Schwarzwälder Tageszeitung
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Nr. 183
Aiteusteig. Mittwoch -e« 11. August
1926
Volk und Verfassung
Zum 11. August 182K Von Erich Koch, Reichsminister a. D.
Die deutsche Reichsverfassung ist besser und gedankeu- reicher wie manche ihrer Gegner, die sie kaum gelesen haben, behaupten. Die Kritik an der Verfassung geht von zwei Seiten aus: Von der einen Seite hören wir, daß die Verfassung einer bloßen Doktrin zuliebe rücksichtslos und brutal alles Bestehende, das dem Deutschen teuer und heilig gewesen sei, zerstört und zu einem Brei zerstampft habe. Von der anderen Seite haben wir hören müssen, daß die Verfassung zu wenig neue, in die Zukunft weisende Gedanken hege, daß sie nicht die große Fackel aufgesteckt habe, die das Volk in seiner Dunkelheit ersehne. Beide Anklagen gehen im wesentlichen fehl.
Zunächst halte ich es für notwendig, in das Herz unseres Volkes und namentlich auch unserer Jugend das Bewußtsein hineinzusenken, daß nicht die Verfassung mit allen früheren Einrichtungen aufgeräumt hat, sondern die Revolution. In den Novembertagen des Jahres 1918 ist das Alte gestürzt worden oder richtiger eingestürzt. Die Verfassung fand tabula rasa vor. Auch ein konservativ gerichteter Mann kann nicht glauben, daß die Verfassung im Sommer 1919 dasjenige hätte ungeschehen machen können, was der Einsturz des Jahres 1918 in Trümmer geschlagen hatte. Einem Volke ,dem jede Autorität versunken oder zerschlagen war, konnte eine neue Autorität nur aufgerichtet werden aus dem allgemeinen Willen des Volkes heraus. In diesem Streben haben im Winter 1918/1919 auch die Männer der äußersten Rechten, die heute das Teufelswerk der Verfas- ' sung verfluchen, im Kampf gegen den Bolschewismus — ich will nicht sagen: neben uns, aber doch hinter uns gestanden. Wenn uns die Verfassung demokratische Einrichtungen unvermittelt und traditionslos gebracht hat, so sind diejenigen daran schuld, die nach dem Jahre 1871 nicht im Wege der Revolution das Eottesgnadentum abgebaut haben, sondern es auf tönernen Füßen zu einem Koloß aufgerichtet haben, der im Anprall der Revolution unerhört rasch zufammen- brach. Wenn die neue Verfassung die demokratische Autorität schrankenlos aufrichtete, so mußte sie das tun, weil alle Schranken längst gefallen waren. Wer im Jahre 1919 „Demokratie" sagte, sagte „Autorität". Und ebenso sehe ich auch heute noch und in aller Zukunft, nachdem die alten Autoritäten entzaubert sind, rings um mich keine andere Autorität, die sich durchsetzen könnte, als die von dem Willen des Volkes ausgehende.
Ernster fast ist der entgegengesetzte Vorwurf; aber auch er ist ungerecht. Man verkennt die Möglichkeiten parlamentarischen Wesens, wenn man glaubt, daß die Männer, die berufen sind, im Namen der Mehrheit des Volkes dem Volke eine neue Verfassung zu geben, gleichzeitig diejenigen Männer sein können, die das politische Geistesleben Deutschlands plötzlich in ihre eigenen Bahnen weisen könnten. Das war auch in der französischen Revolution nicht so. Wo stek- ken die neuen Gedanken der französischen Verfassung gegenüber demjenigen, was französische Philosophen fast ein Jahrhundert lang gepredigt und gelehrt haben? Wo neue Gedanken von wildgewordenem Jakobinertum vorübergehend in die Verfassung der französischen Revolution ausgenommen worden find, find sie spurlos wieder verschwunden. Was bleibend ist an kmr französischen Verfassung, ist der Niederschlag derjenigen Lehren, die den denkenden Kreisen des französischen Volkes schon vorher in Fleisch M Vlut übergegangen waren.
Die heroische Zeit ist auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung vorüber. Die Zeiten kommen sicht wieder, wo der Gesetzgeber die Tafeln mit den 10 Geboten vom Berg Si- uai herunterholen konnte. Heute vollstreckt der Gesetzgeber rn Willen des Volkes. Keine demokratische vermag Ideen, dw unausgereift sind, dem Volke aufzudrängen. Was man An ihr verlangen muß, ist nur, daß sie entwicklungsfähig ? und den Weg für solche Gedanken nicht verbaut. Dens d>e Entwicklung geht weiter. Wer nicht von Grund seines Verzens aus konservativ ist, wird das erkennen, auch wenn s ^ es heute noch ablehnt, die kaum geschaffene Verfassung M revidieren.
Das deutsche Reich verdankt der Verfassung von Weimar, im ^ ^steht. Ohne diese Verfassung wäre es in den letz- n sieben Jahren von Absonderungsbestrebungen zer- ^Augt, von sozialen Gegensätzen zerrissen worden und eine Me Beute seiner Nachbarn gewesen. Keine frühere Rie- Deutschlands gibt es, die nicht zum Abfall wichti- ^ . des Reiches geführt hatte, deren Fürsten die Er-
ung ihres Thrones oder die Mehrung ihrer Hausmacht
wichtiger war als die deutsche Schicksalsgemeinschaft. Das deutsche Volk hat sich doch 1918 treuer erwiesen als früher seine Fürsten. Daß es diese Treue auf sicherem Boden erweisen konnte, verdankt es der Weimarer Verfassung.
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Paris dementiert
Paris, 10. Aug. Von zuständiger Seite wird die Meldung des „Daily Telegraph", nach der Botschafter von Hoesch Briand ein Memorandum über die Herabsetzung der Besatzungsstärke im Rheinland überreicht hat, dementiert. Es wird darauf hingewiesen, daß die Verharzungen über diese Frage bereits seit vielen Monaten schweben und daß der Botschafter mit den zuständigen Pariser Stellen fortlaufend i« Unterhandlungen hierüber stehe. Ein Memorandum über die Frage der Besatzungsstärke im Rheinland sei in der letztes Zeit im Außemnimsterium nicht eingetroffen.
Es wird also zugegeben, daß schon seit vielen Monate« über die Truppenverminderung verhandelt wird, obgleich Deutschland seine Zahlungen und sonstigen Verpflichtungen vollauf nachkommt. Es ist schon schlimm genug, daß trotz »Locarno" kein weiteres EntgegenLovmreu gezeigt wird. Nun will das neueste Dementi nur in Abrede ziehen, daß ein besonderes „Memorandum" überreicht worden sei. Man klammert sich also in Paris an eine Bezeichnung für ein Schriftstück, nur um in der Sache selbst nichts tun zu müssen. Das find keine angenehmen Vorbereitungen für die Genfer Tagung des Völkerbundes.
Frankreichs Gegenforderung
Paris, 10. Aug. Wie der „Petit Parisien" mitteilt, hat Briand bei der Unterredung mit dem deutschen Botschafter Wer die Verminderung der Besatzungstruppen im Rheinland daraus hingewiesen, daß Frankreich bereit sei. die Stärke seiner Besatzungstruppen auf 50 000 Mann herab- Msetzen. Man wünsche aber, daß Deutschland sich gleichfalls vom Geiste von Locarno leiten lasse und daß die Demonstrationen, die im Rheinland gegen die Franzosen veranstaltet würden, ein Ende fänden. Das „Journal" gibt zu, daß der Ausgangspunkt für die Verhandlungen über die Be- fatzungstruppen die klare Verpflichtung sei, die Frankreich während der Locarnokonferenz übernommen habe. Deutschland habe damals das feste Versprechen einer beträchtlichen Herabsetzung der 'Besatzungstruppen im Rh ünland erhalten «und es blieben nur noch die näheren Einzelheiten der Ausführung zu prüfen. Das .Journal" behauptet, daß gegenwärtig nicht 86 000 Mann Besatzungstruppen im Rheinland ständen, sondern nur 60 000 Franzosen und 15 000 Engländer und Belgier. Man erwäge französischerseits die Herabsetzung des Kontingents um 10 000 Mann. Es handle sich bei den Gegenforderungen, die Frankreich stelle, nicht nur um die Unterdrückung der nationalistischen Demonstrationen, sondern auch darum, daß die Deutschen, die mit den alliierten Streitkräften in Beziehungen getreten seien, geschützt würden.
Also: Die Separatisten soll Deutschland schonen. Wenn die Franzosen schon nervös werden beim Gesang der „Wacht am Rhein" oder wenn sie die Namen „Sedan", „Mars la Tour" u. a. hören, und Trommeln und Pfeifen verbieten, weil sie das alles nervös macht, so zeigt sich darin die ganze Schwäche ihrer Argumente. D. Red.
London und die Verminderung der Besatzungstruppeu
London, 10. Aug. Sowohl in der Abrüstuugsfrage wie hinsichtlich der Verminderung der Besatzungstruppen verweist man aus die früheren Erklärungen Ehrmberlains. Mau betont, daß die Frage der Verminderung der Besatzungstruppen nach Räumung der ersten Zone in erster Linie Frankreich angehe. Die vom diplomatischen Korrespondenten des „Daily Telegraph" veröffentlichte Meldung, daß in London Schritte im Zusammenhang mit der Reduzierung der Besatzungstruppen unternommen worden seien, wird an amtlicher Stelle weder «bestätigt noch dementiert.
Amerika mb Mexiko
Die Vereinigten Staaten glauben, den jetzigen Zeitpunkt, in dem Mexiko durch seinen Kirchenstreit im Innern schon Schwierigkeiten genug hat, für den geeignetsten erachten zu müssen, um auch ihrerseits einen Druck auf das Nachbarland ausüben zu können. Es wird 'berichtet:
London, 10. Aug. „Daily Telegraph" berichtet aus Neu- york, daß nach einer Washingtoner Meldung die Beziehun-
j gen zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ihren ! schlimmsten Stand erreicht hätten, seit Wilson den General § Pershing über die mexikanische Grenze sandte, um den Rebellen Villa gefangen zu nehmen. Wenn Coolidge keine Ee- ' nugtuung für seine letzte sehr eindeutige Protestnote wegen f der Nichtverhastung der Mörder von Amerikanern und ! keine Entschädigung für das beschlagnahmte amerikanische Eigentum erhalte, sei er entschlossen, für Schritte einzutre- ken, die zwar keine militärische Aktion bedeuten, aber doch zeigen würden, daß die Bereinigten Staaten den Dingen nicht weiter ihren Lauf lassen würden.
Abberufung des amerikanrscheu Botschafters aus Mexiko?
Reuyork, 10. Aug. Die Sun veröffentlicht eine Meldung ihres Washingtoner Korrespondenten, in der es heißt, daß die amerikanisch-mexikanischen Beziehungen einen Gefahren- s Punkt erreicht hätten und seit der Präsidentschaft Wilsons - nie so gespannt gewesen seien. Es verlautet, daß die Ab- j berufuwg des amerikanschen Botschafters aus Mexiko kurz i bevorstehe. — (In Washington wird man sich das doch noch ! einmal überlegen.)
j ClemeittM m>d Coolidge
j Der alte „Tiger" hat mit seinem Briese zweierlei erreicht j — eines, das er wohl beabsichtigte, und eines, das er wohl ' kaum für möglich gehalten hat. Das erste ist die Aufpeil. ! schuug der nationalen Gegensätze, womit er seinem Kon- ! kurrenten Poincare unruhige Stunden bereitet und Prügel ^ zwischen die Beine wirft. Das andere ist die ganz entschHe» ' dene, fast feindselige Ablehnung seines Schreibens durch die s amerikanische Presse. Es wird gemeldet:
; Coolidges ablehnende Hwltuug zum Clomenceaubrie k bestätigt
, Paris, 10. Aug. Rach einer Meldung der Pariser ,Mmss" j hat Coolidge offiziell erKären lassen, er werde de« Brief i C-lemenceaus ignorieren lassen. Die Entscheidung liege aus- s schließlich beim amerikanischen Kongreß und bei der fran- s Eichen Kammer.
> Katastrophaler Ein" WELemeneeausbriefes in Amerika
! -leuyork, 10. Aug. Die gesamte amerikanische Presse fährt ! fort, die Sensation des Tlemenceausbriefes auszunutzen und i läßt die Tatsache erkennen, daß die gereizte Stimmung ge- s genüber Frankreich durch den Brief wesentlich verschärft k worden ist. Die Washingtoner Berichterstatter der Neuyor- ! ker Presse Lbertresfen sich gegenseitig in Angriffen gegen j Clemenceau. Washington, so heißt es u. a., erinnere daran, r daß Frankreich bisher keinen Sou zurückgezahlt habe. Prä- j sident Coolidge erhalte aus allen Teilen des Landes Berge ! von Briefen, in denen die Regierung der Vereinigten Staa- r ten aufgefordert werde, in r Schuldenfrage keineswegs ! «achzugeben. In Washington frage man sich erstaunt, wer j wohl Clemenceau den Rat gegeben habe, ein derartiges i Schriftstück zu verfassen. Der Brief Llemenceaus sei im ! ganzen ein Stück belustigender Unverfrorenheit.
^ Oberst House über das Verhältnis Europas zu Amerika
- Reuymck, 10. Aug. Oberst House erinnert in Mc. Calls » Magazine daran, Laß die Amerikaner während des Welt»
> kvieges Hunderte von Millionen Dollar für Europa ge- i opfert hätten, nur um jetzt Geldverleiher und Shylocks ge-
- nannt zu werden. Der Hauptgrund der europäischen Unzu- ! friedenheit fei die Weigerung der amerikanischen Regierung,
; an der Rehabilitierung Europas teilzunehmen. (House hätte j gegenüber den Großsprechereien Llemenceaus auch daran
Mit «Fug und Recht erinnern dürfen, daß nur noch Amerikas Eingreifen Frankreich gerettet habe. Wären die frischen ame- ! Manischen Truppen mit ihren mechanischen Hilfsmitteln ^ nicht Frankreich und seinen Verbündeten zu Hilfe gekommen, so würde der Krieg niemals den Ausgang genommen haben,
^ wie es geschehen ist.)
Neues vom Tage.
- Zu den Gerüchten über Unruhen in Rußland
f Sondo«, «. Asg. „Daily News" weist bezüglich der : Alarmmeldungeu aus Rußland darauf hin, daß die Tatsache E ihres rumänischen Ursprunges nicht ohne Bedeutung sei. Ge- ' neral Averescu sei im Begriff, Rom zu besuchen, um dort i wichtige diplomatische Erörterungen zu führen, die unter s anderem das bessarabische Problem berühren würden. Es ? sei keineswegs unwahrscheinlich, daß unbedeutende Unruhen s im südrussrschen Nachbargsbiet Rumäniens stattgefunden ? hätten, und der Propagandawert einer llebertreibung fol- l Her Unruhen ssi klar.