Schwarzwälder Sonntagsblatt.

Herr zu werden, erwiesen sich als vergeblich. Von einer- gewaltsamen Niederwerfung, die angebahnt wurde, mußte man ebenfalls abstehen, da sich herausstellte, daß die Truppen der anderen Korpsbereiche ebenfalls nickt mehr zuverlässig waren und nicht auf ihre Brüder und Glaubensgenossen schießen würden. In dieser Not drangen der Großwesir, Scheik ul Islam (der Oberpriester) und andere Ratgeber in den Sultan, dein Verlangen der Jungtürken nach Wieder­herstellung der Verfassung zu entsprechen. Der Großwesir Said Pascha, genannt Kütschück derKleine", der eben erst an die Stelle des abgesetzten Ferid-Pascha getreten war (der Zufall fügte es, daß dem Großwesir Ferid-Pascha just am Tage vor seiner Absetzung die Verleihung des Schwarzen Adlerordens bekannt gegeben wurde) drohte mit seinem Rücktritt und er war doch gerade vom Sultan ernannt worden, weil er von ihm erwartete, daß er der schwierigen Lage eher als ein anderer gewachsen sein werde. So gab der Sultan nach und um Morgen des 24. Juli ging nach einem die ganze Nacht hindurch währenden Ministerrat der Erlaß hinaus, daß die Verfassung wieder in Kraft gesetzt sei. Im Anschluß daran wurden die Beschränkungen der Preß- und Versammlungsfreiheit aufgehoben und für die politischen Gefangenen wurde eine Amnestie gewährt. Das alles löste begreiflicherweise in Konstantinopel wie in den Provinzen, namentlich in Makedonien, eine große Freude aus, die sich in öffentlichen Kundgebungen Luft machte. In Konstantinopel zogen die Leute massenhaft durch die Straßen zur Pforte, unter Hochrufen auf den Sultan.

Aber die Jubelstimmung konnte doch den Zweifel nicht ganz verhindern, ob es der Sultan wirklich aufrichtig meine, oder ob er zu gelegener Zeit, wenn ihm das Messer nicht mehr an der Kehle sitzt sozusagen es nicht wieder machen werde, wie 1878. Der Sultan und die Pforte versäumen zwar nicht, feierlich zu erklären, daß die Verfassung vollständig werde verwirklicht werden, und zum Beweise dafür sind die Vor­kehrungen zur Vornahme der Wahlen und zum Zusammen­tritt des Parlaments, wofür der 1. Nov. in Aussicht ge­nommen ist, bereits getroffen worden. Aber dennoch ist Mißtrauen nicht unberechtigt.

Immerhin ist die Möglichkeit vorhanden, daß nun für die^

Türkei in ihrem jinneren Lebens bessere Tage anbrechen. Die Möglichkeit, nicht mehr. Ob sie sich verwirklicht, hängt, abgesehen von dem Verhalten des Sultans, auch davon ab, ob das türkische Volk, genauer die höhere Schicht des Volkes, reif und kräftig genug ist, sich von den neuen Rechten einen würdigen Gebrauch zu machen. Einstweilen hat jeden­falls das ganze Bälkanproblem ein vollständig verändertes Aus­sehen bekommen. Mit der makedonischen Reforinaktion, die nun schon Jahre dauert, ist es aus, und mit den: neuen großen Programm,- das England und Rußland der Welt verheißen haben, ebenfalls.

Die Mächte können^gar nichts andres tun, als zunächst einmal abzuwarten. Einer Türkei, die eine Verfassung be­kommen hat und daran gehen will, ihr staatliches Leben umzustalten und zu erneuern, können die fremden Quacksalber nicht mehr ihre Mixturen ausdrängen. Jenen, die den kranken Mann" je früher, je lieber zu Tode kuriert hätten, mag das leid tun. Wer es aber gut meint mit der Türkei und wer es gut meint mit dem Frieden, darf froh sein, daß durch die neue Wendung der Dinge die so bedrohlich heraufgestiegene Balkansrage für die internationale Lage bis auf Weiteres ihren Schrecken verloren hat. Es kann ja später wieder allerhand kommen, aber das ist eben eine spätere Sorge, heute ist heute.

Friedensschalmeien.

Es ertönen wieder unablässig Friedensschalmcien, und besonders in England bläst man emsig dieses Instrument. Man hat dort begründeten Anlaß dazu, im Allgemeinen, wie im Besondern. Den besonderen Anlaß bildet eine Rede, die Lord Cromer, der lange Jahre englischer Resident in Aegypten war und sich dort als einer der hervorragendsten Staatsmänner Englands bewährt hat, letzthin im Ober­hause hielt des Inhalts, kurz gesagt, die englische Regierung möge sich auf den europäischen Konflikt vorbereiten, der im Begriff sei, heraufzuziehen. Das hat starkes Aufsehen ge­macht, denn ein Mann wie Lord Cromer weiß, was er Jgt und gehört nicht weniger als zu den Kannegießern, san den regierenden Kreisen hat man es für notwendig be­funden, den Eindruck der Cromerschen Unkenrufe zu verwischen.

Zuerst erschien Schatzkanzler Lloyd-Georg auf dem Plan, indem er im Unterhause eine sehr schöne und vernünftige Rede hielt zum Preise der englischen Friedenspolitik und zur Bekämpfung des gegenseitigen Mißtrauens. Der Minister des Auswärtigen, Sir Eduard Grey selbst bemühte sich, am Montag in einer großen Rede über die auswärtige Lage gleichfalls Besorgnisse zu zerstreuen und die englische Politik als lediglich dem Frieden dienend hinzustellen. Alles was England getan hat und noch tut, verfolgt keinen anderen Zweck, als den Frieden zu festigen. Das herzliche Einver­nehmen mit Frankreich, das Abkommen mit Rußland über Asien und die sonstige Annäherung an Rußland, die Be­mühungen um die Reformen in Makedonien in dieser Sache will die englische Regierung nun infolge der Wendung in der Türkei abwarten kurzum alles ist lauter Friedensarbeit. England denkt nicht daran, irgend welche Interessen anderer zu beeinträchtigen, denkt namentlich auch nicht daran, irgend eine Macht das ist Deutschland zu isolieren. König Eduard selbst hat auch eine Friedenskundgebung erlassen. Er empfing eine Ab­ordnung des in dieser Woche in London tagenden inter­nationalen Friedenskongresses und richtete an diese eine Ansprache, worin er Genugtuung darüber äußerte, daß seine Bemühungen um die Aufrechterhaltung des Friedens unter den Völkern nicht fruchtlos gewesen seien, und worin er es als das schönste Ziel der Herrscher hinstellte, das gute Ein- vernehme n und die herzlich ste Freundschaft zwischen den

Nationen zu fördern. Tievollkommensten Ideale der Menschheit" zur Wirklichkeit zu machen, sei sein unaus­gesetztes Bemühen und Gebet. Mehr kann man eigentlich nicht verlangen. Denn wenn Eduard VII. für den Frieden sogar betet, hat er gewiß das AeuHerste getan, was er tun kann. Das Gebet des Königs von England in allen Ehren; aber nur würden es vorziehen, wenn er statt dessen oder daneben sich zur Förderung dervollkommensten Ideale der Menschheit" etwas anderer Mittel bediente. Seine Politik und die Politik seiner Regierung ist eben doch sehr stark daran beteiligt, daß eine rechte Friedenszuversicht nicht hat auskommeu tonnen. Wo in aller Welt ist denn der Stören­fried, gegen den Schutzmauern bis an den Himmel aufge- türiM werden müssen? Wer will denn den Frieden eigent­lich stören? England trieft von Friedensliebe, Frankreich desgleichen, Rußland dito und was sonst in Europa lebt auch. Deutschland etwa nicht? Wir haben seit beinahe 40 Jahren keinen Krieg mehr geführt, und durch die Tat. den Beweis erbracht, daß wir Frieden zu halten gewillt sind. Wenn alle Welt so unendlich sriedensliebend ist, warum dann die ungeheure Befestigungsarbeit am Frieden? Da muß doch etwas nicht stimmen. Und so ist es in der Tat; den Frieden mag, das sei zugegeben, jeder wollen. Aber jeder denkt ihn sich anders, und es gibt Leute, die sich den Frieden so eingerichtet wünschen, daß diesem oder jenem die Luft etwas knapp wird. Tie beste Friedensversicherung liegt in dem Satz: Leben und leben lassen. Wir wollen das. Über­all es andere auch wollen? Daran darf man immerhin zweifeln. Selbst wenn man in England Einkreisungs- und

Jsolierungsbestrebungen noch so weit von sich weist, die Tatsachen sprechen dagegen. Die Tendenzen, Deutschland sozusagen kalt zu stellen, sind so offenkundig geworden, als daß sie durch Gebetsanwandlungen des Königs von England hinweggetäuscht werden könnten.

Reval Nr. 2.

Der Präsident der französischen Republik, Herr Fallieres hat sich zu einer großen Staatsvisite aufgemacht, und der Minister des Auswärtigen, Herr Pichon begleitet ihn dabei. ! Zuerst galt es einem Besuch in Kopenhagen beim dänischen Hofe, dann ging es nach Stockholm zu dem schwedischen Hofe, und von dort lenkte das französische Geschwader seinen Kiel nach Reval zur Zusammenkunft mit dem Kaiser von Rußland und seiner Familie. In Dänemark, das einen Faktor in der französischen Rechnung für gewisse Möglich­keiten bildet, wurde Stimmung gemacht für den Anschluß dieses Landes an die Westmächte und eine Abwendung von Deutschland, in Schweden mußte man in dieser Beziehung etwas mehr zurückhalten, da dort zu solchen Sachen gar keine ! Neigung vorhanden ist, aber in Reval wurde natürlich das französisch-russische Bündnis als die Grundlage allen politischen Heils in Europa gefeiert. Aber es war doch ein wenig kühl und nichtssagend, denn die Zeiten des Ueberschwangs sind vorbei und man hat das russisch-französische Bündnis lange genug gekannt, um sich nicht mehr darüber in Ge­mütsbewegungen setzen zu müssen. Da war die Begegnung des Königs von England mit dem Zaren in Reval schon eine ganz andere Nummer, wobei allerdings anzumerken ist, daß der Wein aus jenen Tagen unterdessen schon einen an­sehnlichen Wasserzusatz bekommen hat.

Neueste Nachrichten. -

js Calw, 31. Juli. In Möttlingen gerieten ein Küfer und ein Gipser über die Sticheleien im Wirtshaus in eine Rauferei, wobei mit Messer und Bierflaschen gekämpft wurde, bis die Streithähne schwer verletzt am Boden lagen. h

js Münsingen, 31. Juli. Gestern wurde auf dem Truppenübungsplatz ein Soldat des 124. Ins.-Regiments vom Blitz getroffen. - Er war sofort tot. ^

js Herrenalb, 31. Juli. Der seit einigen Tagen ver- s mißte 13jährige Christian Schaible von Oberlengenhardt ;

wurde nun ermittelt. Er hat sich einige Tage lang aus l

dem Kleiu-Enzhof Herumgetrieben. i

* München, 31. Juli. Im bayrischen Landtag führten k die Ultramontanen heute einen Gewaltstreich «

gegen die Liberalen aus. Um den Liberalen die Möglich- r

keit zu nehmen, auf die heftigen Angriffe des Abg. Dr. Heim ^

zu antworten, wurde bei der Beratung der Vorlage der Gehaltsausbesserung für die Lehrer ein Antrag auf Schluß der Debatte angenommen. Hierauf gab der Abg. Casselmann im Namen der liberalen Fraktion eine Erklärung ab, daß ^

es seine Fraktion unter ihrer Würde halte, sich weiter an d e r Dis k u ss i on über dasStaats- budget mit der Me hrheitspartei zu beteiligen.

Die Liberalen verließen hierauf den Saal.

js Berlin, 31. Juli. Dj,e Kammerzofe Steger, die wegen ' des Perlendiebstahls bei der Gräfin Wartensleben sestge- nommen, aber vom Gericht entlassen worden war, ist heute auf erneuten Haftbefehl des Untersuchungsrichters in Haft ! gebracht worden.

js Paris, 31. Juni. Extrablättern zufolge sind bei dem Zusammenstoß von Streikenden und Militär in Vigneur 6 Personen getötet und 60 verwundet worden.

js Petersburg, 31. Juli. Gestern und heute sind in Astrachan 8 neue Cholerafälle vor gekommen, von denen 5 tödlich verlaufen sind. In Zarizyn waren vorgestern 6 neue Erkrankungen und 3 Todesfälle zu ver­zeichnen.' Außerdem wurden aus dem Kreis Serdolck ein i Cholerafall und aus der Stadt Samara 2 Fälle gemeldet. i

js Christiania, 31. Juli. Das französische Geschwader > mit dem Präsidenten Fallieres ist heute nachmittag i 2'/z Uhr unter dem Salut der Festung Akershus und der Kriegsschiffe hier eingetroffen. Der König fuhr aus der :

Schaluppe Stjernen unter Salm nach der Verite, um den ?

Präsidenten zu begrüßen. Kurz darauf kehrte die Schaluppe i mit dem König zurück. Nachher ging Präsident Fallieres und das Gefolge mit einer französischen Schaluppe an Land. i Er wurde von der Menschenmenge begeistert begrüßt. Der ^ König stellte die Minister, das Präsidium der Storthings und die Spitzen der Behörden vor. Nach dem Abschreiten der Front der Ehrenkompagnie fuhren die Herrschaften, von Kavallerie eskordiert nach dem Schlosse,

* London, 31. Juli. Eine in Leh (in Kaschmir) ein­getroffene Karawane überbrachte einen Brief von einem Diener Sven Hedins, worin es heißt, daß sich der schwedische ! Reisende wohlbefinde und seine Karawane in gutem Zu­stande sei. Das anhaltende Schweigen des Forschers ist da­mit freilich immer noch nicht erklärt. ^

II Konstantinopel, 31. Juli. Gestern wurden alle j gemeinen Verbrecher aus den Gefängnissen in S t a m b u l en t l as s en. !

js Konstantinopel, 31. Juli. Der bekannte Marschall j Fuad Pascha, der Sieger über die Russen bei Ellena, der vor 7 Jahren nach Damaskus verbannt wurde, kehrte aus dem Asyl zurück.