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auf dem Lande zu wecken, denn e» ist gewiß richtig, daß dieser Verständnis zunächst vorhanden sein muß, um der bekannten Sucht des Bauern nach Einnahme baren Geldes entgegenzvwirken und jedenfalls seinen eigenen Haushalt nicht um größere Mengen der elementarsten Nahrungsmittel, Milch und Butter, zu schädigen, als er ohne eigenen Nachteil zu entbehren vermag. Daß die günstige Gestaltung der städtischen Milch- zufuhr natürlich nicht rückgängig gemacht werden kann, das liegt auf der Hand. Es wird darum durch die Schaffung sozial hygienischen Verständnisses auch der Weg gewiesen, auf welchem die bäuerliche Wirtschaftsführung zur größeren und dankbaren Produktion von Milch und Butter übcrzugehen vermag. Insbesondere kommt hier eine intensive Hebung der Ziegenzucht in Be tracht. Auch eine vernünftige Verkehrlpolitik kann da allerlei ausrichten, ebenso wie für reiche Einfuhr von Butter aus dem Auslande durch zollpolitische Maßnahmen gesorgt werden könnte. Die Ministerien der genannten Bundesstaaten, die schon vor Jahr und Tag sich mit der Frage beschäftigt habe», werden auf Grund der reichen Materialsammlung, die jetzt vorliegt, zu energischen Maßnahme» überzugehen Gelegenheit haben. Man möge an maßgebender Stelle bedenken, daß heute immer noch wie früher trotz der denkbaren günstigen Gestaltung der Hygieneverhältnifse der Städte daß Land der Jungbrunnen der Bevölkerung ist.
Tagcsuenigkeiterr.
Stuttgart 16. Nov. Das Königspaar hat sich heute nachmittag zum Jagdaufenthalt «ach B-benhausen begeben.
Stuttgart 16. Nov. Auf Befehl des Kaisers soll da» Infanterieregiment Kaiser Wilhelm Nr. 120 in Ulm, dessen 8. Kompagnie in diesem Jahr das Kaiserabzeichen erschossen hat, als Schießpreis ein Gemälde erhalten, das die Teilnahme de« Regiment» beim Angriff auf Fröschweiler am 6. Aug. 1870 darstellt. Mit der Ausführung des Gemälde» ist Kunstmaler Professor Röchling in Charlottrnburg beauftragt worden.
Stuttgart 16. Nov. In einer von etwa 300 Mitgliedern besuchten Versammlung der Nationalliberalen Partei Groß Stuttgarts sprach Bürgerausschußmitglied Rechtsanwalt Dr. Wölz über Rathausangelegenheiten. Der Redner bezeichnete es als richtig, daß komunal- politische Einzelfragen diesmal kaum den Wahlkampf beherrschen werden. Nachdrücklich werde man allerdings die endgültige Erledigung der derzeitigen komunalpolitischen Havpifrage, der Wasser- und Kläranlogefrage, fordern müssen.
In der Frage der Milchversorgung könne es für die bürgerlichen Parteien, was de» Regiebetrieb anlange, nur ein Niemals geben. Die Forderung der Erhöhung der Katastersteuern, wie sie die Sozialdemokratie erhob, müsse unbedingt bekämpft werde». Eine rasche Erledigung der Unterbeamtenwünsche sei dringend notwendig. Nachdenmit lebhaftem Brifallaufgenommenen Ausführungen wurde zur Feststellung der Kandidatenliste für die Bürgerausschußwahl geschritten; es wurden in Vorschlag gebracht: Ehr. Bauer-Cannstatt, Hafnermeister Harrschar Untertürkheim, Postsekretär Ahner-Stuirgart, Präzkptor Bazlsn, Katastergeometer Karl Bofinger, Zimmermeister Bräuninger, Kaufmann Robert Göbel- Degerloch, Bauwsrkmeister Haller-Cannstatt, Kupferschmied Harsch, Baurat Hofacke,', Pflasterer- meister Klumpp-Gablenberg, Fabrikant Wieder, Kanzleirat Lemppenau und Schneidermeister Vai- hinger-GaUburg. Es wurde bkschloffen, mit der Volkspartei auch Heuer wieder den Zettel zu verbinden.
Tübingen 16 Ncv. (Von derUui- versität.) Das Deutsche Institut für ärztliche Mission, das hier im Oktober vorigen Jahres eingeweiht wurde, erfreut sich eiaer steigenden Frequenz. Es hat 33 Insassen gegen 24 im Vorjahre. Davon sind 20 Mediziner, von denen sich 10 dem Misfionsdienst widmen wollen. Leider ist der verdienstvolle erste Direktor des Instituts Dr. med. Fiebig wegen einer zunehmenden Nervenleidens geröttgt, von seinem Posten am 1. Oktober 1911 zurückzutretsn.
Eßlingen 16. Nov. (Vortrag) Sehr stark besucht war ein Vortrag des Kontreadmirals z. D. Becke-Kiel über unsere Kriegsschiffe, ihre Entwicklung und Verwendung im Ser kriege. Der gewandte Redner verstand es, eine überaus anschauliche, teilweise spannende Uebersicht über die Geschichte unserer Flotte von deren Anfängen bis heute zu geben. Er schilderte die einzelnen Schiffsiypev, ihre Verwendung im Gefecht und ihre Bewaffnung. Bemerkenswert war seine Aeußerung über die Luftschiffe. Er hält ihre Verwendbarkeit infolge der Abhängigkeit vom Wetter zur Zeit für eine beschränkte, am wahrscheinlichsten werde man sie zur Aufklärung verwenden können. Er schloß mit den Worten: „Ein Volk, da« seiner Aufgabe eingedenk ist, da« dm Nacken nicht beugt vor Neidern und Hasser», kann einer starken Flotte nicht entbehren, Wehrhaftigkeit zur See ist Lebensbedingung."
Heilbronn 16. Nov. Neben den bis jetzt bekannten drei Heilbronner Fliegern, die mit ihren Flugversuchen in der nächsten Zeit auf dem Exerzierplatz beginnen wollen, sind, nach der „N ckar-Ztg.", zwei weitere Erfinder von
Flugapparate», Fr. Helle und der Bahn- angestellte Böhringer-Böckiugen mit Konstruktionen hervorgetreten.
Heilbronn 16. Nov. (Vermißt.) Ueber den Verbleib der nunmehr seit einer vollen Woche spurlos verschwundenen Volksschülers Tu mm konnte immer noch nichts ermittelt werden. In der Stadt gehen verschiedene Gerüchte um, die sich jedoch bis jetzt durchweg als falsch erwiesen habe«.
Göppingen 15. Nov. Ein schwerer Raubanfall wu de auf der Straße von Uhingen nach Nassach verübt. Der Bauer Jakob Knaupp von Nassach befand sich am Freitag abend gegen 10 Uhr mit seinem Fuhrwerk cuf dem Heimweg vom Eßlinger Markt. Auf der Siraße von Ebersbach Uhingen nach Nassach, kaum eine halbe Stunde von seiner Wohnung entfernt, wurde der auf seinem Wagen fitzende Ktiarpp von einer von hinten her aufgesprungenen Person überfallen und sofort mit eisern stumpfen Werkzeug, anscheinend einem Stein, niedergeschlagen. Der Täter schlug mehreremale auf den Kopf des Ueberfallmen ein und machte ihn dadurch bewußtlos; er raubte darauf aus der Tasche des Bewußtlosen das Portemonnaie mit einem Barbttrag von 140 bis 150 Mk. und sprang hierauf vom Wagen. Das Pferd nahm seinen Weg nach Nassach, wo es vor dem Hause Knaupps stehen blieb. Knaupp wurde bewußtlos und in seinem Blute liegend aufgefunden. Er ist bis jetzt, nach vier Tagen, noch immer bewußtlos, doch besteht Hoffnung, ihn am Leben zu erhalten. Sein Hinterkopf weist sieben schwere Verletzungen auf. Die Nahrung wird ihm künstlich eingeflM. Von dem Täter fehlt zur Zeit noch jede Spur. Das geraubte Portemonnaie trägt dis Messingbuchstaben I. K. und die Regimentsrrummer 120. Der Ueberfallene, der etwa 30 Jahre alt ist, war bereit» vor 7 Jahren das Opfer eine» Raubanfalls, bei welchem er ebenfalls am Kopfe schwere Verätzungen davongetragen hat.
Göppingen 16. Nov. (Zum Raubanfall.) Der am Freitag abend bei Nassach überfallene und schwerverletzte Landwirt Jakob Knaupp ist heute früh ohne da» Bewußtsein wieder erlangt zu haben, gestorben Gestern noch hatte man gehofft, ihn am Leben erhalten zu können, doch trat gegen abends eine Verschlimmerung ein, der Kopf wurde ganz schwarz und man vermutet daher, daß rin Starrkrampf die Tobet Ursache bildet. — Gestern wurden der Polizeihund »Sherlok" und ein anderer Polizeihund nach Nassach gebracht Sherlok »ahm sofort an einer blutbr spritzten Leiter de» Knaupp- 'schen Wagens, aus dem der Ueberfall auSgesührt
„Eine sehr unwürdige —"
„Schämen sollte er sich, so den Knauser zu spielen — und wie empörend von ihm, mich hier in diesem elende» Schlosse als halben Gefangenen zu halten, während er selbst in seiner stolzen Residenz thront, mit Sechsen ausfährt und in einem Purpurmantel einherstolziert."
Der alte Herr war offenbar bei seinem Lieblingsthema angelangt, da« er denn auch in fließender und anscheinend völlig logischer Rede mit Emphase und unter erstaunlichen Gestikulationen fortspann, indes der Doktor, der wohl schon jede» Wort auswendig wußte, zerstreut neben ihm herschritt und seinen eigene» Gedanken Audienz gab.
Plötzlich hielt er an und schaute durch seine Brille scharf nach dem große» Portal de» Hauptgebäudes, welche» die Verbindung mit der von dem Garten streng abgeschlossenen Außenwelt vermittelte.
„Alle Wetter, da« ist doch Fräulein Hohl," rief er erfreut, worauf er, ohne sich deshalb bei dem alten Herrn zu entschuldigen, der in Begleitung eine» Anstalt»beamten den Garten betretenden jungen Dame hastige» Schritte» entgegeneilte.
„Gut, daß Sie kommen, Fräulein Hohl," redete er sie an, sie artig, begrüßend. „Sie haben un» lange nicht die Ehre gegeben."
„O, Sie wissen ja, Herr Doktor, wa« auf mir ruht," entgegnete sie, sich entschuldigend und dock zugleich mit sanftem Vorwurf.
„Verzeihen Sie, ich weiß wohl — auch wissen Sie ihn ja in den besten Händen."
„Wie geht e» ihm? Wo ist er?"
„Sie sollen einmal erstaunen, liebe» Fräulein — zum erstenmale kann ich Ihnen heute etwa» bessere Nachricht geben. — Ihr Herr Bruder ist seit kurzem bedeutend ruhiger geworden — die Paroxysmen haben nachgelassen und seine körperlichen Kräfte sich gestärkt, so daß er seit einigen Tagen sogar unter meiner Aufsicht rin wenig auf dem Hof promeniere» kann. Dort ist er — natürlich «och blaß und hohlwangig, aber da» wird sich schon geben."
Gertrud wandte hastig den Blick nach der bezeichnete» Richtung. Ein Lächeln der Freude glitt über ihre Lippen, aber sofort wechselte e» zu einem Zuge stiller Wehmut.
„Da» ist er — und glauben Sie, daß er mich — erkennt?"
Doktor Fresen schüttelte ernst den Kopf.
„Soweit sind wir noch nicht — noch lange nicht. Der Verlauf ist doch ein arderer, als ich dachte. Deshalb dürfen Sie sich aber nicht betrüben."
„Aber ich darf darauf rechnen, ihn wieder gesund und geistesfroh in unserer Mitte zu sehen?" fragte sie rasch und gespannt.
„Ich glaube es gewiß — soweit wir Menschen eben zu schließen vermögen," erwiderte er vorsichüg. „Wie geht es Ihrer Frau Mutter? Wie erträgt sie den schweren Schlag?"
„Sie ist jetzt ruhiger geworden — anfangs freilich, nachdem ich ihr die erste Mitteilung gemacht, da ich ihr die Wahrheit nicht länger verbergen konnte, stand es schlimm mit ihr — ich fürchtete, die Aufregung würde den schwachen Lebensfunken auslöschen. Gott sei Dank, ich hoffe wieder — sie wird sich erholen — doch darf ich ihn begrüßen, Herr Doktor?"
„Wenn Sie die völlige Indifferenz, der Sie von seiner Seite begegnen werden, nicht zu sehr deprimiert — aber nein, Sie find ein geisteSstaike» Wesen, ich weiß e», kommen Sie nur, Hoheit schaut ohnehin schon ungeduldig nach mir a«S —"
„Hoheit? Ist das der alte Herr mit dem würdigen Aeußern?
„Ganz recht!"
„Ist er ein Prinz?"
„Ein Unglücklicher, wie Ihr Bruder — im Grunde weit unglücklicher und doS gegenwärtig glücklicher. Uebrigen« interessiert er sich für da» Schicksal Ihres Herrn Bruder« auf da» lebhafteste."
„Kennt und begreift er e» denn?" fragte Fräulein Gertrud.
(Fortsetzung folgt.)