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beiden Prozessen gegen seine Frau war er als Beistand zugelassen. Im jetzigen Fall handelt es sich um drei Flugblätter, die der Mann verfaßt hat. Eines der unter Anklage stehenden Flugblätter stimmt genau mit einem Flugblatt überein, wegen dessen die Frau verurteilt wurde. Die Flugblätter enthalten Auszüge aus Schriften von Graf Hoensbroech, Pfarrer Gottfried Schwarz u. a. Aus den Flugblättern seien einige Blüten angeführt: „Die römische Kirche als Lehrerin raffiniertester Unzucht", „das Papsttum ein Institut zur Erziehung von Verbrechen jeder, Art", „römische Gaukler", „der Saustall der Beichtstuhleinrichtung muß ausgemistet werden." Das Flugblatt mit der Ueberschrift: „Wahrheit hat keinen Schutz als sich selbst — braucht auch keinen" har Neumann in Hunderttausenden von Exemplaren in Deutschland verbreitet. Den von ihm eingangs der Verhandlung gestellten Antrag, Graf Hoensbroech und Pfarrer Gottfried Schwarz als Sachverständige zu laden, lehnte das Gericht ab. Die Verlesung der Flugblätter nahm längere Zeit in Anspruch. Der Angeklagte verteidigte sich in längerer Rede. Seine Frau war früher katholisch. Den Kampf gegen die römische Kirche führt er seit dem Uebertritt seiner Frau zum Protestantismus. Er will durch persönliche Erlebnisse zu dem Kampf veranlaßt worden sein. Die Frau bestritt, daß sie an der Verbreitung der Flugblätter beteiligt gewesen sei. Der Sachverständige, Obermedizinalrat Dr. Köstlin, sprach sich dahin aus, daß Neumann zur Zeit nicht geisteskrank sei. Der Angeklagte hat dem Sachverständigen zugegeben, daß er simuliert habe. Der Staatsanwalt bezeichnete die Flugblätter als schmutzige Pamphlete. Der Verteidiger beschränkte sich auf die Behandlung der subjektiven Seite und bat um Verneinung der Schuldfrage, da die Angeklagten nicht haben beschimpfen, sondern nur das sagen wollen, was nach ihrer Meinung Wahrheit sei. Die Geschworenen verneinten bei beiden Angeklagten die Schuldfrage. Das Urteil lautete auf Freisprechung. Das Gericht sprach jedoch dem Antrag des Staatsanwalts gemäß die Einziehung aller noch vorhandenen Exemplare der Flugblätter aus, da sie nach Ansicht des Gerichts einen strafbaren Inhalt haben.
Enzberg OA. Maulbronn 17. Febr. Der Ausschuß des Gemeindeverbands „Elektrizitätswerk Enzberg" hat in den letzten Tagen an die einzelnen Verbandsgemeinden den Tarif zur Abgabe des elektrischen Stromes und die Anmeldebogen zum Bezug von Elektrizität hinausgegeben. Dem Tarif ist zu entnehmen, daß der Preis des zu Lichtzwecken bezogenen Stromes mit 45 ^ pro Kilowattstunde, der des zu Kraftzwecken benützten Stromes mit 20 ^ für
die Kilowattstunde berechnet wird. Für beide Arten von Stromabnahme sind aber auch Pauschaltarife vorgesehen und zwar beträgt der Preis (bei Anlagen bis zu 500 Glühlampen) für Kohlenfadenlampen mit einer jährlichen Brenndauer bis zu 300 Stunden 70 ^ per Kerze und Jahr. Der Pauschaltarif für landwirtschaftliche Tagesmotoren richtet sich nach der Größe des Viehstandes, für jedes Stück Rindvieh wird 1'/« für jedes Pferd 3 -) pro Tag berechnet.
Alle gewerblichen Motoren sollen Zähler erhalten.
Heilbronn 17. Febr. Die Zufuhren zum Ledermarkt betrugen etwa 21000 Klg., noch etwas weniger als beim November-Markte vorigen Jahres. Der Markt gehört somit hinsichtlich der zugeführtcn Menge zu einem der geringsten. Der Verkauf ging anfangs recht lebhaft, so daß die in geringer Menge beigeführten Sohl-, Kalb- und Zeugleder zu schönen Preisen rasch verkauft waren. Gute Sorten Schmal- und Wildoberleder waren auch bald vergriffen, bis gegen Mittag die Kauflust nachließ, so daß trotz der kleinen beigesührten Menge mehrere größere Posten Wildoberleder zurückgenommen werden mußten. Die Preise hielten sich mit wenigen Ausnahmen auf der gleichen Stufe wie am vorigen Markte; sie stehen aber immer noch nicht im gleichen Verhältnis zu den steigenden Preisen für die ^ohe Ware, worüber seitens der Gerber allgemein geklagt wird. Es wurden verkauft und amtlich vermögen: 1) Sohlleder 1867 Klg., 2) Schmal- und Wildoberleder 13 807 Klg., 3) Zeugleder 552 Klg., 4) Kalbleder 156 Klg. zusammen 16 382 Klg. mit einem Gesamtumsatz von (eingeschlossen Schafleder, Felle und rohe Ware) rund 66 500 —
Der nächste Markt findet am Mittwoch, den 16. März 1910 hier statt. Bemerkt wird, daß schon vor dem Markte unentgeltlich Leder eingelagert werden kann.
Neckarsulm 17. Febr. In Gochsen hat die 22 Jahre alte Tochter eines Bauern vor einiger Zeit eine Blinddarmentzündung durchgemacht und war seither leidend und schwermütig. In der Nacht vom 13. auf 14. d. M. entfernte sie sich heimlich aus ihrer elterlichen Wohnung, ihre Fußspuren führten an den Kocherfluß, in dem sie am Morgen tot aufgefunden wurde.
Holz heim OA. Göppingen 17. Febr. Das 6 Jahre alte Söhnchen einer hiesigen Familie erlitt infolge Verschüttens heißer Milch schwere Brühwundcn am Kopf und am Hals. Die Wunden wären an sich nicht tödlich gewesen, doch muß der Schreck auf das schon vorher kränkliche Kind derartig eingewirkt haben, daß es infolge einer Lungenlähmung starb.
Wurmlingen OA. Tuttlingen 17.Febr. Am Dienstag nachmittag tagte in der Wirtschaft zur „Rose" hier eine von ca. 40 Personen besuchte Versammlung, unter dem Vorsitz von Rechtsanwalt Greiner-Tuttlingen, zwecks Hebung eines mehrfachen Millionen-Erbes in Budapest. Auch aus den Nachbargemeinden Seitingen, Oberflacht und Durchhausen, sowie aus dem Hegau waren Vertreter erschienen. Laut Mitteilung des Vorsitzenden soll in Budapest im Jahre 1776 ein aus unserer Gegend, vermutlich aus Wurmlingen (damals Amt Konstanz) gebürtiger Bürger gestorben sein, der nur eine Tochter hinterließ, die sich an einen Adeligen v. Keßler verheiratete, aber im Jahre 1854 kinderlos starb und die ein Vermögen hinterlassen habe von ca. 20 000000 °^. Für diese Kleinigkeit ist begreiflicherweise große Begeisterung vorhanden.
Vom Bodensee 17. Febr. Im Konstanzer Stadttheater ereignete sich bei der Aufführung der „Liebesträume" ein aufregender Zwischenfall. Während einer Kußszene ertönten aus den vordersten Reihen des Zuschauerraumes Pfuirufe. Auf die Mahnung zur Ruhe beruhigte sich der Rufer nicht, sondern entfernte sich unter weiteren Zurufen polternd aus dem Zuschauerraum.
Hechingen 17. Febr. Ein der Heilanstalt Pfullingen entsprungener irrsinniger Geistlicher hielt sich einige Tage hier auf, kaufte mehrere Häuser an und beglückte die Geschäftsleute mit reichen Einkäufen. Angestellte der Heilanstalt brachten den Unglücklichen nach Pfullingen zurück.
Berlin 15. Febr. (Das Drama von Allenstein.) Der Bruder des verstorb. Hauptmanns v. Göben, Herr O. v. Göben in Andritz (Steiermark), bittet die „Tägl. Rdsch." um Aufnahme folgender Zeilen, die sich gegen die Darstellung der ehemaligen Frau v. Schönebeck richten: Die Ausführungen der Frau v. Schönebeck darf ich nicht unwidersprochen lassen. Die Tat meines Bruders ist nicht abzuleugnen, aber trotzdem ist er nicht der Verbrecher, der er sein müßte, wenn das, was Frau v. Schönebeck jetzt der Oeffentlichkeit mitteilt, wahr wäre; er handelte vielmehr in einem Zustande völliger geistiger Unfreiheit, in welchen sie ihn zu versetzen gewußt hatte. Ich besuchte ihn kurz nach dem Vorfall in seiner Zelle und fand ihn noch in einem traumartigen Zustande. Er konnte sich u. a. damals noch nicht auf verschiedene Einzelheiten besinnen, die ihm erst später wieder einfielen. Bestimmt aber wußte er, daß die übergroße Liebe zu Frau v. Schönebeck es gewesen war, welche ihn zu diesem Akt des Wahnsinns getrieben
erwachsenen Sohne begegnete. Nein, die hochfahrende Zurechtweisung, die Unterdrückung desselben, deuchte ihr zu ungerecht, zu ungehörig, um nicht Partei für Sixt zu sein. Sie fühlte, daß die Gegensätze zwischen beiden immer schroffer zu Tage traten, daß sich Vater und Sohn täglich mehr entfremdeten. Wie Wildwasser von den Bergen rauschten ihre Worte hin und wieder und keiner gab dem anderen um Haaresbreite nach, keiner trug der Eigenart des anderen Rechnung. Jugend und Alter verstanden einander nicht.
„Heut ist schon gar kein Auskommen mit dir, Wendel!" tadelte Frau Therese im ungehaltenen Ton. „Erst streitest du mit mir wegen dem neuen Gewand, jetzt kommt der Sixt auch noch an die Reihe. Der Bursch darf tun, was er will, dir kann er doch nichts recht machen. Schafft er in der Säg oder am Feld, allweil ist etwas nicht in der Ordnung, allweil findest etwas zum Streiten. Ein alter, grandiger Kampl bist, der mir die ganze Freud am heutigen Tag genommen hat. Wegen mir kannst jetzt allein aufs Scheibenschießen nach Sch. fahren! Mich bringst nimmer mit, mir ist die Lustbarkeit vergangen!"
Sie wandte sich dem Haus zu.
„Wird doch dein Ernst nit sein, Theresl," suchte der Lindhammer die Erregte zu begütigen. „Was tät denn i allein bei der Gaudi, weißt doch eh, daß ich mir aus solchen Spektakelgeschichten nit viel mach. Geh, sei gscheit, Weiberl, und halt dich nit länger auf. Meinetwegen mag der Sixt auch einen G'spaß haben und mit uns fahren. Auf einen Hunderter drauf und dran kommts heut nit an."
So nachgiebig hatte der Lindhammer sich seit langer Zeit nicht mehr gezeigt. Bereitwillig bestieg Frau Therese jetzt das Gefährt, ihr Mann nahm an ihrer Seite P atz, indes Sixt die Leitung der Pferde, die heute zum erstenmal vor dem Wagen gingen, übertragen erhielt — ein Bild friedlichster Familieneintracht für jeden, der die Verhältnisse nicht näher kannte.
Im scharfen Trab fuhr das Gefährt die Anhöhe hinab und an den beiden Wanderburschen vorbei, die inzwischen an die Schneidemühle
herangekommen waren. Der jüngere der beiden zog vor den Insassen höflich grüßend den Hut, der ältere schnitt eine hämische Grimasse und schrie ihnen eine „frohe Fahrt" zu; doch die Worte waren von Spott getränkt und der Blick, der sie begleitete, voll finster brütenden Hasses.
„Willst du gleich Ruhe geben, Tyras?"
Veferl trat aus der Haustüre heraus und verwies den Hund, der die Wanderer heftig knurrend umkreiste, zur Ruhe.
„Du Vielfraß, du hast an jedem Tag eine gefüllte Schüssel vor dir und weißt nit, wie der Hunger tut!" und sich den Handwerksbursche« zuwendend, fuhr sie mit einem lieben Lächeln fort:
„Ihr Zwei seid gewiß heute schon ein gutes Stücks Wegs gewandert und müde, hungrige Gäste. Geld gibt's nit in der Schneidmühl, doch einen Waidling Milch und ein gutes Stück Schwarzbrot sollt ihr habe». Setzt Euch drüben unter die Linden, da habt Ihr Gotteslust und Blütendust dazu. Gleich werd ich die Zehrung bringen."
Die Burschen ließen sich dies nicht zweimal sagen, gaben der freundlichen Einladung sogleich Folge und machten sich auf der breiten Holzbank unter den prächtigen Lindenbeständen sehr bequem.
Schon nach wenigen Minuten kam Veferl aus der Milchkammer zurück und mit einem üblichen „Gsegen's Gott, die Gab!" stellte sie eine volle Milchschüssel und ein mächtiges Stück Schwarzbrot vor die Leute hin.
Eist jetzt faßte sie die beiden Fremdlinge schärfer ins Auge; aber die Musterung hatte kein erfreuliches Ergebnis; die ungebetenen Gäste machten einen wenig vertrauenerweckenden Eindruck. Besonders der ältere der beiden, der auf einer unbestimmten Altersstufe stand, hatte etwas widerwärtiges an sich. Mit gierigen Händen zog er die Schüssel zu sich heran und in großen Zügen trank er, indes seine Augen unstät, wie Irrlichter umherwanderten. Dichte, verwilderte Brauen zogen sich wie Raupen über der Nase zusammen und das hagere, faltige Angesicht erinnerte in der Farbe an altes brüchiges Pergament. (Forts, folgt.)