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Augenblick mit Wichtig- und Geheimnistuerei hinzuhalten? Natürlich versieht heute diese Geheimnistuerei jeder Mensch: man gesteht nicht gern totale Unfähigkeit und Kleinlichkeit ein, solange es nicht unbedingt sein muß, namentlich dann nicht, wenn man sich selbst an die Spitze von Truppen gestellt hat, die an sich schon berechtigte Zweifel in eine« auch nur einigermaßen befriedigenden Ausgang der Sache gesetzt hatten. Da ist's die schlotternde Angst vor der Blamage, dort die Furcht, eine Mandarinenfeder ausgerupft zu bekommen, anderswo die Scheu, sorgsam gehütete Karten aufzulegen, die also in „höchsteigenem" Auftrag handelnde Herren sich gegenseitig „ehrenwörtlich" Stillschweigen — namentlich gegenüber der bösen Presse — geloben, sie von Tag zu Tag auf de« äsus «x waedma hoffen und im übrigen sich in kleinlichen Zerrereien kostbare Zeit vertrödeln läßt. — Der „Beobachter" schreibt: Die Kandidatur Lautenschlager ist nun von seiner eigenen Partei «ach der definitiven Beseitigung der Kandidaturen Bazille und Mülberger durchgedrückt und offiziell mit Unterstützung der konservativen Partei publiziert worden. Schon da« deutet die Stellung des Kandidaten Lautenschlager an: er ist ein nach rechts gravierender Deutschparteiler der Merkurial-Sorte. Daß seine Kandidatur jeder Zugkraft entbehrt, hat sein Auftreten im Festsaal, der Liederhalle gezeigt. Die „Programmrede" ohne jede programmatische Zusammenfassung und in Kleinlichkeiten sich peinlich verlierend, dabei wichtigste Momente gänzlich übersehend — wie z. B. die Fragen de» Handwerks und der Arbeiterschaft — hat die ganze rednerische Hilflosigkeit dieses Kandidaten ge-
offenbart.Dazu kommt die gewalttätige
Haltung der Führung der Deutsche» Partei Stuttgarts. Während die Volkspartei unter drei oder vier Kandidaten, die nicht zu ihrer Partei gehören, die freie Auswahl ließ, stellte sich den Besprechungen der bürgerlichen Parteien der Führer der Nationalliberalen schroff auf den Standpunkt: Lautenschlager und sonst niemand. Dabei fiel der VolkSpartei gegenüber sogar der Ausdruck: „Vogel friß oder stirb!" Daß eine solche Gewalttätigkeit ohne die nötige Einsicht eine Kompromißverhandlung nicht fördern konnte, liegt auf der Hand. Selbst die Vertreter der anderen Parteien scheinen das gefühlt zu haben, und so hat sich bis jetzt auch das Zentrum der Diktatur der Deutschen Partei nicht unterworfen. Diese — wäre sie nicht von allen guten Geistern bei den Verhandlungen verlassen gewesen — hätte sich doch sagen müssen, daß eine gewaltsame Aufoktroierung eine» einseitigen Parieiwillen», dem jeder gute und stichhaltige Grund fehlte, doch nicht die Freudigkeit und die
gemeinsame Entschlossenheit erzeugt hätte, die nötig gewesen wäre, um den auf den Schild erhobenen Kandidaten gegenüber der Einheitlichkeit der Sozialdemokratie durchzubrmge». Dabei ist noch zu beachten, daß die Deutsche Partei in den Vorberatungen ausdrücklich erklärte: wenn die Sozialdemokratie für Keck eintrete, würde auch sie — die Deutsche Partei — diesen Kandidaten akzeptieren. Mit der Sozialdemokratie wäre also die Deutsche Partei für Keck eingetreten, ohne die Sozialdemokratie und mit der VolkSpartei aber nicht! das ist ungemein bezeichnend ! Das Blatt schließt seine Ausführungen kurz und bündig: „Wenn die Sozialdemokratie nun leichtes Spiel hat, so — das muß mit aller Bestimmtheit betont werden — trifft die Schuld einzig und allein die Nationalliberale Partei Stuttgarts, die ihre Parteiinteressen den Interessen der Gesamtbevölkerung voranstellte." — Das „Deutsche Volksblatt" schreibt: Dr. Lin dem an« hat die sozialdemokratischen Parteigrundsätze und -Beschlüße als auch für ihn geltend anerkannt, damit ist — wenn auch die Erfüllung der RepräsentationSpflichten gegenüber dem Hofe in Aussicht gestellt wurde — auch vollständig auigeschloffen, daß Dr. Lindemann von der Regierung die Bestätigung erhalten kann. Wenn deshalb das Neue Tagblatt erzählt, ein sozialdemokratischer Parteigenosse habe vorher bei der Regierung sondiert, ob Hr. Lindemaun im Falle seiner Wahl bestätigt würde, und die Antwort des Herr» v. Pischek habe nicht ablehnend gelautet, so können wir diese Nachricht nur als einen Versuchsballon ansehen. Denn für die Kgl. Württ. Regierung muß und wird e» ausgeschloffen sein, einen ausgesprochenen Anhänger der Umsturzpartei und Gegner der Monarchie als Stadtvorstand der Haupt- und Residenzstadt Stuttgart zu bestätigen. Eine allenfallsige Bestätigung würde einem schweren Verrat an der Monarchie, einer völligen Auslieferung der staatlichen und monarchischen Interessen an die Umsturzpartei gleichkommen. Gegen ein solches Vorgehen einer königlichen Regierung müßte» alle wahrhaft staatstreu Gesinnten laut und energisch Einspruch erheben. Niemals wird darum eine Regierung es wagen können, einem König die Bestätigung eine» Mamner zum Oberbürgermeister seiner Haupt- und Residenzstadt vorzuschlage», der in gleicher Weise die Monarchie wie die staatliche und gesellschaftliche Ordnung bekämpft.
Stuttgart 9. Mai. (Die Margarinevergiftungen.) Da» Medizinalkollegium hat fistgestellt, doß in den Margarinemarken, die sämtlich au» der Margarinefabrik I. Mohr und Cie. in Ottensen-Altona herstammten und die Marke „Luisa" oder „Frischer Mohr" trugen,
sich ein Zusatz befand, der in seine» physikalischen Eigenschaften von den in sonstigen Margarinen des Handels verwendete» Fetten abweicht, und daß in ihnen, mindestens zeitweise, Stoffe enthalten waren, welche geeignet sind, Tiere und deshalb wohl auch Menschen krank zu mache». Ei» staatliches Eingreifen hält das Medizinalkollegium nicht für notwendig, da die Margarineindustrie, durch die gemachten Erfahrungen vorsichtiger geworden, sich wohl hüten werde, zur Herstellung ihrer Ware andere als ihnen nach Herkunft und Beschaffenheit wohlbekannte Fette zu verwenden. Bekanntlich waren in den Monaten Dezbr. und Januar angebliche Margarine- vergiftunge» von 41 Personen aus 7 Ortschaften bekannt geworden. Bei den Erkrankten zeigte sich meist Uebelseiv, Erbreche», Leibschmerzen, Durchfall oder Verstopfung, die Erkrankten sind alle bald wieder genesen. In einem Falle, der sich in Waldenbuch zutrug, soll der Tod infolge des Margarinegenusses eingetreten sein. Der Fall ist in gerichtlicher Behandlung.
Stuttgart 9. Mai. (Aus den Kommissionen.) Der Ausschuß für innere Verwaltung beschäftigte sich heute mit der Eingabe des Volksbundes zur Bekämpfung des Schmutze» in Wort und Bild. Berichterstatter Hoffmeister stellt nach längere» Ausführungen, in denen er betont, daß die Jugend vor dem Schmutz in manche» Schaufenstern geschützt werden müsse, den Antrag: Dir Zweite Kammer wolle beschließen, die Eingabe der K. Regierung zur Erwägung zu überweise», insoweit sie die Kinematographen- frage, sowie das öffentliche Aukstellen von unsittliche« Bildern und Schriften betrifft, die keinen wissenschaftliche» oder künstlerischen Wert habe»; soweit sich die Eingabe auf die Mutoskope bezieht, sie der K. Regierung zur Kenntnisnahme zu überweise». Abg. Hanser (Z.) tritt de» Ausführungen des Berichterstatter» und dessen Antrag bei. Abg. Dr. Elsaß (V) beantragt Uebergang zur Tagesordnung. Diese oberflächliche Eingabe verdiene nichts andere». Wollte man dieser Materie von Regierung»wegen näher treten, so käme nur eine neue „lex Heinze" heraus. Minister v. Pischek bemerkt, daß die Frage kürzlich den Reichstag beschäftigt habe. U. a. könne eine Aenderung der Bestimmungen in der Gewerbeordnung, betr. da» Kolportiere» der Schundliteratur in Frage kommen. Die Selbsthilfe müsse auch einsetzen und namentlich die Hilfe der Schule und der Familie. Abgeordn. Feuerstein (Soz.) tritt dem Abgeordneten Elsas bei. Man könne hier nicht gesetzgeberisch Vorgehen. Die Freiheit der Presse dürfe nicht beschränkt werden. Der Berichterstatter tritt dem Vorredner entgegen; er halte seinen Antrag durchaus aufrecht. Ministerialrat Marquardt
bewegt. „Willigt Fräulein Sörrensen ein, meine Frau zu werden, so fühle ich mich glücklich und hochgeehrt, denn sie ist ein hochherzige» Geschöpf, und ich habe sie sehr lieb gewonnen. Selbst wenn Sie mir nicht so überau» gütig Ihre pekuniäre Hilfe angeboten hätten, wäre ich nach diesem unseligen Zufall, der Sie an meiner Wohnung vorüberführte, sofort zu Ihrem Herrn Vater gegangen, um von ihm die Hand Fräulein Sörrensen» zu erbitten. Freilich wäre mir dann nicht» übrig geblieben, al» den Abschied zu nehmen. Und e» wäre mir schmerzlich gewesen, sie mit mir in eine ungewisse sorgenvolle Zukunft zu reiße». Mir bleibt keine Wahl — ich nehme Ihr großherzige» Anerbieten an — Bettinas wegen darf ich nicht kleinlich sein."
Ernst seufzte auf und reichte ihm die Hand.
„Ich danke Ihnen."
„Dazu habe ich mehr Veranlassung."
„Wenn Sie da» glauben, so machen Sie Bettina glücklich. Dan» sind wir quitt."
Bühren sah forschend in Ernst» blasses, düstere» Gesicht. Eine Ahnung stieg in ihm auf, daß dieser Bettina wohl inniger zugetan sein könnte, al» e» sonst zwischen Verwandten üblich ist. Ernst bemerkte seinen forschenden Blick und nahm sich zusammen.
„Wir find also friedlich ins Klare gekommen, Herr von Bühren. Ich will nun mein Büro aufsuchen und hoffe, Sie heute mittag zu Hause als Bettinas Verlobten begrüßen zu könne». Aber halt — noch ein». Ich wünsche nicht, daß meine Eltern erfahren, daß ich die Heiratskaution stellen will. E» würde unnötige» Her und Hin geben. Sagen Sie, durch eine unverhoffte Erbschaft — oder sonst einen Glücksfall — sind Sie in Besitz der nötigen Summe gekommen. Da Sie gestern meinen Vater und meinen Bruder um ein Darlehen angingen, müssen Sie natürlich eine Erklärung über Ihre veränderten VermögenSverhältniffe abgebe»."
„Ich werde in Ihrem Sinne handeln, Herr Baumeister." i
„Gut. Auf Wiedersehen denn."
Die beiden Männer sahen sich fest ins Auge und reichten sich die Hand. Dann ging Ernst.
Er war ruhiger geworden, nun er für Bettina getan hatte, was er tun konnte. Zugleich aber kam eine tiefe Niedergeschlagenheit über ihn, die er nicht hinwegphilosophieren konnte. Er vergrub sich förmlich in seine Arbeit. Sie brachte ihm aber heute keine Befreiung. Seine Gedanken ließen sich nicht abwenden von dem Verlust, der sein Herz getroffen.
* Ä-
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Peter Aßmann war eben au» der Fabrik nach Hause zurückgekehrt, al» ihm Bühren gemeldet wurde. Der alte Herr war in verdrießlicher Stimmung, seine Frau hatte ihm auf seine Frage «ach Bettina eben erklärt, daß sie fertig mit Packen sei und zwei Uhr dreißig Minuten abreisen würde. Sie blieb also bei ihrem Entschluß, das junge Mädchen zu entfernen, und das gefiel dem alten Herrn gar nicht. Er empfing Bühren sofort in seinem Arbeitszimmer, hoffend, dieser würde Aufklärung in die Affäre bringen.
„Ich darf wohl hoffen, daß Sie gekommen find, um mir eine Erklärung zu bringen über da» seltsame Vorkommnis. Meine Söhne habe» unsere Verwandte mit Ihnen au» Ihrer Wohnung kommen sehen. Wie verhält sich da»?" fragte er sofort.
Bühren war erstaunt, daß Peter Abmann bereit» von der Angelegenheit wußte. Wahrscheinlich hatte Georg geschwatzt. Ihm traute er e» zu. Er nahm eine formelle Haltung an.
„Ich habe die Ehre, Sie um die Hand Ihrer Verwandten, Fräulein Bettina Sörrensen zu bitte» — da» ist meine Erklärung."
Peter Aßman» riß die Augen auf und sah Bühren erstaunt an.
„Sie sehen mich einigermaßen außer Fassung, Herr von Bühren. Diese im Grunde einfachste Lösung habe ich nicht erwartet."
! (Fortsetzung folgt.)