Schweres Ervveven in Chile.
Paris, 13. Nov. Nach einer Havas-Meldung hat ein schweres Erdbeben in Chile bei Cogunnbo -RIO Häuser zerstört. Das Zentrum des Bebens liegt zwischen Serena und Coguiumbo. Während des Bebens ist das Meer etwa 200 Meter landeinwärts vorgedrungen und hat in den Küstenstädten Coaiumbo. Autofagasla und Caldera großen Schaden angerichtet. Tie zerstörten Häuser wurden hauptsächlich das Opfer der Flut, die stellenweise bis zu einer Viertelmeile in das Land ern- drang. Wie aus Santiago de Chile gemeldet wird, sind bei dem Erdbeben in Coquimbo 500, in Cociapä und anderen Orten schätzungsweise 200 Menschen ums Leben gekommen. 400 Personen wurden leicht verletzt.
Aus' London wird über das furchtbare Erdbeben in Südamerika noch berichtet: Ter Umfang des Unglücks läßt sich im Augenblick noch gar nicht ermessen. Zweifellos ist, daß ganze Städte zerstört und Hunderte von Menschen getötet wurden. Das Gebiet, das von dem Erdbeben betroffen wurde, umfaßt einen Kreis von etwa 200 Kilometern rings um die Hauptstadt Santiago. Ta sämtliche Telegraphenleitungen im Lande und an der' Küste zerstört wurden, sind nur wenige Nachrichten eingetroffen, doch weiß man, daß namentlich im nördlichen Teil des Landes eine ungeheure Sturmflut, die zugleich mit dem Erdbeben auftrat, Teile der Hafenstädte förmlich weggerissen hat. In der Stadt Copiago überschwemmten die Wogen des Meeres zu verschiedenenmalen den Hafen und die niedrigliegenden Teile der Stadt und zerstörten eine große Zahl von Häusern. Von dort allein wird der Tod von über hundert Menschen gemeldet. Ter erste Stoß, der etwa eine halbe Minute dauerte, wurde in der Nacht vom Freitag auf Samstag gegen Vsl Uhr in Buenos-Aires und kürz zuvor in Santiago verspürt. Am Samstag morgen kamen dann zwischen 3.30 und 4.30 Uhr noch zwei heftige Stöße, die besonders zerstörende Wirkung im Norden von Chile, in der Gegend von Jauiaue und Autofagasta hatten.
Reichstag.
Berlin, 13. Nov.
Ter Reichstag hielt am Montag nur eine kurze halbstündige geschäftsmäßige Sitzung, da die Parteien später sofort zu Fraktionssitzungen in Sachen der Regierungsbildung zusammentraten.
Ein Antrag des Reichsministers des Innern auf Genehmigung zur Strafverfolgung der Abgg. Remmele (Komm.), Höllein (Komm.), Könen (Komm.) Tr. Moses (Soz.). Zubeil (Soz.) wegen Verhinderung von Abgeordneten bei der Ausübung ihres Mandats wird dem Ges >" tw'/dnungsausschuß überwiesen. Es handelt sich hier um die Vorgänge am Tage der Ermordung Rathenaus, als sich im Reichstagssitzungssaale vor Beginn der Sitzung einige Zwischenfälle ereigneten.
Tie geforderte Ermächtigung zur Strafverfolgung des Karl Wöbler in Oberhausen wegen Beleidigung des Reichstags wird nicht gewährt. Dagegen wird die Genehmigung zur Strafverfolgung des Abg. Bazille (T.natl.) erteilt.
Tie sozialdemokratische Jnterepellation über das Urteil im Fechrnlmch-Prozcß in München wird, wie Justizminister Tr. Radbrnch mitteilt, in der üblichen Frist beantwortet werden.
Das deutsch '-olnische oberschlesische Bergwerksabkommen wird auf Antrag des Abg. Schultz (T.natl.) einem besonderen Ausschuß von 14 Mitgliedern überwiesen. — Das Jugendgerichtsgesetz geht an den Rechtsausschutz. Das Haus vertagt sich auf Dienstag 2 Uhr. Tagesordnung: Anfragen, Aenderung der Geschäftsordnung, Interpellation Marx (Zentr.) über die. Not der deutschen Wissenschaft.
Ein Antrag Schultz (T.natl.) auf die Tagesordnung die Entgegennahme einer Erklärung der Reichsregierung zu fetzen, wird gegen die Stimmen der beiden Rechtsparteien abgelehnt. Wie der Präsident mitteilt, wird diese Erklärung erst an einem späteren Tag erfolgein
! Aus ötadt und kand.
s 14 November 1«!2.
i
r Tie Fernsprechgebührensrhökmng.
Tie Fernsprechgebühren werden vom 1. Dezem- s ber an um 1300 vom Hundert erhöht. Tre ^ vierteljährlich im voraus fälligen laufenden Gebühren i (z. B. die Grundgebühren für Haupt- und Neben- anschlüsse usw.) werden jedoch erst vom 1. Januar 1 923 an mit dem höheren Zuschlag belegt.
Vom 1. Dezember an werden u. a. erhöht: Die Einrichtungsgebühren, die Orts- und die Ferngesprächs- Gebühren. Danach beträgt die Grundgebühr für die Ueberlassung und Unterhaltung eines Hauptanschlusses vom 1. Januar 1923 an in Ortsnetzen nnt nicht mehr als 50 Hauptanschlüssen 5320 Mk., mrt mehr als 50 bis einschließlich 100 Hauptamchluften 5880 Mk., mit mehr als 100 bis 500 Anschlüßen 6440 Mk., mit mehr als 500 bis 1000 Anschlüssen
7000 Mk., mit mehr als 1000 bis 6000 Anschlüften
7840 Mk. usw.
Tie Gebühr für ein Ortsgespräch beträgt vom 1. Dezemrer 1922 an von einer Teilnehmerstelle aus
3.50 Mk. Für die Benutzung der Fernleitungen
ist vom 1. Dezember an zu zahlen: für ein Gespräch von nicht mehr als 3 Minuten Tauer bei einer
Entfernung his zu 5 Km. einschließlich 3,50 Mk.^ von mehr als 5 bis 15 Km. 10,50 Mk., bis 25 Km.
17.50 Mk., bis 50 Km. 28 Mk., bis 100 Km. 42 Mk., über 100 Km. für jede angejangenen weitere: 100 Km. 21 Mk. mehr.
Bei öffentlichen Sprechstellen beträgt vom 1. Dezember 1833 an die Gebühr für rin Gespräch von nicht mehr al» 3 Minute» Dauer im Ortsverkehr und im Fernverkehr auf Entfernungen von nicht mehr 5 Km. 7 Mark.
' Ban der HaudwerUkammer. Die Handweiktkarnrner für den württ. Schwarzwaldkieis hatte in Rmtlingen eine Festsitzung, die der besonder«n Auszeichnung ihres langjährigen ersten Vorsitzenden Karl Vollmer . Rortenburg und des früheren Syndikus Karl Hermann - Berlin gexollen hat. Schreiverobermeister Karl Vollmer - Rottenbmg wurde zum Ehrenpräsidenten und Generalsekretär Hermann-Berlin zum Ehrenmitglied der Handwerkskammer Reutlingen, der sie nahezu 15 bezw. 10 Jahre ihre Dienste als Vorstand bezw. als Sekretär und Syndikus gewidmet haben, ernannt. Der jetzt 70jährigs bisherige Kammeroorsitzrnde, dem außerdem dis vor kurzem gestiftete Ehrenurkunde der württ Handwerks und von den Har.dwe. krkamwern Stuttgart, Ulm und Heilbronn eine sinnige Festgabe überreicht wurde, trat von seinem Amt zurück. Als fein Nachfolger wurde Landtagsabgeord- nrter Flaschneroberrneister Henne- Tübingen berufen mit der Amtsbezeichnung Präfivent.
Göitelfinrr» OA. Freudenstadt, 13. Nov. Nun habe» wir wieder zwei Glocken und beide ne« und wohl zusam- meuklingend, von H. Kmtz in Stuttgart gegossen. Es war eine Freude, als sie, schon längst erwartet, am 8. Ncv. hier ankamen und acht Tage später auf dem Turme hingen, von sachkundigen, einheimische» Händen ohne Unfall hinaufbefördert. Vollend» die Einweihungsfeier am gestrigen Sonntag gestaltete sich zu einem Freudenfest. Dir Kirche war von fleißiger Hand auSgrschmückt worden; die Schulkinder der Oberklasfe hatten Gedichte auswendig gelernt, vom Singchor waren 3 Chöre eingrübt worden und vor allem war man gespannt auf die umstkalische» Genüsse, die ein L'hrer quartett unter Herrn Oberlehrer Wellers Leitung in Aussicht gestellt hatte. Kein Wunder, daß die Feier abwechslungsreich und erhebend war und die aus «ah und fern zusammsngeströmtrn Zuhörer auf ihre Rechnung kamen. Und nun läuten unsre Glocken in» Land hinein und über die Gemeinde hin, den Ruhm der amerikanischen Stifter verkündend, den» ein Teil ist von Amerika gestiftet, und wir hoffen, daß auch de« noch
Rheinlandstöchter.
Roman von Clara Nie big.
(72) (Nachdruck verboten.)
Neida schauerte zusammen, es lies ihr kalt über den Rücken. Sie fühlte, wie ihr das Blut jäh aus den Wangen wich: sie hatte nicht den Mut nach jener Loge zu blicken, mit klopfendem Herzen saß sie regungslos. Sie hätte die Hände an die Ohren pressen mögen; wenn es nur schon zu Ende wäre!
Auch Frau Rätin war es müde, sie rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her; jetzt zog sie eine Tüte Pralines aus dem Pompadour — der gute Schmolle Pflegte immer an eine kleine Erfrischung zu denken — und schob der Tochter ein paar Bonbons auf den Schoß. „Da, Nelda, iß! Das endlose Gedikdel macht einen ganz krank, ich wünschte, es wär nun zu Ende!"
Endlich der letzte Ton! Nelda fuhr aus ihrer Erstarrung auf, hastig richtete sie den Blick nach der Fremdenloge — leer — eben klappte eine Gestalt im Frack die Tür hinter sich zu.
„Nein, dieser Wagner! Gräßlich", sagte die Rätin und klammerte sich an den Arm der Tochter. Sie standen nun draußen auf der Straße und harrten ihrer Pferdebahn. »Wir könnten eigentlich gut den Groschen sparen und zu Fuß nach Haus gehen, aber mir ist der Wagner ordentlich in die Beine gefahren; ich bin auch ganz steif vom langen Stillsitzen. H—a—ah!" Sie gähnte. „Bist du auch so saputt, Nelda?"
„Ja." Die Tochter nickte mit glühenden Wangen. Sie hatte Kopfschmerzen; mit zitternden Nasenflügeln sog sie die Rachtluft ein, die war kalt und schneidend, aber rein. Ein unbeschreibliches Gemisch von Ekel, Traüer und Besorgnis machte ihr übel. Zerschlagen saß sie in der Ecke der Straßenbahn; ihr war schwindlig. Sie war froh, als sie mit .dem Wachszündhölzchen die Treppen hinaufleuchiete; sie dankte für Bier und Butterbrot, das auf einer Ecke des ^Tischtuchs im Berliner Zimmer bereit stand, und schlich fröstelnd Lu Bett.
Anfseufzend warf sie st chin die Kissen. Die Gedanken freisten wild in ihrem Kopf, Tränen stiegen brennend in ihre Augen und tröpfelten langsam nieder. Melodien auf Melodien wogten durch die enge Kammer, sie hatten viel Süßes, aber noch viel Traurigeres — jetzt verschwimmen sie ins Unklare, man hört sie aus weiter Ferne. Langsam schiebt sich drüben die kahle Wand hinter der Mutter Bett auseinander — ein grüner dämmernder Garten, von zitterndem Mondlicht beschienen — eine Bank unter üppigem Gesträuch — jetzt, jetzt lockt die Nachtigall — die Büsche schlagen zusammen, langschleppend, gleich Trauergewändern hängen sie über der Bank. Wie die Nachtigall singt, immer schmelzender, immer vergehender-!
Auf dem mondbeschienenen Rasen steht König Marke, er trägt einen Frack, sein Haar ist grau, er hält die Hände vors Gesicht. Ob er weint? Und dort, dort die zarte Gestalt mit den gerungenen Händen — die war nicht auf der Bühne, was will die hier?!-—-
„Agnes!" In Schweiß gebadet erwachte Nelda.
Drüben raschelte das Bett der Mutter. „Aber, Nelda!" Die verschlafene Stimme der Rätin hatte einen vorwurfsvollen Klang. „Wirf dich doch nicht so viel, du störst einen! Ich meine sogar, du hast mal geschrien. Hör mal, drüben der Star beim Schuster pfeift so schön! Herrjeh, schon Morgen! Der macht immer um fünf das Fenster auf — reizend — „o du lieber Augustin" — hör nur!"
Nelda tastete mit den heißen Fingern übers Gesicht und dann über ihr Kissen. Es war naß geweint — naß von Tränen um andere.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Nun war der Frühling gekommen, ein rechter Großstadtfrühling, mit dunstiger Trockenheit in den Straßen, mit mattgrünen Bäumen und Scharen von Menschen im Tiergarten. Sonntag. Zum Brandenburger Tor hinaus ergießt sich ein bunter Strom; die Charlottenburger Chaussee abwärts schlängelt sich ein Bandwurm von Straßenbahnen, DrosMen, Equipagen; dazwischen huschen Radfahrer. Am Goldfischteich auf den Steinbänken sitzen Liebespaare und harren der Dunkelheit. Draußen in der Hasenheide rasseln die Karussels fürs Proletariat.
Oranienburger Straße, drei Treppen hoch, saß Nelda Dallmer in ihrer Schlafstube. Sie mochte nicht im Berliner Rimmer sitzen, obaleich sie beute auch dort ungestört
erheblich größere Teil von dorther bezahlt wird; ade» noch mehr zu Gotte» Lob und Ehr, getreu der beiden GloSminschriste», über die der OrtSpfarrer bei Ser Feier sprach: - ,.O Land, Land, Land höre d«S Herrn Wort!" und »Aus Krieg und Not empor zu Gott!" — Die Glocken sollen auch den nächsten Sonntag, das Ernte- und Herbstdankfest, einläuten und da freuen wir uns, berichten zu können — man soll es zwar nicht an d?» große Glocke hängen, aber nur sage» es zur Nacheiferung — daß die Gemeinde nicht nur gegen 50 Ztr. Kartoffel geschenkweise nach Stuttgart geschickt hat, hauptsächlich an die Stadtmisston, sondern auch 35 Raummeter Brennholz aus die Karlshöhe bei Ludwigsbnrg. Wer macht'» nach?
* FrivVeufladt, 13. Nov. (AuSschvßfitznng des Landw. Bezirk»Vereins.) Auf Anregung des Landw. Hauptverbaride» fand vorgestern Samstag nachmittag im Gasthof zur Rose hier eine Sitzung des Ausschusses de» Landw. Bezirk »Vereins statt, zu welcher Diplomlandwirt Dr. Hummrl. Stuttgart als Referent erschienen war. Den Hauptgrgrnstaod der Tagesordnung bildete ei» eingehender, tiefgründiger Vortrag des letzteren über das gegenwärtige Wirtschaftsleben Europa» und Deutschlands und die sich daraus ergebenden Pflichten und Recht« der brutschen Landwirtschaft, wobei er besonders eingehend auf die Notwendigkeit der Steigerung aller Produktion, der Industrie wie der Landwirtschaft hinwies und auch auf die Betreibrumlage, die Kontingentierung der Vieh- autfuhr au» Württemberg, die Milchversorgung «. a. zu sprechen kam, wobei er an die Versammlung einen warmen Appell richtete, in ihren Gemeinden das ihrige dazu beiz», tragen, daß die Milchanlieferung an die BedarfSgrmeiudra sich wieder etwas hebe, auch wenn die Milchproduktion dem Rerrtabilirätsstandpuntt nicht entspreche. Allgemeinen Beifall lohnte den Redner für seine tiefernste» Ausführungen, wo> rauf der Vorsitzende die Mahnung de» Redners betr. die M'lcharilirferung kräftig um«! strich und ihm für seine lehrreichen Ausführungen den Dank der Versammlung aussprach. Im Anschluß a» das Referat wurde der Milg'isdsbeitrag von 1933 der de» Beitrag zum Landw. Hauptoerband, dem Landw. Bezirkt- und O-tSvecrin und den Preis für de» Kalender umfaßt, auf 100 Mk. festgesetzt der bei der Vn. teilrmg der Kalender zum Einzug kommen soll, während der Abonnemrntsbnlrag für das Landw. Wochenblatt durch die Obmänner vierteljährlich eingrzogrn werden soll. Beschlossen wurde für die Tübinger Studenten Hilfe im Lmfe deS November in den Gemeinden eine Sammlung von Kartoffeln, Obst und etwa auch Haber in die Wege zu leiten. Der Vorsitzende empfahl am Schluß der Versammlung dir sofortige Bestellung des F übjahrsaatgutes und ermahnte die Obmänner, zur endgültigen Gründung der schon längere Zeit geplanten Zuchtviehgenossettschaft Vorarbeiten zu treffen.
' FrrudenstaSt, 13. Nov. (Zopfabschveider.) Testern morgen wurde einem Mädchen am Stadtkahvhof von einem bester gekleideten Her u der Zopf abgeschnitten. Der Täter wurde von einem Landjäger verfolgt, konnte aber nicht mehr eingeholt werden.
js Birke» selv O/A. Neuenbürg, 13. lstov. (Auch m Zeichen der Zeit.) Anläßlich der Kirchweih erließ Joses Huffel zur Sonnenmühlewirtschafr Einladung, wobei er auch solche Gäste bewillkomme, die ihr eigenes Getränk mitbrlogen. Allerdings wurde von diesen eine sogenannte Platzgrbühr erhoben.
Stuttgart, 13. Nvv. (Die Notlage der Presse.) Der Württ. Handelskammertag hat zur Notlage der Presse eine Entschließung gefaßt, in der zunächst zum Ausdruck Kommt, daß die wirtschaftliche Notlage der deutschen Presse die ernste Aufmerksamkeit auch der wirtschaftlichen Kreise erfordert. Die württ. Handelskammern erachten es aus allgemein wirtschaftlichen Gesichtspunkt .', wie auch in Wahrung der wirtschaftlichen Interessen.
WM würde. Dem Halbdunkeln langen Raum mit der permanenten Essensluft und dem ewigen Tischtuch haftete etwas Ungemütliches an, ein „bei sich selbst nicht zu Hause, sein". Sie saß lieber in der engen Komurke; das Tintenfaß hatte sie auf die Fensterbank gestellt, die Briefmappe hielt sie auf dem Schoß. Eine sehr unbehagliche Situation zum Schreiben; sie mußte die Knie Hochziehen, damit die Mappe nicht herunterrutschte. Der schräge Sonnenstrahl huschte übers Papier, ein leichter Zugwind verwehte die Haare.
Sie hielt die Feder an die Lippen und lauschte. Drüben beim Schuster sang der Star, nicht das eingelernte Lied, das Entzücken von Frau Rätin, nein, eine einfache, kunstlose Waldmelodie. Nelda streckte, den Kopf hinaus. Der Schuster schien nicht zu Hause; drüben am Fenster hing der Käsig, der Vogel saß aufgeplustert auf der Stange. Man konnte deutlich sehen, wie trübselig er den Kopf zur Seite hing. Jetzt pfiff er schrill, und dann fuhr er wie ein dunkler Ball im Käfig auf und nieder und stieß sich den Kopf und krallte sich an die Drahtstäbe.
„Armes Tier!" murmelte Nelda. „Wenn ich doch hinüber könnte, dir das Türchen aufmachen und sagen: flieg! Ach, es würde dir nichts mehr helfen; bist schon so lang in Gefangenschaft, du kannst nicht hoch in die Lust, die nächste Katze fängt dich. Armer Vogel!" Sie senkte traurig den Kopf auf die Brust und hörte sein schrilles Zirpen mit an. „Drum fliege fort wer kanu — eh's zu spät ist", sagte sie nach einer Pause und zog die Brauen schmerzlich zusammen.
Der Hof war leer. Das Haus wie ausgestorben, alles zum Sonntag aus. Vor einer halben Stunde war Marie abgezogen, die leibhaftige Hintertreppenprinzessin, mit einem Hut aus den gebrannten Haaren, belastet von zwei weißen Federn und einem Knauf Blumen; mit dem neuen Cape für fünfzehn Mark und viel zu engen Schuhen. Sie ging mit einem, „der bei Jerson ins Jeschäft is" — das heißt, er war Ausläufer.
„Ich ziehe nu los, jnä'jes Freilein, bitte um den Hausschlüssel!" Marie war keine Schlimme, sie verlangte nur einmal in der Woche, abends, eine Besorgung für sich zu machen; alle vierzehn Tage hatte sie ihren Sonntag, und dann kam sie meistens Punkt zwölf wieder oder Ml Minuten später. „Adjö, jnä'jes Freilein", nickte sie vergnügt, ,amefier«n Se sich jutl" (Forts, folgt.)