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ernsthafte Juristen keine Feinde der Prügelstrafe. Etwas wird die Gesundheit selbstverständlich durch jene Freiheitsstrafen geschädigt. Die meisten sozial- demokratischen Redakteure seien doch Arbeiter gewesen. Sollte man denn den Leuten im Gefängnis Gelegenheit geben zur Verfassung noch strafwürdigerer Schriften, als wegen deren sie sitzen. Die neuesten Vorschriften über den Strafvollzug müßten noch strenger werden. — Abg. Lenzmann (freist Vp.) meint, bei Preßvergehen seien Majestätsbeleidigungen in den allerwenigsten Fällen Ausflüsse einer ehrlosen Gesinnung, das zeige der Fall Trojan. Die Strafvollstreckung möge den Staatsanwälten entzogen werden.
— Der Präsident teilt mit, Abg. Lieber habe einen Antrag eingebracht, von dem Gehalte des Staatssekretärs 6000 Mk. zu streichen und nur 24000 M. zu bewilligen. — Abg. Lieb er (Zent.): Seine Parteifreunde seien der Meinung, daß die in der vorjährigen Resolution des Reichstages geforderte Gehaltsaufbesserung der Post- und Telegraphenunterbeamten mit der Gehaltsaufbesserung der Staatssekretäre gleichen Schritt halten müßte. Dies sei nicht geschehen. Das Reich brauche nicht zu warten, bis Preußen mit der Gehaltserhöhung vorgegangen sei. Das Zentrum sei entschlossen, die Aufbesserung der Staatssekretäre nicht eher zu bewilligen, bis der Resolution des Reichstages von der Regierung nachgegeben sei. Sollte bis zur dritten Lesung die Regierung einen Nachtragsetat für die Aufbesserung der Postunterbeamten eingebracht oder in sichere Aussicht gestellt haben, so werde das Zentrum die Gehälter der Staatssekretäre bewilligen.
— Staatssekretär Frhr. v. Thielmann erklärt, von einer allgemeinen Aufbesserung aller Unterbeamten seitens der Regierung fei in der Kommission nicht die Rede gewesen, sondern nur von einer ausgleichenden Aufbesserung der einzelnen Kategorien. — Abgeordneter Langerhans (freist Vp.) kommt auf die Jrrenfrage zurück. Eine Parteilichkeit der Irrenärzte sei kaum anzunehmen. —Abg. Auer (Soz.) wendet sich gegen die Ausführungen des Abg. v. Stumm. Es handle sich nicht nur um sozialdemokratische Redakteure und auch der Abg. Frhr. v. Stumm sei von dem Strafrichter nicht verschont geblieben, aber freilich sei dem Abg. v. Stumm bei seinem Einfluß die Begnadigung immer sicher. Nach weiteren unwesentlichen Debatten wird der Titel Staatssekretär abgelehnt und der Antrag Lieber angenommen. Nächste Srtzung Donnerstag.
Lanvesnachrichten.
* Alten steig, 3. Febr. Für unseren auf die erste Stadtpfarrstelle in Sindelfingen beförderten Herrn Stadtpfarrer Hetterich fand Mittwoch abend im „Stern" eine Abschiedsfeier statt. Einladung hiezu hat unser Stadtvorstand, Hr. Welker, ergehen lassen. Durch die zahlreiche Beteiligung und die Zahl der Ansprachen, in welchen der vielen Verdienste unseres seit mehr denn 10 Jahre im Segen hier wirkenden Herrn Stadtpsarrers gedacht wurde, ge- staltete sich dis Feier zu einer erhebenden Kundgebung der Dankbarbeit, Liebe und Verehrung für den scheidenden Herrn. Hr. Stadtschultheiß Welker griff zuerst zum Wort um im Namen der Stadtgemeinde und der bürgerlichen Kollegien den besten Dank auszusprechen für die aufopfernde vielseitige Wirksamkeit und für
konnte: die Sorge, — die drückende Sorge um das tägliche Brot. Ein tiefes Weh ergriff sie und ließ sie erzittern. Wenn er Not litte! Wenn er wirklich
darbte!-Sie preßte das Tuch an beide Augen,
und ganz leise klang es wie eine Stimme des Gewissens in ihr empor, wie ein quälender Vorwurf, daß auch sie mit schuldig sein könnte an seinem Unglück.
Dann aber raffte sie sich auf. Das ertrug sie nicht. Klarheit mußte sie haben. Und sie notierte sich schnell die Firma, die das Reklameblatt hatte Herstellen lassen. Dort würde sie das Nähere wohl erfahren.
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Zwei Stunden später ist sie in seinem Atelier, einem engen dumpfen Raum in einer Vorstadtgasse.
Prüfend sieht sie sich um. Alles spricht dafür, daß die Bewohner in großer Dürftigkeit leben. Ein Schaudern durchfährt sie, fast ist sie dem Weinen nahe.
Als er dann eintritt und sie erkennt, steht er wie gebannt und starrt sie an.
Da tritt sie ihm beinahe schüchtern entgegen und reicht ihm die Hand hin. „Guten Tag, Herr Lechner."
Aber nur zögernd und undeutlich erwidert er ihren Gruß, und starrt sie noch immer an, mit demselben großen Blick, wie damals, als sie geschieden waren'
Eine peinliche Pause tritt ein: Dann beginnt er mit kalter Höflichkeit:
„Womit kann ich Ihnen dienen, gnädige Frau?"
alle Liebe undGüte, welche derHerr Stadtpfarrer auch im persönlichen Umgang erwiesen habe. Herr Stadtschultheiß drückte die besten Segenswünsche für den scheidenden Seelsorger und seine Familie aus und schloß mit einem Zfachen Hoch auf Herrn Stadtpfarrer. Hr. Apotheker Schiler brachte den Dank und die Glückwünsche des Kirchengemeinderats zum Ausdruck. Herr Kameralverwalter Schmidt schilderte die amtlichen und privaten Beziehungen in anerkennenden Worten und hob hervor, daß wir in Hrn. Stadtpfarrer ein gut Stück Poesie, einen guten mit reichem Wissen ausgestatteten Gesellschafter verlieren. Herr Schullehrer Gehring setzte auseinander, wie viele Mühe und Arbeit das Amt eines Ortsschulinspektors mit sich bringt, mit welcher Pflichttreue Hr. Stadtpfarrer diesem Amt vorgestanden, welche Sachkenntnis er gezeigt und von welchem Wohlwollen er den Lehrern gegenüber beseelt gewesen sei. Herr Präzeptor Dc. Wagner hob hervor, welch' ersprießliche Dienste Hr. Stadt- Pfarrer der Lateinschule geleistet habe. Bei Beratung der schultechnischen Fragen habe Hr. Stadtpfarrer nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen seinen Mann gestellt. Herr Phil. Maier sen. dankte Hrn. Stadtpfarrer im Namen des Gewerbevereins für den Eifer und Wärme, mit welcher er sich des Gewerbevereins und namentlich der gewerblichen Fortbildungsschule angenommen Habs. Herr Oberförster Weith erinnerte daran, daß der Hr. Stadtpfarrer ein reges Mitglied des Schwarzwaldvereins gewesen sei; das Vereinsblatt habe er mehrmals mit sinnigen Gedichten geschmückt und darin seine Liebe zum Tannenwald niedergelegt. Dem Kriegerverein habe Herr Stadtpfarrer immer willfähig seine Unterstützung geliehen und sich in jeder Hinsicht als echter Patriot erwiesen. Sämtliche Redner schlossen mit den besten Glückwünschen für Hr. Stadtpfarrer nnd seine Familie und mit „der Versicherung ihm nnd der Familie ein treues Andenken bewahren zu wollen. In seiner Erwiderung dankte Herr Stadtpfarrer für die gewordene Anerkennung auf's herzlichste und betonte dabei, so viel sei es nicht gewesen, was ec geleistet habe: jedoch sei ihm stets seine Verantwortung vor der Seele gestanden und er habe sich bestreben wollen, dem ihm anvertrauten Posten nach bestem Können zu genügen, damit ihm nicht nachgesagt werde, es sei auch einmal Einer dagewesen, sondern damit es von ihm heißen solle: Es war Ein er da! Wenn seine Arbeit auch nur eine geringe segensreiche Spur hinterlasse, so sei ihm das der beste Dank. Auf alle Ansprachen kam Hr. Stadtpfarrer zurück und erwiderte in verbindlichster Form. Unter dem Ausdruck der besten Wünsche für das fernere ersprießliche Zusammenwirken von Kirche und Staat, für das Gedeihen der Schule und das Blühen des Gewerbes und namentlich aber für das Wachsen Altensteigs, damit es sei und bleibe das, wozu es berufen ist: eine Perle des Schwarzwaldes — trank Herr Stadtpfarrer auf das Wohl von Altensteig, dem er ein unauslöschliches Andenken bewahren werde. Be! der Feier hatte der Kirchenchor mitgewirkt und von den zahlreichen mit großem Beifall aufgenommenen Gesängen hat das Lied: „Ade, du lieber Tannenwald" recht kräftig zum Gemüt gesprochen. Auch Sänger des Liederkranzes vereinigten sich, sangen ein Doppel-Quartett und
Bittend, hilflos sieht sie ihn an. Seine Worte treffen sie wie ein Stich, und zitternd sagt sie: „Weisen sie mir nicht die Thür, Heinz, hören Sie mich erst an.
Schweigend stellt er ihr einen Stuhl hin.
„Heinz, — ich komme um abzubitten, was ich Ihnen dereinst gethan habe."
Mit bitterem Lächeln fragt er: „Soll ich Ihnen vielleicht noch dafür danken, Frau Baronin, daß Sie sich in Ihrem Glück meiner erinnern?"-
„O Heinz, ich bin nicht glücklich, bin es nie gewesen!" — Die Thränen traten ihr in die Augen.
„Sind Sie nur gekommen, um mir das Zusagen?"
„Ich bin gekommen, Heinz, — um Ihnen zu helfen."
„Ich bedarf Ihrer Hilfe nicht, Frau Baronin."
„Sie dürfen mich nicht abweisen, Heinz! Wir alle sind ja nur Menschen. Und ich stehe als Bereuende vor Ihnen."
Mit einem langen, ernsten Blick sah er sie an. Dann begann er: „Sie bereuen? Was bereuen Sie denn? Daß Sie mich damals zurückstießen? Das ist zu spät . . . Hier, sehen Sie mich an, wie ich hier vor Ihnen stehe, sehen Sie sich bitte nur um, hier drinnen, — das alles haben Sie allein aus mir gemacht!"
„Heinz!" Es klang wie ein Schrei.
„Ja, Frau Baronin, Sie allein! Das bessere Selbst in mir, der Künstler, dem einst die Welt zu eng war, der ist tot, längst begraben, — der, den Sie hier sehen, ist nur noch der Handwerker, der für das elende tägliche Brot seine Karrenarbeit thut."
Stumm, mit thränenvollen Augen, sah sie ihn an.
fanden damit dankbare Anerkennung. Den vielen guten Wünschen, welche zum Ausdruck kamen, schließen wir uns ebenfalls an mit dem Rufe: Möge der von uns scheidende Herr Stadtpfarrer in Sindelfingen ein von Gott gesegnetes Arbeitsfeld finden und möge er und seine Familie sich steter Gesundheit erfreuen. Ein gutes Andenken bleibt Herrn Stadtpfarrer Hetterich, dessen Weggang hier tief bedauert wird, gesichert.
* Altensteig, 4. Febr. Mit der Milde, mit welcher der Winter während der vergangenen zwei Monate aufgetreten ist, hat der Hornung vollständig gebrochen, am Lichtmeßfeiertag stellte sich ein heftiger Weststurm ein, der den Regen in Strömen niever- peitschte, abends schneite und regnete es durcheinander und nachts ging der Regen vollständig in Schnee über. Der Sturm heulte fürchterlich, auch gestern und heute nacht tobte derselbe gewaltig nnd es herrschte ein Schneewehen, der den Gang ins Freie fast unmöglich machte. Der Verkehr wurde hiedurch wesentlich beeinträchtigt, namentlich konnten die Posten kaum durchkommen; sie trafen mit erheblichen Verspätungen ein. Unser Landwirt freut sich über die Schneedecke, welche für die Saaten einen guten Schutz bildet und es wäre zu wünschen, daß sie nicht zu bald wieder verschwindet.
* (Bad Tein ach.) Die Verhaftung des Badbesitzers Ludw. Bauer erfolgte nicht, wie gemeldet wurde, wegen betrügerischen Bankerotts, wegen dessen er allerdings auch in Untersuchung steht, sondern zur Sicherung der Masse auf Grund des Z 93 der Konkursordnung und zufolge Antrags des Gläubigerausschusses, da Bauer gedroht hatte, er werde, wenn sein Hotel verkauft werde, die Quellen zum Versiegen bringen. Inzwischen ist am 1. ds. die Uebergabe des Anwesens an den Kautet erfolgt.
* Calw, 1. Febr. Vorgestern wurde in einer im Gasthaus „zum Schwanen" hier stattgefundenen Versammlung der Nago'.d-Gau-Sängerbund gegründet, nachdem schon im Jahr 1897 die Gründung in zwei Versammlungen vorbereitet worden war. Zum Bundesvorstand wurde Kaufmann Dlngler hier, zum Schriftführer Lehrer Holderle-Unterreichenbach und zum Kassier Bäckermeister Lutz hier gewählt. Bis jetzt haben sich 10 Vereine des Nagoldthals und der nächsten Umgebung dem Bunde angeschlossen, nämlich die Vereine Konkordia-Calw, Freundschaft-Unterreichenbach, ferner die Gesangvereine in Altburg, Oberkollbach, Bieselsberg, Hohenwarth, Hirsau, Wildberg, Emmingen und Effringen. Die erste Hauptversammlung findet im Frühjahr in Wildberq statt. In dem neu gegründeten Banse soll der Volksgesang gepflegt und nach den Statuten auch der Wettgesang eingeführt werden.
* Vom Lande, 2. Febr. Es herrscht noch große Unkenntnis hinsichtlich der Bestimmung, die Rückforderung gezahlter Beiträge der Jnvaliditäts- und Altersversicherung betreffend. Eine Ehefrau, deren Mann stirbt, welcher in seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer bis zu seinem Tode mindestens 331 Beitragswochen gezahlt (geklebt) hatte, kann die Hälfte der gezahlten Beiträge von der Versicherungsanstalt zurückverlangen. Für manche der Hinterbliebenen ist der zur Auszahlung gelangende Betrag eine recht willkommene Unterstützung. Auch Kinder unter 16 Jahren haben, sofern die Mutter nicht mehr lebt Anspruch darauf.
„Damals, Frau Baronin, wären Sie damals mein geworden, ich Hütte die Welt mir unterthan gemacht. Ich wollte ja nur Sie, Sie allein, nicht Ihre Millionen! — Sie aber hatten Ihre Blicke höher gerichtet. Rang und Titel galt Ihnen mehr, als die Liebe eines ehrlichen Menschen!"
„Nicht weiter, Heinz", flehte sie. „Sie thun mir unrecht ..."
Er aber fuhr unerschüttert fort: „Nein, jetzt sollen Sie erst alles hören, was ich Ihnen verdanke, denn einmal muß ich Ihnen das alles sagen! . . . Damals, als ich von Ihnen rannte, da hielt es mich hier nicht länger — ich fuhr in die weite Welt hinein, nur fort, fort, nur alles vergessen; — ich wollte arbeiten, all meinen Schmerz in meine Kunst einsargen, — aber ich konnte nichts mehr, wie gelähmt war die Hand, umsonst war alles ... Da fing ich an zu sieben' — von Genuß zu Genuß, einen Taumel wilder Orgien — nur vergessen! — So wurde ich schlecht, ja, gemein wurde ich! ... Alles das erkannte ich und doch hatte ich nicht den Mut, diesem Jammerleben ein Ende zu machen. Und da eines Tages fand ich ein armes müdes Weib, das gleich mir vom Leben betrogen war, und dieses Weib lernte mich lieben und führte mich wieder zurück an die gute ehrliche Arbeit. Zum Dank dafür — habe ich sie geheiratet. . . . Und nun, Frau Baronin, nun arbeite ich für das tägliche Brot, was man immer bei mir bestellt, Plakate und Schilder und Illustrationen, — alles mache ich, um mein Weib und mein Kind zu ernähren."