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Verordnung des Oberpräsidenten der Provinz Posen vom 34. Oktober 1873, wonach die deutsche Unterrichtssprache wieder in die Volks­schulen der Provinz allgemein eingesührt, zugleich aber bestimmt wurde, daß den polnischen Kindern der Religionsunterricht in ihrer Muttersprache zu erteilen sei; nur wenn die Kinder die deutsche Sprache so weit beherrschten, daß ein richtiges Verständnis auch bei dem in deutscher Sprache erteilten Religionsunterricht erreicht werden könne, solle nach amtlich veranlaßten Prüfungen mit Genehmigung der Regierung in der Miltel­und Oberstufe der Religionsunterricht in deutscher Sprache gegeben werden. Nach dem Geschrei der polnischen Blätter zu urteilen, müßte man annehmen, daß dieser Erlaß in gewalttätiger Weise ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse durchgesührt worden sei. Tatsächlich jedoch ist die preußische Regierung mit der Ein­führung des Religionsunterrichts in deutscher Sprache so schonend vorgegangen, daß jetzt, nachdem weiter über ein Menschenalter seit jenem Erlaß verflossen ist, von den 1392 Volksschulen, die von polnisch sprechenden Kindern besucht werden, in 812 Volksschulen der Religions­unterricht noch auf allen Stufen in polnischer Sprache erteilt wird.

Ganz anders sind die Polen verfahren, als infolge des Zusammenbruchs Preußens im Anfang des vorigen Jahrhunderts durch Napoleon das Großherzogtum Warschau errichtet und ihm große Teile zugewiesen worden waren, die vor­dem zu Preußen gehört hatten. Damals erließ unter dem 27. November 1809 die polnische Regierung eine Verfügung, wonach jeder noch von Preußen angestellte deutsche Lehrer bei Strafe der Amtsentlafsung bis zum Jahre 1812 die polnische Sprache zu lernen habe. Die Polen fordern also wohl Duldsamkeit von den Deutschen im weiten Maße, um den Hirnge­spinsten des großpolnischen Reiches desto bequemer nachjagen zu können, sie denken aber nicht im entferntesten daran, die Duldung und das Ent­gegenkommen, die ihnen in Deutschland gewährt werden, dort den Minderheiten zu gewähren, wo sie die Herren sind.

T«seSveirisreite«.

Wildbad 22. Nov. Vor einer zahlreichen Zuhörerschaft unter welcher auch Mitglieder der Deutschen Partei vertreten waren, sprach gestern abend im Gasthaus zur Sonne der Reichstags­abgeordnete Schweickhardt überfeine Tätigkeit in der abgelaufenen Sitzungsperiode. Mit großer Befriedigung hob der Redner das gemeinsame Arbeiten der nationalliberalen Partei mit dem Freisinn hervor und gab dem Wunsche Ausdruck, daß die Zukunft noch öfters beide Fraktionen im Kampfe um die Durchführung liberaler For­derungen Seite an Seite finden möchte.

Leonberg 22. Nov. Die Wander­arbeitsstätte hier findet Anklang. Der Bettel hat so gut wie ganz aufgehört und die Gewerbetreibenden holen nach Bedarf Arbeits­kräfte in der Anstalt. Nur ist der Umstand für die Arbeitsuchenden ungünstig, daß sie nachmittags wandern müssen. Bis sie nach Calw oder Pforz­heim kommen, ist es Nacht und sie können sich nicht mehr nach Arbeit Umsehen. (Der Schluß dieser Notiz veranlaßt uns zu der Bemerkung, daß in Calw mit der Wanderarbeitsstätte auch der Arbeitsnachweis verbunden ist und das Suchen von Arbeit überhaupt nicht gestattet wird. Würde dies zugelassen, so wäre der Gelegenheit zum Betteln von Haus zu Haus wiederholt Vor­schub geleistet. Red. ds. Wochenbl )

Cannstatt 24. Nov. Zu dem Raub am Hochaltar in der Herrgottskirche zu Creglingen schreibt dieCannstatter Zeitung": Wenn diese Nachricht richtig ist, kann es sich nur um Bestandteile des hochberühmten Hoch­altars, des schönsten in Württemberg, handeln, und dann sind die gestohlenen Figuren nicht nur von erheblichem Altertumswert, sondern auch von ganz enormem Kunstwert. Schon vor Jahren ist an dieser Stelle auf die sehr ungenügende Bewachung dieses einhalb Stündchen von Creg­lingen in der Herrgottskirche aufgestellten wunder­vollen Werkes hin gewiesen worden, das schon früher einmal einen schweren Verlust durch den Diebstahl eines Christuskindes erlitt.

Rottenburg 24. Nov- Ein etwas ungewöhnliches Verlangen hatte ein Dieb, der in die Werkstätte des Bildhauers Hummel ein­brach und bei Nacht und Nebel ein Grabdenkmal aus Marmor stahl. Dem Dieb wurde nach­geforscht und er konnte in Wendelsheim ver­haftet werden.

Geislingen a. St. 24. Nov. Mit der am 1. Okt. hier eröffneten Wanderarbeits­stätte sind hier bis jetzt gute Erfahrungen ge­macht worden. Der Hausbettel hat sehr nach­gelassen und im Innern der Stadt vollkommen aufgehört. Im Monat Oktober wurden ca. 230 Wanderer beherbergt, eine stattliche Zahl, die sich in den Wintermonaten noch erhöhen dürfte. Mit der Wanderarbeitsstätte ist ein Arbeitsnachweis für die Wanderer verbunden, von dem fleißig Gebrauch gemacht wird.

Tuttlingen 24. Nov. Der Verein Tuttlinger Schuhfabrikanten hat sich in seiner letzten Sitzung eingehend mit der gegen­wärtigen Marktlage beschäftigt und einstimmig den Beschluß gefaßt, die Verkaufspreise allgemein mit sofortiger Wirkung den jetzigen Verhältnissen entsprechend zu erhöhen.

Pforzheim 24. Nov. Der Maurer­gauverbandsleiter und sozialistische Landtags­

kandidat Richard Harter aus Mannheim, der beim hiesigen Maurerstretk eine große Rolle spielte und vom Schöffengericht 14 Tage Ge­fängnis erhielt, weil er einen Arbeitswilligen an der Brust packte und ihn zum Mitgehen in das Streiklokal nötigen wollte, legte bei der Straf­kammer Revision ein und erhielt dort das Dop­pelte, 4 Wochen Gefängnis.

Heidelberg 22. Nov. In einer Ge­meinde des Heidelberger Bezirkes wohnt ein kleiner Handwerker, der nach seiner Ansicht vom Schätzungsrat zu hoch für die Einkommensteuer herangezogen wurde. Auf seine eingelegte Be­schwerde wurde ihm zuerst vom Großh. Steuer­kommissär Heidelberg und nachher von der Großh. Zolldirektion Karlsruhe erwidert, er möge den ziffernmäßigen Nachweis seiner hohen Einschätzung erbringen, wie dies durch das Gesetz vorgeschriebcn ist. Auch wurde dem Manne Anleitung gegeben, in welcher Weise er dies zu machen habe. Soweit ganz gut. Die Großh. Stcuerdirektion war aber nicht übel erstaunt, als sie den im genauen Wortlaut nach­gedruckten Brief des Beschwerdeführers erhielt: Großh. Steuerdircktion Karlsruhe. Ich setze sie hiermit in Kendnis, das ich an der Zuschrift vom 9. September fest halte, indem darinn meine Beschwerde thatsächlich anerkannt ist; da­für verlangen sie von mir genaue ziffermäsige Buchführung, damit kann ich zu meinem tüssten Bedauern ihrem Verlangen nicht Nachkommen aus dem einfachen Grunde, indem man es ver­säumt hat, mir in meiner Schuhlzeit Unterricht über ziffermäsige genaue Buchführung zu erteilen; in den 8 Schuljahren wurde nicht eine einzige Stunde dazu verwendet; anstatt sinnlose Ge­dichte auswendig zu lernen wie zum Beispiel das Gedicht vom Bäuerlein tick, tack usw. Wehr ist dafür Verantwortlich zu machen? niemant anders als die Grosh. Stäts. Behörde. Sie ist der leidente Geist in den Völksschuhlen."

Mannheim 23. Nov. Das Erdbeben'/ das gestern; abend in Seckenheim und Feudenheim wak-rgenommen wurde, beunruhigte auch die Be­wohner von Zadenburg, Edingen, Friedrichsfeld, Wallstadt, Heddesheim- und Schriesheim, !weil dort das Beben in noch viel stärkerem Grad austrat. So sind z. B. in Ladenburg Leute,, die schon zu Bett gegangen waren, wieder aufge- standcn und erschreckt auf die Straße geeilt. Der Stoß;, der von donnerähnlichem Rollen be­gleitet war, soll so stark gewesen sein, daß Gegen­stände von der Wand sielen.

München 24. Nov. Zwei 18jährige Bürgertöchter, intime Freundinnen, von denen die eine stark nervös überreizt ist, Schüler­innen derselben Kreislehrerinnen-Bildungsanstalt, sind spurlos verschwunden. Sie hatten dem

geworden, und wie der blind Gewesene sich voll Entsetzen abwendet vor all dem Unbekannten, dem er sich plötzlich gegenübersieht, so erschrak Inge vor dem, was sie in ihrer Seele sah, nachdem die Blindheit gewichen, die auf ihren inneren Augen gelegen. Ein anderes Bild neben Armand er­füllte ihr Herz, und vor diesem Bild, das sie heute zum erstenmal mit Bewußtsein darin sah, vor diesem Bilde erschrak sie und preßte die Hände in die geschlossenen Augen, als ob sie sich damit schützen könne vor dem, was doch gar nicht äußerlich vorhanden, und was nur desto stärker her­vortrat, je mehr sie dem äußeren Eindruck wehrte.

Gewissensqualen und bange Fragen zerrissen Inges Seele sie fühlte zum erstenmal, daß sie keine Berechtigung mehr habe, Armand einen Vorwurf daraus zu machen, wenn sein Herz sich einer anderen zugewendet; was sie für unmöglich, für undenkbar gehalten, sie erlebte es an sich selbst ihre Liebe gehörte nicht mehr Armand, sie liebte Callein, und das Empfinden für ihn war das stärkere. Und wie sie mit an Grausamkeit streifender Gewissenhaftigkeit jeder Regung ihres Herzens, rückwärts schauend, nachspürte, da fand sie, daß sie ihre Zukunft und die eines andern auf einer großen, unbewußten Lüge aufgebaut hatte; und je mehr sie dachte, desto mehr verwirrten sich ihre Begriffe über Recht und Unrecht, über Pflicht und Liebe.

Gräfin Lie, die, in die Zeitung vertieft, auf ihrem niedrigen Stühlchen am Fenster saß, erschrak, als das junge Mädchen eintrat; ihrem scharfen Blick entging die Veränderung nicht, die sich seit gestern so auffallend bemerkbar machte. So blaß und jammervoll hatte Inge noch nie ausgesehen.

Mein Kind, was fehlt Dir?" rief sie, voll Teilnahme ihr entgegen gehend und die Hände auf ihre Schultern legend. Inge versuchte zu lächeln, ein herzzerreißendes, flüchtiges Lächeln.

Nichts, Tante Lie, wirklich nichts, ich habe nur schlecht geschlafen, sehr schlecht geschlafen aber das hole ich bald wieder nach."

Du sollst aber nicht immer schlecht schlafen, Kind, Du hast in letzter Zeit öfter darüber geklagt. Das darf mit 24 Jahren nicht Vor­kommen", schall die Gräfin ziemlich besorgt,wir müssen wirklich einmal den Sanitätsrat kommen lassen."

Ach nein, nein, Tante Lie, bitte, nicht!" wehrte Inge,es wird ja schon wieder besser werden."

Aber von was soll es besser werden, wenn man nichts dagegen tut? Run geh nur zunächst und frühstücke ordentlich, es sind kalte Hähnchen da, Dein Lieblingsessen, und delikater Honig. Hast Du denn Appetit?"

O ja," log Inge, um weiteren besorgten Fragen aus dem Wege zu gehen.

Inge zwang sich auch wirklich, etwas kaltes Geflügel und Weiß­brötchen zu ihrem Tee zu essen. Nachher stand sie am Fenster und sah nach der Hofeinfahrt. Sie dachte an Armand, und daß er keine Ahnung habe, was sie innerlich beschäftige, und daß er an ihre Liebe glaube. Sie sehnte sich nach ihm und meinte, daß bei recht ernstem Willen von ihrer Seite doch noch alles gut werden, und daß sie einander wiederfinden würden. Weil seine Mutter es gewünscht, wünschte sie es auch, diese Mutter, die ihrer Eltern und ihre Wohltäterin gewesen. Wenn er doch

käme! In diesem Moment dachte sie gar nicht an Callein, es war solch

eigenes Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen ihr und Armand, und sie freute sich, daß sie es empfand. Jetzt, jetzt, ihr Herz klopfte schneller

Hufschlag auf der gepflasterten Dorfstraße, sie faltete die Hände fest

um den Fenstergriff und neigte sich vor, um besser sehen zu können; plötzlich fuhr sie zurück, als habe ein Schlag sie getroffen, und das Blut stieg ihr siedend heiß in die Wangen. Der Rappe wurde sichtbar, Graf Markus ritt langsam in den Hof. (Forts, folgt.)