Wem. Anzeiger fiir die Bezirke Nagold, Cal» s. IreodeOadt — Amtsblatt skr deo Bezirk Ragrlt a. Me«eia-StM
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Urrrnrnev L3Ä j ALterr steig, Samstag Sen 4. Oktavre 1930 I 33 atrr-.ua?, g
Rundschau
Die Veröffentlichung des großen Reformprogramms der Reichsregierung hat Bewegung in das politische Leben Deutschlands gebracht. Die Erwartungspause, die unmittelbar nach den Wahlen eingetreten ist, scheint nunmehr vorüber zu sein. Die Dinge sind in Fluß geraten. Noch kaum mehr als eine Woche und der Reichstag tritt zusammen, dieser neue Reichstag, dessen Zusammensetzung die Welt so überrascht und dessen Zukunft so viel Kopfzerbrechen verursacht. Wird er sein oder wird er nicht sein? Diese Frage wird sich voraussichtlich schon vor dem Tage der Reichstagseröffnung entscheiden. Ihre Beantwortung hängt von den Parteien ab.
Das große Regierungsprogramm ist, wie man sich zu seinem Inhalt auch stellen mag, eine achtunggebietende Arbeitsleistung. Nicht umsonst hat die Anfertigung dieses umfaßenden Dokumentes so viel Zeit und Kraft in Anspruch genommen. Jetzt sind die deutschen Parteien an der Reihe, zu zeigen, was sie ihrerseits zu leisten vermögen. Reichskanzler Brüning mit seinen Ministerkollegen glaubt mit guten Gründen sein Bestes getan zu haben. Nun liegt es an dem kommenden Reichstag, dieses Programm gutzuheißen oder abzulehnen.
Der Reformplan der Reichsregierung ist als ein einheitliches Ganzes gedacht. Doch geht die allgemeine Auffassung dahin, daß das Reichskabinett nicht beabsichtigt, an allen Einzelheiten seines Werkes um jeden Preis festzuhalten, sondern bereit sein würde, hie und da Abänderungen vorzunehmen, falls solche genügend begründet sein würden. Sicherlich wird es im Reichstag Parteien geben, die das große Projekt der Reichsregierung rundweg ablehnen, ohne daß es für sie nötig wäre, es im einzelnen zu betrachten. Die anderen wiederum werden ihre Zustimmung sicher davon abhängig machen, inwieweit die Reichsregierung bereit sein würde, ihren Anregungen Rechnung zu tragen. Was man jetzt vor allen Dingen vermieden wissen möchte, ist ein geheimes Spiel hinter den Kulissen, das bei uns bei früheren ähnlichen Gelegenheiten leider oft genug getrieben wurde. Diese wenig lobenswerte Beschäftigung hat schon immer wenig Anklang bei den Wählern gefunden. Unbegreiflich würde es sein, wenn sich in den nächsten Tagen erweisen sollte, daß man aus den Erfahrungen der letzten Zeit nichts gelernt hat. „Kuhhandel" ist gewiß kein schönes Wort. Peinlich ist es, wenn es doch manchmal benutzt werden muß, doppelt peinlich wäre es, wenn dieses Wort auch diesmal unvermeidlich wäre.
Der Reichskanzler ist nun dabei, mit den Parteiführern sich über das Sanierungsprogramm auszuspcechen, dessen Durchführung im Parlament abzutasten und die Möglichkeiten einer Mehrheitsbildung zu untersuchen.
Der JnhaltdesProgrammsist bitter und sorgenschwer, noch drückender die Sorge um die Durchführung. Die Kennzeichen des Programms sind: Kürzung der Beamtengehälter, starke Abstriche am Reichshaushalt, Vereinfachung des Steuersystems, endgültige Regelung des Finanzausgleichs, Abbau der Wohnungszwangswirtschaft — kurzum, es werden sämtliche Zweige der staatlichen Verwaltung betroffen. Als einzige neue Steuer ist eine stärkere Belastung des Tabaks vorgesehen, im übrigen Steuerabbau geplant. Der Plan — auf dieses Wort ist das Hauptgewicht zu legen — erstreckt sich nicht auf das laufende Etatsjahr, sondern auf die kommenden und reicht ziemlich weit. Die gesetzmäßige Form für die Vorlagen muß erst gegossen werden. Für den Augenblick ist nur bedeutsam die sofortige Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 4,5 auf 6,5 Prozent, die bereits durch die Notverordnung in Kraft gesetzt wurde. Wenn man sich daran erinnert, daß vor einem halben Jahre um Erhöhung der Beiträge um sin halbes Prozent wochenlang gekämpft werden mußte und wie darüber Ministersitze zu wackeln begannen, so erkennt man die Aenderung der Situation. Aber gerade darin, daß für das laufende Rechnungsjahr nur diese einzige Maßnahme vorgesehen ist, liegt ein schwacher Punkt. Nach den Schätzungen der Negierung wird bis zum 1. April 1931 ein neuer Fehlbetrag von 900 Millionen RM. oor- llegen, den der Finanzminister durch einen Ueberbrückungs- kredit zu bereinigen hofft
Das Ergebnis der deutschen Wahlen — die Zuwendung der Wählermassen an den Radikalismus — hat dem Ausland gezeigt, wie gefährlich es ist, den Druck aus die deutsche Lebens- und Wirtschaftskraft bis aufs äußerste anznspan- nen. Selbst Herr Briand hat die extreme politische Be- weguna >n Deutschland mit der „tragischen schwierigen
' Lage"'Deutschlands zu erklären versucht. Ja, er hat sich zu s weiteren verständigen Worten Hinreißen lassen, worüber i das nationalistische Frankreich erregt ist. Briands Stellung ! als Außenminister ist gefährdet, wenn im November in ? Paris d HD,Parlament wieder zu arbeiten beginnt. Mi- ! nisterpräsioent Tardieu hat sich mit Poincare und Millerand verständigt, denn die französische Rechte will Vriand stürzen. So sehen die Pariser Blätter bereits ein Kabinett mit Poincare Heraufziehen, wenn Briand gestürzt ist. Der Hauptgrund für diese innerpolitische Wandlung in Frankreich liegt im Problem der „Abrüstung". Die Linksparteien in Frankreich, die hinter Vriand stehen, wollen in der Abrüstung einen praktischen Schritt tun, denn im Völkerbund ergäbe sich wohl eine Mehrheit dafür. Aber Briand hat die These Tardieus übernommen: Schiedsgericht, Sicherheit, Abrüstung. Und er hatte auf der Völkerbundstagung wiederum den Erfolg, daß die Abrüstungsverhandlungen verzögert werden, wenn auch die Abrüstungskommission noch in diesem Jahre Zusammentritt. Das Genfer Ergebnis der Völkerbundstagung ist überhaupt sehr mager. Selbst in der Minderheitenfrage unterlag Deutschland. Reichsaußen- minster Dr. Curtius ist bereits nach Berlin zurückgekehrt Innere Krisen gibt es auch im nahen Oesterreich. Das Kabinett Schober ist zurückgetreten, ein Kabinett Vau- goin aus Christlichsozialen und Heimwehrleuten als Minderheitskabinett gebildet. Im November sind die Neuwahlen. Die bisherige Einigkeit der bürgerlichen Parteien ist zerschlagen. Auch in Oesterreich schwillt die Bewegung gegen die Parteiherrschaft an. Man betrachtet auch dort die Parteien als einen „Haufen von Interessenten", die das Staatswohl in den Hintergrund drängen. Auch Schober macht man darüber Vorwürfe, obwohl er so viele Erfolge in dem einen Jahre seiner Kanzlerschaft zu Luchen Latte.
VeiseMs vm Prinz LesM
München, 3. Okt. Anker reger Anteilnahme der Bevölkerung Münchens erfolgte die feierliche Beisetzung des verstorbenen Prinzen Leopold von Bayern. Ueberall in den Straßen standen ungeheure Menschenmengen. Um 9 Uhr begann in der Leopold- , Pratze vor dem Trauerhaus, dem Palais des Prinzen Leopold, s die militärische Trauerparade. Dann setzte sich langsam der , Trauerzug in Bewegung. Der Zug selbst bot ein in München s schon lange nicht mehr erlebtes militärisches Schauspiel. Berit- i tene Reichswehr eröfsnete die Reihe des Trauergefolges. Dann rollten Artilleriewagen vorüber. Das Musikkorps lieb den Trau- s ermarsch erschallen. Im Parademarsch und mit aufgepflanztem > Seitengewbr marschierten die Reichswebrtruppen vorüber. Hie-
- rauf folgte die Geistlichkeit im Ornat. Dann wurde das Kissen s mit den Ordensauszeichnungen des Gestorbenen getragen. Nunmehr folgte auf einer Lafette der Sarg, der in den bayerischen
! Farben ausgeschlagen war. Auf dem Sarg ruhten auf einem ! Kissen der Selm und der Degen des Heerführers. An den Sarg ^ reihte sich das Trauergefolge an. Man sah die nächsten Anver- ' wandten des Prinzen. Kronprinz Rupprecht von Bayern in Uni- s form, Prinz Konrad, Erbbrinz Albrecht, Erbherzog Josef Au-
- sust, Erzherzog Josef Franz, die Erzherzöge Franz Salvator,
: Hubert und Theodor, den Prinzen Adalbert von Preußen als s Vertreter des Kaisers, ferner viele Fürstlichkeiten, die Mitglie- ! der des Hauses Wittelsbach, die alte Generalität der deutschen -. und österreichischen Armee in ihren Uniformen. Die Reichswehr s war vertreten durch den Chef der Heeresleitung, Generaloberst s Heye. Der Reichspräsident begab sich von Dietramszell unmittel»'
- Lar zur Kirche.
^ Der Trauergottesdienst wurde vom Erzbischof Kardinal von ! Faulhaber unter Assistenz der Domgeistlichkeit zelebriert, in der er die Verdienste des verstorbenen Prinzen würdigte. Der Kir- s chenchor von St. Michael sang ein Requiem. Darauf folgte die s Ausweibung des Sarges durch den Erzbischof. Unter dem Donner des Ehrensaluts wurde dann der Sarg in die Gruft getragen und dort unter geistlichen Gesängen und Gebeten beigesetzt.
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Parteisitzungen im Reichstage
Berlin, 3. Okt. Im Reichstag trat zum ersten Mal nach den Wahlen die sozialdemokratische Fraktion zusammen, um sich mit der Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Sanierungsprogramm und gegenüber dem Kabinett Brüning zu beschäftigen. Wie die NdVdZ. hört, ist anzunehmen, daß sich bei Sen Sozialdemokraten jene Gruppe durchsetzen wird, die den Grundsatz sachlicher Mitarbeit vertritt. Das würde bedeuten, dab die Sozialdemokraten dem kommunistischen Mißtrauensvotum gegen das Kabinett Brüning nicht zustimmen, sondern vielmehr ab- warten werde, wie die Reichsregierung ihre Arbeiten weiter führt. Allerdings werden die Sozialdemokraten als Voraussetzung für diese Haltung fordern, daß der parlamentarische Weg nicht verlassen werde.
Weiter traten im Reichstag zum ersten Mal die 14 AbgeorvH neten des Christlich-Sozialen Volksdienstes zusammen, um mit einer politischen Aussprache zugleich die Konstituierung durck- zuführen. Die Beratungen sollen morgen fortgesetzt werden. Wahrscheinlich wird erst dann der Vorstand gewählt. Es wird versichert, daß der Christlich-Soziale Volksüienst im Reichstag feine Selbständigkeit behält und keinen Anschluß an andere Parteien suchen wolle. Doch rechnet man damit, daß der Abg. ' Lambach sich dem Christlich-Sozialen Volksdienst anschließt, wo- s durch diese Gruppe Fraktionsstärke erhielte. Die Fraktion der j Staatspartei wird am Montag vormittag ihre nächste Sitzung i abbaltekt.
Die Beschlüsse der Sozialdemokraten
solche Herabsetzung der Arbeitszeit, die es ermöglicht, die Erwerbslosen wieder in Arbeit zu bringen.
Die politische Unsicherheit birgt die Gefahr ernster politischer Verwicklungen in sich. Sie har die Flucht des deutschen Kapitals gesteigert und hindert den Zustrom ausländischen Kapitals. Sie verschärft die Wirtschaftskrise. Nur die Sicherung eines streu» verfassungsmäßigen Regierens ermöglicht die notwendige Arbeitsbeschaffung zur Milderung des wirtschaftlichen Niederganges.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wird unter Wahrung der Lebensinteressen der arbeitenden Massen für die Sicherung der parlamentarischen Grundlage und für die Lösung der dringendsten finanzpolitischen Aufgaben eintreten.
Die Sozialdemokratie hält an den Grundsätzen der bisherige» Außenpolitik fest, die zur Befreiung des Rheinlandes und zur Herabsetzung der Reparationslasten geführt hat. Sie lehnt alle außen- und handelspolitischen Experimente ad, die die wirtschaftlichen Beziehungen stören und zu einer neuen akuten Verschärfung der Krisen führen würde.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, entschlossen, die politischen. wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Arbeiterschaft mit größter Energie zu verteidigen, wird auf dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung die Beseitigung der für die breiten Massen des Volles unerträglichen Bestimmungen der Notverordnungen fordern und erwartet von allen Arbeiterorganisationen stärkste Aktivität für die schweren bevorstehenden Kämpfe und die Bereitschaft, ihren Kampf außerhalb des Parlament» mit allen geeigneten Mitteln zu unterstützen".
Lösung der finanzpolitischen Aufgaben — Beseitigung unerträglicher Bestimmungen der Notverordnung
Berlin, 3. Okt. In der heutigen Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion wurde folgende Entschließung angenommen:
„Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sieht nach dem Ausgang der Reichstagswahlen in der Erhaltung der Demokratie, der Sicherung der Verfassung und dem Schutze des Parlamentarismus ihre erste Aufgabe.
Die Demokratie ist bedroht von allen sozialrevolutionären Kreisen, die die Wirtschaftskrise zum Abbau der Sozialpolitik und zur Senkung der Löhne benutzen wollen. Sie ist bedroht durch die faschistische Bewegung der Nationalsozialisten, die den Opfern der kapitalistischen Wirtschaftskrise nach der Zertrümmerung der Demokratie die sofortige Heilung aller Leiden und die Lösung aller sozialen Fragen vorgaukeln. Sie ist bedroht durch die Kommunlstijche Partei, die selbst in dieser gegenrevolutionären Zeit die Arbeiterklasse spaltet und den Kampf gegen Sozialfaschismus erschwert.
Die Sozialdemokratie kämpft für die Demokratie, um die Sozialpolitik zu schützen und die Lebenshaltung der Arbeiterschaft zu beben. Die Krise kann nicht gelöst werden durch Verminde- ! -rung der Kaufkraft der Massen, sondern nur durch Arbeitsbe- ! schaffung. Ebenso unerläßlich ist der Kampf der Fraktion im ! neuen Reichstag zur Herbeiführung eines Notscsetzes über eine
Nach der sozialdemokratischen Fraktionssitzung
Berlin, 3. Oktober. Die Besprechungen des Reichskanzlers mit den Vertretern der Parteien nähern sich ihrem Ende. Sie sind heute fortgesetzt worden und werden am morgigen Samstag zu Ende geführt werden. Inzwischen hat bereits die Reihe der Fraktionssitzungen begonnen, so- daß man in politischen Kreisen bis Mitte der kommenden Woche auf eine gewisse Klärung der Situation rechnet. Sie ist durch die heutige Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion bereits wesentlich gefördert worden. Von unterrichteter Seite erfahren wir über die Stimmung, die in dieser Sitzung zum Ausdruck kam, daß man nicht daran denkt, gleich nach Zusammentritt des Reichstages an einem Sturz der Regierung mitzuwirken. Man geht dabei offenbar von dem Gedanken aus, daß angesichts der augenblicklichen Unmöglichkeit, eine parlamentarische Mehrheit für irgend eine andere Regierung herbeizuführen, niemand weiß, was auf eine Regierung Brüning folgen würde. Die Sozialdemokratie wird also zwar die Aufhebung gewisser Bestimmungen der Notverordnung fordern, damit sind aber auch bereits Verhandlungsbrücken gebaut, und so wird dann die Entschließung uns im ganzen dahin interpretiert, daß sie die Möglichkeit zu einer Tolerierung des Kabinetts durch die Sozialdemokratie wenigstens für die erste Zeit habe.