10^6

Die Fortschrittliche Volkspartei, sagte er, kämpfe in erster Linie gegen denschwarz­blauen Block", aber nicht um diesen durch einen schwarzroten zu ersetzen. Für sie handle es sich darum, daß der bürgerliche Liberalis­mus so stark im Reichstage vertreten sei, daß er sich die ihm zustehende Geltung verschaffen könne.

Untertürkheim 24. Okt. Auf dem hiesigen Ellterbahnhof wurde heute früh ein angeblich aus dem Oberamt Freudenstadt stammender junger Mann, dessen Persönlich­keit noch nicht näher ermittelt ist, der aber Finkbeiner heißen soll, v o in Zuge über­fahren. Dem Unglücklichen wurden beideFüße vom Leibe getrennt, ferner hat er an einer Hand schwere Verletz­ungen erlitten.

Berlin 24. Okt. (Reichstag.) Am Bundesratstisch die Staatssekretäre Delbrück, Wermut h, Lisko, Schor- lemer und Unterstaatssekretär Man­sch affe. Der Präsident eröffnet die Sitzung um 1 Uhr 20 Min. Die Besprechung der Interpellationen über die Lebensmittel­und Futterteuerung wird fortgesetzt. Abg. Fuhrmann (natl.): Wir lehnen es ab, bei der Besprechung der Teuerung uns von agitatorischen Gesichtspunkten leiten zu las­sen. Ich hätte gewünscht, daß der herrschen­den Not gegenüber der Reichskanzler den Ton gefunden hätte, der für einen leitenden Staatsmann einem Notstand gegenüber ge­hörte. (Sehr wahr bei den Nationallib.). Der Reichskanzler betritt den Saal. Es ist nicht zu leugnen, daß der radikalen Groß­stadtpresse mit ihren Hetzartikeln ein großer Teil der Schuld an der Teuerung zuzuschrei­ben ist. Das System der Einfuhrscheine auf­zuheben, würde sehr schwierig sein. Der Frage der Einschränkung der Einfuhrscheine ! gegenüber sollte die Negierung eine entschlos- j senere Haltung einnehmen. Wir sind nicht gewillt, an dem Zollschutz für unsere Land­wirtschaft zu rütteln. Die Zulassung von argentinischem Fleisch ist zu erwägen. Am schwersten leiden unter den Teuerungsver­hältnissen die Festbesoldeten. Auch wir stehen auf dem Boden des Schutzes der na­tionalen Arbeit. Bedauerlicherweise ist der Bund der Landwirte von Herren geleitet, die bei den Konservativen sitzen. Das hat zum Ueberagrariertum geführt und die Ueberagrarier sind die gefährlichsten Feinde unseres Schutzzolles. (Sehr richtig.) Höf­fel (Reichspartei): Wir bedauern die gegenwärtige Preissteigerung, namentlich im Interesse der Festbesoldeten und hoffen, daß die Regierung ihrerseits das Erforderliche tun wird, um dem Notstände zu begegnen. Von der letzten Oeffnung der französischen Grenze hat Elsaß-Lothringen so gut wie nichts gespürt. Die Eetreideergiebigkeit in Deutschland hat sich im letzten Jahre erheb­lich erhöht. Die Kleinbauern wissen ganz genau, daß die Durchführung der sozialdemo­kratischen Forderungen ihre Existenzlosigkeit bedeuten würde. (Beifall rechts.) Land­wirtschaftsminister Freiherr v. Schor­le m e r: Gegenüber der sozialdemokratischen Entstellung, daß es sich um eine Hungersnot handle, fällt es schwer, den richtigen Ton zu finden und die Ruhe zu bewahren. Die nicht zu leugnende Dürre hat so spät eingesetzt, daß zwar ein großer Futterman­gel zu konstatieren ist, eine Mißernte ist jedoch nur bei Zuckerrüben zu verzeichnen. Der Ruf von einer schlechten Ernte hat die hohen Preise bedungen. Der Handel hat sich das Teuerungsgeschrei zunutze gemacht, und dazu hat namentlich die liberale Presse bei­getragen. (Lebh. sehr richtig rechts, große Unruhe links.) Ein dauernder Nachteil der sommerlichen Dürre ist nicht zu befürchten. Trotzdem haben die preußische Staatsregie­rung und fast alle Bundesregierungen sich entschlossen, dem Mangel an Futtermitteln durch erhebliche Frachtermäßigungen abzu­

helfen. Das bedeutet einen Einnahmeaus­fall für Preußen von 1015 Millionen Mark. Dieser Notstandstarif kommt nicht der Landwirtschaft oder den Konsumenten, sondern dem Handel zugute. Die Preise für Roggen und Weizen in den Jahren 1907 sind höher gewesen. Ueber die Frage der Beseitigung der Einfuhrscheine reden viele Leute, die keine Ahnung davon haben. (Sehr richtig rechts.) Der Ausfall an Roggen hat keineswegs, wie behauptet wird, in diesem Jahre einen besonders bedenklichen Umfang angenommen. Eine Aenderung des Ein­fuhrscheinsystems würde dem Osten schaden, ohne dem Westen zu nützen. Gegen eine Herabsetzung der Geltungsdauer von sechs auf drei Monate habe ich nichts. Trotzdem der Fleischbedarf ständig zugenommen hat, hat die deutsche Landwirtschaft auch in die­sem Jahre bei geringem Verdienst und unter schwierigen Verhältnissen den Bedarf decken können. Ich bin an die Kommunen heran­getreten, ob es nicht möglich sei, mit den Fleischermeistern zu verhandeln und even­tuell den direkten Verkauf an die ärmere Bevölkerung in die Hand zu nehmen. Da­mit habe ich mich in ein Wespennest gesetzt. So ganz unschuldig, wie sie es darstellen (Herr Kobelt mag es mir nicht verübeln) sind die Fleischermeister nicht. (Heiterkeit.) Weshalb verteuert man das Schweinefleisch, das namentlich von der ärmeren Bevölke­rung konsumiert wird, mehr als Rinder- und Kalbfleisch? Was ich herbeiführen wollte und auch wohl noch herbeifllhre, ist ein Preis­regulator. Wenn wir den erreichen, so bin ich überzeugt, daß wir alles getan haben, um der wirklich vorhandenen Teuerung ent­gegenzutreten, und daß wir mit Ruhe ohne allzugroße Sorge in die Zukunft blicken kön­nen. (Beifall rechts.) Vogt-Crailsheim (wirtsch. Vgg.): Eine Aufhebung des Schutz­zolls und der Grenzsperre ist nicht angängig. Auch die Einführung des minderwertigen argentinischen Fleisches ist nicht zu empfeh­len. Allenfalls zuzustimmen wäre einer Aenderung des Einfuhrscheinsystems. Hil­pert (wildkons.) tritt für die Aufrechterhal­tung der Einfuhrscheine ein. Dr. Heim (Zentr.): Reformen erheischt die Organisa­tion des Milchhandels. Die Viehhaltung ist intensiv gewachsen. Heute wirkt ein klei­ner Ausfall an Futtermitteln ganz anders als vor Jahren. Die Lebensmittelteuerung ist international. Bezüglich der Vodenpro- dukte kann ich eine Teuerung nicht zugeben mit Ausnahme von Gemüsen. Unzweifel­haft besteht eine intensive Spannung zwi­schen den Ankauf- und den Verkaufspreisen für Fleisch, die seit 20 Jahren immer stärker geworden ist. Im Namen der großen Mehr­heit meiner Partei konstatiere ich, daß wir nicht gesonnen sind, einen Stein aus unserem Wirtschaftssystem herauszulösen. Wir müs­sen aber Rücksicht nehmen auf die gegebenen Verhältnisse, und es kann der Zeitpunkt kom­men, wo wir an einen Abbau unseres Zoll­systems gehen können. Wenn die Bevölke­rung nicht 90 Pfennig für das Pfund Fleisch zahlen kann und argentinisches Fleisch für 60 Pfennig verlangt, so muß man ihr dieses Fleisch zur Verfügung stellen. Staatssekre­tär W e r m u t h spricht sich entschieden gegen jedes Provisorium aus, das der Landwirt­schaft und der Reichskasse schädlich sein würde. Wollen Sie jetzt kurz vor der Gesundung der Reichsfinanzen ihr wieder den Boden ent­ziehen, ohne Ersatz zu schaffen. Es handelt sich um einen Ausfall von vielen Millionen. Hierauf wird die Weiterberatung auf mor­gen 1 Uhr vertagt. Außerdem Rechnungs­sachen.

Bern 24. Okt. An einer Sendung von Barrengold von London an die Schweizerische Nationalbank in Bern ist unterwegs ein Diebstahl verübt worden. Von den 8 Goldkisten enthielt eine bei ihrer Ankunft statt der bestellten drei Goldbarren im Werte von 130 000 Francs

wertlose Vleibarren. Die Entwendung ist offenbar sorgfältig vorbereitet worden, da die Verpackung keine Spur von Gewalt zeigt und die Bleibarren für den Diebstahl beson­ders gegossen zu sein scheinen. Der Diebstahl ist vermutlich in London ausgeführt worden. Der Schweizerischen Nationalbank selbst er­wächst kein Schaden.

Peking 24. Okt. General Pingtschang, der noch bei Senyangtschang steht, berichtete in einer Botschaft an die Regierung, daß die Revolutionäre 400 Geschütze besäßen und daß er sich zu einem weiteren Vorrllcken nur verstehen könne, wenn er noch weitere Artillerie, Munition und Geld zur Bezahlung der Truppen er­halte. Die Revolutionäre werden offen­sichtlich von Tag zu Tag stärker. Amtliche Berichte aus Nanking, Wuhu und Kiukiang besagen, daß an allen diesen Orten die Be­völkerung außerordentlich unruhig ist. Die öffentliche Meinung in Nordchina steht im allgemeinen auf Seiten der Revolutionäre. Sianfu, das als eine Hochburg der Dynastie galt, ist zu den Aufständischen übergegangen. Die Regierung ist bemüht, der Bitte Pingt- schangs nachzukommen. Ueber Feindseligkei­ten liegen keine weiteren Berichte vor.

Der italienisch-türkische Krieg.

Rom 24. Okt. Wie derAgenzia Ste- fani" aus Benghasi gemeldet wird, sahen sich die italienischen Truppen bei ihrer Landung einer feindlichen Streitmacht von nicht weniger als 500 oder 600 regulären Soldaten, die durch 4000 oder 5000 Araber verstärkt waren, gegenüber. Die Verluste der Türken und insbesondere der Araber waren bedeutend. Die Zahl der Toten be­trägt etwa 400. Die Angaben über die Zahl der Verwundeten schwanken zwischen 800 und 1200. Die Verluste der Feinde würden noch größer gewesen sein, wenn nicht der An­bruch der Dunkelheit seine Flucht in das In­nere des Landes begünstigt hätte. In der Stadt blieben während der Nacht nur sehr wenig Menschen zurück, die die Toten bestat­teten und die Verwundeten fortschafften. Daraus erklärt sich auch, daß die Italiener am andern Morgen, als sie die Stadt besetz­ten, fast keinen Widerstand fanden. Die Lage bessert sich sowohl in Benghasi, wie in der nahen Umgebung. Fortgesetzt kommen arabische Stammeshäuptlinge hier an, um ihre Unterwerfung anzubieten.

Rom 24. Okt. DieAgenzia Stefani" bezeichnet die türkischen Meldungen über an­gebliche schwere Verluste der Italiener in den Kämpfen um Benghasi als übertrieben. Sie gibt die Verluste der Italiener in dem Kampfe um Benghasi an Toten und Verwun­deten auf 109 an.

Vermischtes.

(Der Präsident der türkischen Kammer an denVorwärts.") A ch m e d R i z a, der Präsident der türkischen Kammer, sandte dem BerlinerVorwärts" folgendes Schrei­ben:Konstantionpel, den 16. Oktober. Bei dem gegenwärtigen Tripolisabenteuer ist Italien der einzige Schuldige; die anderen Mächte sind seine Komplizen, denn der Anschlag gegen die Türkei war von den Mächten vorbereitet. Europas Vertre­ter packen uns an der Kehle und sagen: Fügt euch erst in die Okkupation als eine vollendete Tatsache, dann wollen wir euch helfen, die Sache zu regeln." Diese unbegreif­liche Haltung Europas schmerzt uns um so mehr, als der Verlust von Tripolis, wenn wir es verlieren sollten, im ganzen Orient Mißtrauen, Verzweiflung und Abscheu er­zeugen muß. Es würde kein Vertrauen mehr in die Zivilisation vorhanden sein, keines in das gegebene Wort, keines in die Verträge, die Europa unterzeichnet hat. Dieser Wider­spruch zwischen Wort und Tat erscheint den Augen der Orientalen als Majestätsver-