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Nr. 302
MHiwWbotschaft des Reichskanzlers
Berlin, 27. Dez. Reichskanzler Dr. Brüning hat dem Lhes° reüaktenr des Transozean-Nachrichtenbüros die folgende Weih- s nachtsbotschaft übergeben:
Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind! Kaum jemals hat die Menschheit dringender als jetzt auf die . Erfüllung dieser frohen Botschaft gehofft. Die Sturmflut der i Krise hat die Völker der ganzen Welt erfaßt. Die Verwirrung, s in die Krieg und Nachkriegszeit sie gestürzt haben, hatten im ; zu Ende gehenden Jahre die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Not überall sehr bedrohlich anwachsen laßen. Allzu hoch ist schließlich der Preis geworden, den die Völker für den Irr- , glaube» zahlen müssen, daß jeder für sich allein die Krise lösen ? könnte. Aber immer stärker setzt sich jetzt die Erkenntnis durch, ! Laß kein Land durch den Niedergang des andern gewinnen kan», > und daß eine Rettung aus dem drohenden Zusammenbruch aller ; in der Aufrichtung einer Interessengemeinschaft zu erblicken ist. s Anstelle isolierter Betrachtung muß der Blick gerichtet werden - auf das gemeinsame Weltproblem. Dazu gehört der Wille zu ^ internationaler Zusammenarbeit, die Bereitschaft zu weitschauen- - der Friedens- und Verständigungspolitik.
Groß ist die Verantwortung der Staatssiihrung, wenn historische Augenblicke nicht benutzt werden, Augenblicke in denen Möglichkeiten gegeben sind, dem weiter rennenden Unheil Halt zu gebieten und Europa und die Welt wieder der Gesundung und dem Frieden entgegenzuführen. Die lleberwindung und Ausrottung des internationalen Mißverstehen-, und Mißtrauens, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle sind Voraussetzungen für die Erreichung dieses Ziels. Deutschland ist seit Jahren diesen Weg gegangen. Es hat im Interesse dieses Ziels die , schmerzlichsten Opfer auf sich genommen. Glaube, Liebe und ^ Hoffnung, die Inbegriffe des weihnachtlichen Festes, müssen , erst in die Herzen der Völker zurückfinden, wenn uns die Er- : füllung seiner Verheißung zuteil werden soll. ;
Neues vom Tage
Ein Raubmord in Berlin am Heilige» Abend
Berlin, 27. Dez. Der 66 Jahre alte Filialleiter Gustav Huth, »er seir 40 Jahren in der Filiale Mohrenstraße bei der Firma Loeser u. Wolfs beschäftigt war, wurde in dem kleinen Hinter- caum des Ladens tot aufgesunden. Wie der Eerichtsarzt fest- jtellte, ist Huth erschossen worden. Die Tat muß schon am Heiligen Abend kurz nach Eeschäftsschluß verübt worden sein. Huths Schwiegersohn hatte sich an diesem Abend zum Geschäft begeben, da er über das lange Ausbleiben seines Schwiegervaters besorgt war. Der Fall ist umso tragischer, als Huth am 31. Dezember nach mehr als 40jähriger Dienstzeit pensioniert werden sollte. Er harte noch die Geschenke bei sich, die er für sein Enkelkind zur Weihnachtsbescherung gekauft hatte. Den Tätern sind etwa 300 RM. in die Hände gefallen. Der Polizeipräsident hat für die Ermittlung der Verbrecher 1000 RM., weitere 1000 RM. hat die Firma Loeser u. Wolsf ausgesetzt.
Geplanter Anschlag auf den japanischen Botschafter in Moskau?
Moskau, 27. Dez. Der Name der hiesigen diplomatischen Vertretung, deren Mitglied nach einer offiziellen Meldung der Telegraphenagentur der Sowjetunion versucht hat, in Verbindung mit einem Beamten des Verkehrskommissariats zu treten, um ihn anzustiften, auf den japanischen Botschafter ein Attentat zu verüben, wird vom Volkskommissariat des Aeußeren nicht bekanntgegeben. Es kann jedoch mitgeteilt werden, daß der Täter ein gewisser Wannjek ist, der der hiesigen tschechoslowakischen diplomataschen Vertretung angehört. Er hat Moskau erst gestern verlaßen. Der Vorfall hat in der Moskauer diplomatischen Welt große Erregung hervorgerufen.
Tokio, 27. Dez. Die Moskauer Meldungen über den Versuch eines Sekretärs der tschechoslowakischen Gesandtschaft, ein Attentat auf den japanischen Botschafter zu veranlassen, und dadurch einen Konflikt zwischen Japan und der Sowjetunion hervorzurufen, hat in hiesigen diplomatischen Kreisen ungewöhnliches Aufsehen erregt. Allgemein wird nunmehr eine weitere Verbesserung der russisch-japanischen Beziehungen erwartet.
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skomsn von Narlise LonnenberZ. (LKIXK ?OK8'I') EopriZkt bzc Martin ?euci>tivanZer, Halle (Zaale) 1931
3. Fortsetzung
Den Wagen hatte ein bejahrter Fahrer bereits in die Garage gebracht, die neben der Villa lag.
Die weite Halle, die breite Treppe, die gewaltigen Flügeltüren, die ganze sorglose Raumverschwendung im Innern der Villa überwältigten Nora, das Eroßstadtkind, nicht weniger als alles andere, was sie bisher vom Besitztum der Tante gesehen hatte.
So reich kann man sein!, staunte in ihrer Seele das Offizierstöchterchen. Und das sind noch Verwandte von - mir! Wenn das Herr Piefke sähe! Und sie empfand, daß ihr durch den Neureichen verwundetes Selbstgefühl hier ausheilen und genesen könnte.
Die Tante brachte Nora selbst auf ihr Zimmer. Es lag im zweiten Stockwerk, war groß, geräumig, hell, bot aus den breiten Fenstern einen prachtvollen Blick über den park- ähnlichen Garten und auf die Höhenzüge, die die Stadt ringsum einzuschließen schienen. Es war elegant und modern möbliert, enthielt außer Bett und Schrank und fließendem Wasser schöne Sessel, Schreibtisch, Chaiselongue und Büchergestell.
's,Wenn dir etwas fehlt, Nora, bestell' es beim Zimmermädchen! Hier ist die Schelle! Kannst du in einer Viertelstunde fertig sein? Dann werden wir einen Imbiß zu uns nehmen — und ich kann dir meinen" — sie stockte —, „einen anderen Hausgenossen vorstellen, mit dem ebenfalls gerechnet werden muß. Mein Sohn" — Frau Vollwank zögerte wieder etwas; sie sprach mit sichtlichem Widerstreben weiter —, „mein Sohn ist vor acht Tagen abgereist; du wirst ihn sobald nicht kennenlernen!"
„Gleicht er dir?"
„Adußerlich — nein!" lächelte Frau Barbara kopfschüttelnd —
Zahlreiche Berkehrsunfälle und Raufereien iu Südafrika 28 Tote
Kapstadt, 27. Dez. In den größeren Städten der südafrikanischen Union ereigneten sich während der Weihnachtsfeiertage außergewöhnlich viele Unglücksfälle. Im ganzen wurden 26 Personen bei Verkehrsunfällen und Raufereien getötet.
Eine Straßenschlacht in Damaskus?
Paris, 27. Dez. Die kommunistische „Humanite" veröffentlicht eine aus Konstantinopel vom 26. Dezember datierte Meldung, wonach französische Truppen in Damaskus auf eine aus mehreren rausend Personen bestehende Menge geschossen hätten. Es sollen 32 Personen getötet und 600 verwundet worden sein. Die Menge habe die Wahlurnen zerschlagen. Auch aus Beyrut und Aleppo würden große Unruhen gemeldet.
Einfuhrverbot in Spanien
Madrid, 27. Dez. Der Präsident der Republik, Zamora, hat ein Gesetz unterzeichnet, wonach folgende Waren nicht nach Spanien eingeführt werden dürfen: Automobile, Seidenstoffe, Kaffee, Wild und Gefrierfleisch, Dünger, Holz, Tabak, elektrisches Material, Glaswaren, Telegraphie- und Telephonapparate, frische und getrocknete Fischwaren.
Kommunistischer Aufruhr in Chile Etwa 20 Tote, viele Verwundete
Santiago de Chile, 27. Dez. In einzelnen Teilen des Landes ist ein kommunistischer Aufruhr gegen die Regierung des Präsidenten Montero ausgebrochen. Im Verlauf der Kämpfe mit den Aufrührern wurden etwa 20 Personen getötet und viele verwundet. In der Provinz Atacama kam es zu zwei regelrechte» Schlachten, bei denen die Regierungstruppen siegreich waren.
Aus Stadt und Land
Altensteig, den 28. Dezember 1931.
Forstliche Staatsprüfung. Aufgrund der in der Zeit vom 4. bis 19. Dezember 1931 vorgenommenen Staatsprüfung sind u. a. die Prüflinge I l g, Eugen von Aichelberg O.A. Calw, und Eayler, Willi von Langenbrand O.A. Neuenbürg, für befähigt erkannt und zu Forstassessoren bestellt worden.
Versetzt. Im Bereich der Reichsbahndirektion Stuttgart ist der Reichsbahnsekretär Zeh in Sulz (Neckar) nach Loßburg-Rodt versetzt worden.
Vor 4V Jahren. Heute vor 40 Jahren, also am Montag, den 28. Dezember 1891, fand die Eröffnung unserer Eisenbahn Nagold—Altensteig statt. Daß dieses wichtige Ereignis nicht ohne größere Feierlichkeit vorbeiging, kann man sich denken. Das Programm sah vor: Böllerschüsse, Tagwache, Abgang einer Deputation nach Nagold zum Empfang der geladenen Ehrengäste, Gabelfrühstück auf . dem Bahnhof in Nagold, Festfahrt nach Altensteig, Samm- ° lung beim „Waldhorn" zum Festzug auf den Bahnhof, Empfang des Festzugs mit Böllerschüssen und Glockengeläuts, Musik, Ansprache, Zug durch die untere Stadt, Festessen im „Waldhorn", mittags musikalische Unterhaltung in der „Linde", abends Feuerwerk auf dem Marktplatz, Illumination der Stadt, Fackelzug am Hellesberg, Festball im Gasthaus z. „Stern". — Viele, die aus unserem Lejerkreis dabei waren, werden sich gerne an diese Feierlichkeit erinnern.
Das „Tannenblatt" brachte dortmals zur Bahneröffnung folgende bemerkenswerte Ausführungen:
„Die Bewohner unseres oberen Nagoldthals, speziell unsere Stadt Altensteig sind heute in Festesstimmung: denn was durch viele Jahre ersehnt und mit Mühe und Ausdauer erstrebt wurde, heute ist es zur Thatsache geworden — das Dampfroß eilt durch unser oberes Nagoldthal! — Für unsere aufstrebende Stadt Altensteig ist dies ein Ereignis von solch' weittragender Bedeutung, daß ein gleichwertiges ihm nicht an die Seite gestellt werden kann, und deswegen wird die Bahneröffnung von jedermann mit Eenugthuung und Freude begrüßt. Da ist jetzt auch ein Rückblick auf die Thätigkeit ange-
; zeigt, welche der Gewinnung des hocherfreulichen, einem dringen- i den Bedürfnisse entsprechenden Verkehrsmittels voranging. Das ! Bestreben, eine Bahn zu erhalten, datiert über 12 Jahre zurück ? und es trat anfänglich bald mehr bald weniger hervor. Wenig- ! stens hatte schon unser früherer Landtagsabgeordneter Richter ! den Auftrag, sich für die Erbauung einer Bahn im Landtag zu ! verwenden, doch war sein Bemühen vergeblich. Im Jahr 1883 ' wurde auf Anregung des Gewerbe-Vereins wieder eine Ver- j sammlung abgehalten, in welcher die Eisenbahnwünsche erneut ! zum Ausdruck kamen. Es wurde ein Comitee niedergesetzt und > der damalige Stadtschultheiß Walther zum Vorsitzenden gewählt, s Es gelang, den Eemeinderat zur Bewilligung der ca. 3000 Mk.
! betragenden Kosten für die technische Aufnahme des Projekts zu gewinnen und durch das Eingreifen unseres hochverehrten Landtagsabgeordneten v. Luz nahm die Angelegenheit schließlich eine greifbare Gestalt an. Die bei der K. Regierung stattgefundenen Sondierungen führten insofern zu einer Klärung, als bedeutet wurde, die Erbauung einer schmalspurigen Bahn habe Aussicht auf Verwirklichung, wenn seitens der Jntereßen- ! ten ein entsprechender Beitrag geleistet werde, eine Normalbahn dagegen nicht. Man entschied sich deshalb von der Forderung ! einer Normalbahn abzusehen und richtete das Bestreben umso energischer auf die Erbauung einer schmalspurigen Bahn nicht aber ohne daß man über diese Zweckmäßigkeit einer solchen Anlage sich vorher überzeugt hatte. Eine Kommission reiste deswegen ins Elsaß, um die Straßenbahn von Mülhausen nach Rappoltsweiler in Augenschein zu nehmen. Die Kommission kehrte bekanntlich wohlbefriedigt zurück. Die Landtagsabgeordneten Frhr. Wilhelm v. Gültlingen und Regierungs-Präsident v. Luz verwendeten sich mit regem Eifer für unsere Eisen- Lahnsache, namentlich wurde durch ihre persönlichen Befürwortungen die Regierung für das Projekt günstig gestimmt. Regierungsseitig wurde zu dem ca. 465,000 Mk. betragenden Baukosten-Aufwand ein Beitrag seitens der Interessenten von 125,000 Mark gefordert. Angesichts des dringenden Bedürfnisses und um die Erbauung einer Bahn nicht auf die lange Bank geschoben zu sehen, sah sich das Bahn-Comitee veranlaßt, sich für Aufbringung dieses hohen Opfers zu verwenden; es wurde Ende des Jahres 1885 eine Aufforderung zur Beiträgezeichnung erlaßen; in Zeit weniger Wochen wurden von Gemeinden, hiesigen und auswärtigen Privatinteressenten, bei welchen Hr. Stadtschultheiß Welker, Hr. Eewerbevereinsvorstand Maier und verschiedene Herren des Comitees vorstellig wurden und eine unermüdliche Thätigkeit entfalteten, annähernd 40 000 Mk. gezeichnet. In einer öffentlichen Sitzung des Gemeinderats im Februar 1886 wurde sodann der opferwillige Beschluß gefaßt, einen Beitrag aus städtischen Mitteln von 60,000 Mk. auszusetzen (später mußte die Stadt für den ganzen zu leistenden Beitrag Garantie übernehmen und es stellt sich, da nicht alle gezeichneten Beiträge einkassiert werden konnten, die Beitragsquote der hiesigen Stadtgemeinde wesentlich höher.) Damit war die Sache soweit ! gediehen, daß die K. Regierung um eine Bahnbau-Vorlage an r den Landtag angegangen werden konnte. Der Bau der Bahn i wurde in der Thronrede, mit welcher der Landtag am 30. Januar ! 1889 eröffnet wurde, verheißen und in ihrer Sitzung vom I 14. Juni nahm die Kammer die Vorlage einstimmig an. Die frohe Botschaft wurde am selben Tage durch Böllersalven ver- ! kündet und Danktelegramme gingen ab an die beiden Herren Abgeordneten von einer aus Anlaß der Bahnbewilligung im „Löwen" stattgefundenen zahlreich besuchten Versammlung. Wenige Wochen später wurde auch schon mit den Vorarbeiten begonnen und es lagen dieselben einer in Nagold errichteten Bahnbausektion ob. Im März dieses Jahres wurden die Bau- Arbeiten in Angriff genommen und so emsig gefördert, daß jetzt nach einer Bauzeit von 9 Monaten die Bahn eröffnet werden kann. Diese heute in den Betrieb übergehende Bahn ist für unsere Gegend gewiß ein schönes Weihnachts- und Neujahrs- Geschenk, wohl geeignet, viele Gemüter zu befriedigen, welche seither mit Recht oder Anrecht behaupteten, wir hier oben auf dem Schwarzwald seien stiefmütterlicher Behandlung ausgesetzt. Gleich hoffnungsvoll wie wir an der Jahreswende stehend, dem j neuen Jahre entgegensetzen, gleich hoffnungsvoll begrüßen wir l auch die Betriebseröffnung unserer Lokalbahn. Mögen alle !. Erwartungen, welche in betreff eines ersprießlichen Gedeihens i unseres ganzen Erwerbslebens in die Bahn gesetzt werden, sich s voll und ganz erfüllen, möge sie namentlich für unsere Stadt, : wie überhaupt für unseren ganzen Bezirk eine Quelle reichen ! Segens werden."
s Drei Feiertage — eine Insel des Friedens und der s Ruhe in all der Arbeit und Sorge. Das war ein gar , schönes Weihnachtsgeschenk! Der heilige Abend wurde hier - wieder in althergebrachter Weise mit Höhenfeuer und ' Fackeln eingeleitet. Die Höhenfeuer waren im Zeichen der
Nora öffnete eilends ihre Koffer und nahm ihr schönes rosa Seidenkleid heraus, das eigentlich nur für ganz besondere Gelegenheiten bestimmt war. Aber in dieser Umgebung schien es ihr sehr einfach, das mindeste, das sie tragen konnte. Sie wusch sich, ordnete ihr feines, dunkles Haar, das fast schwarz war — ebenso wie ihre leuchtenden Augen — und das sich schmiegsam und weich in feinem strengen Schnitt um ihren schmalen Kopf legte; dann warf sie das Kleid über und — nach kurzem Zögern — entschied sie sich doch endlich für die neuen, ganz Hellen, noch nie getragenen Seidenstrümpfe und die allerbesten Schuhe. Sie seufzte. Meine schönste Pracht ist gerade gut genug für den Alltag in diesem feudalen Heim. Was soll daraus werden? Ich' werde Mutter um schwarze Strümpfe bitten müssen, nicht weil es zu schlimm, weil es zu schön ist, um es zu ertragen.
Aber dann dämmte sie gleich ihre aufquellende Freude mit ihrem durch ihre kurze Lebenserfahrung bereits ausgereiften, mißtrauischen Pessimismus.
Erste Eindrücke blenden! Nur nicht blenden lassen!, zügelte sie sich.
Im Speisesaal brannten die Lichter über dem runden Tisch, der aufs sorgfältigste gedeckt war. Frau Barbara war schon anwesend. Sie hatte ebenfalls ihr Sportkleid abgelegt und trug ein sehr schlichtes, braunes Seidenkleid, das dieselben Reflexe zeigte wie ihr wundervolles, lockiges Haar.
Ihr feines Antlitz mit den Farben des Elfenbeins erschien in dieser Umgebung, in diesem Gewand fast noch zarter und jugendlicher als vorhin — und unwillkürlich angezogen, aber auch überwältigt von der Anmut und Güte, die nicht nur das Gesicht, die ganze Erscheinung der fast noch fremden Verwandten ausdrückte, neigte sich Nora und küßte die schmale, sehr gepflegte Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Frau Barbara lächelte in einem leisen^ aber keinesfalls verletzenden oder lieblosen Spott.
„Gelt ja — das ist noch alles so neu und fremd hier!" sagte sie. „Das verwirrt und ängstigt. In ein paar Tagen — hoffentlich -- bist du an alles gewöhnt, kannst schauen, urteilen, kritisieren lernen. Und hier — ja, laß mich dir vorstellen —, das also ist —"
Nora bemerkte die sichtliche Verlegenheit der sonst so
sicheren Tante mit Erstaunen. Unwillkürlich sah sie sich um: Hinter ihr stand ein sehr großer, breitschultriger junger Mann in einem eleganten Abendanzug.
„— das also ist — Herr Hell!" vollendete Frau Vollwank etwas mühsam.
Noras dunkle Augen begegneten mit vollendeter Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit den blauen, Hellen ihres Gegenübers. Er war blond, seine Gesichtszüge nicht unintelligent, aber wenig fein. Das goldblonde Haar, schön gewellt, war entschieden das Hübscheste an ihm.
Gewiß ein höherer Angestellter, ein Vertrauensmann der Tante, dachte Nora. Schade, wieviel lieber bliebe ich mit ihr allein. Der junge Mann — er schien so um die Dreißig herum zu sein — musterte sie ungeniert und eingehend, mit einer gewissen blasierten Unverfrorenheit, die sie reizte.
„Guten Abend!" sagte sie mit leisem Nachdruck, um die Musterung zu unterbrechen. Da ging ein fröhliches Lächeln über sein Gesicht, das es unendlich verjüngte und verschönte.
„Ei, sieh da, gnädiges Fräulein, die Reise hat Sie nicht angegriffen?" fragte er in gutmütiger Ironie.
„Reisen — Neues sehen — etwas erleben — das greift mich nie an!"
„Beneidenswerte Jugend!" seufzte der andere blasiert.
Nora sah zur Tante hinüber. Auf deren weißen Wangen brannte ein Helles Rot.
„Wir — wollen.uns setzen", sagte sie, sichtlich behindert.
„Hell, schenken Sie ein!"
„Zu Befehl, Gnädigste!"
Hell entkorkte die Flasche und waltete seines Amtes. Es gab nur einen kalten Imbiß. Man brauchte keine Bedienung. Nora fühlte Befangenheit. Mit einem Schlage empfand sie sich als störend, als unwillkommen, als hindernd in dem Kreis.
Sie aß hastig und ohne aufzublicken. Die beiden andern sprachen wenig miteinander, und ganz augenscheinlich waren sie durch ihre Anwesenheit in ihrer Art, sich miteinander zu geben, eingeschränkt.
„Sind die jungen Berliner Damen alle so schweigsam?" wandte sich endlich Herr Hell an Nora. „Hier in der Gegend erzählt man von der großen Berliner — Mundanlage."