehr wichtigen Am gelegenheit. Ich will gleich bemerken, daß ich, der ich selbstverständlich nichts mit Ihrer Richtertätigkeit zu tun habe, ehe mir die Sachen vom Justizministerium zwecks eventuellen Eingreifens vorgelegt wurden, rn diesem speziellen Fall eine justizministerielle telegraphische Order erhalten habe, die ich ermächtigt brn, Ihnen mitzuteilen. Die Untersuchung gegen den Gutsbesitzer Hilmer ist einzustellen.
Hm! sagte der Assessor in seiner trocknen Werse.
Man hat gemeint, daß die Angelegenheit, die infolge der früheren Untersuchung unsers verehrten Herrn Bürgermeisters recht eingehend aufgeklärt zu sein scheint, nicht mehr in Angriff genommen werden dürfe, ehe Gewißheit vorläge, daß Hilmer, na — sagen wir, stark kompromittiert zu sein scheint.
(Fortsetzung folgt.)