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deutschen Idealismus seinen Stempel für ewige Zeiten aufgedrückt hat. Im Schillerhaus und im Schillermuseum ging es heute aus und ein. Es war die stille, unbefriedigte Sehnsucht, nach den Kämpfen des Alltags, wieder den Spuren des Genius nahe zu sein, um Kraft und Mut zu schöpfen, Menschlichem und Allzumenschlichem sieghaft begegnen zu können. Am Nachmittag hatte sich eine stattliche Versammlung in der Turnhalle eingefunden, um zunächst dem Referat des Reichstagsabg. Kommerzienrat Dr. Ernst Blankenhorn- Müllheim i. B. über das neue Wein ge setz zuzuhören. Redner bezeichnete die verabschiedete Arbeit als ein recht schwieriges Gesetz, an dem es noch manches klarzustellen gebe. Wenn sich das Gesetz eingelebt habe, Handel und Verkehr sich ihm anbequemt haben würde, werde es eine gute Wirkung aut üben, es werde wieder Vertrauen zum Weinhandel einkehren und das ganze Gesetz wird Produzenten, Konsumenten und den Weinhändlern zum Segen gereichen. Im Namen des württembergischen Weinbauvereins dankte der frühere Stadtpflegcr Warth dem Redner für seine Bemühungen zur Verabschiedung des Gesetzes und für seine energische Abwehr der Weinsteuer. Dann sprach Landtagsabg. Häffner über Landespolitik. In den weitesten Kreisen herrsche Befriedigung über die Erledigung des Volksschulgesetzes, wodurch die Schulkämpfe aus der öffentlichen Diskussion für absehbare Zeit verschwinden würden. Bezüglich der finanziellen Verhältnisse des Staates riet Häffner zü solider Finanzpolitik und Sparsamkeit im Staatshaushalt. Reichstagsabg. Dr. Hieb er behandelte zum Schluß in längerer Rede die Reichspolitik. Redner gedachte zunächst mit Worten höchster Anerkennung der großzügigen auswärtigen Politik des Fürsten von Bülow. Seiner klugen Haltung verdanke Deutschland und Europa die Erhaltung des Friedens und in dieser Beziehung habe der neue Reichskanzler ein gutes Erbe angetreten. Die Blockmehrheit sei zertrümmert. Verbitterung und Verwirrung sei anstelle der Harmonie und des Zusammenhaltens getreten. Das Zentrum ist wieder in die führende Stellung eingerückt und wie ein Triumphator bereise Erzberger das schwäbische Oberland, während die Sozialdemokratie von Erfolg zu Erfolg schreitet. Die Blockpolitik habe in einer ganzen Reihe von Punkten erzieherisch auf unsere ganze politische Situation gewirkt und er sei auch heute noch der Meinung, daß das, was die Blockparteien vereinige, einen breiten Boden gemeinsamer Tätigkeit bilde. Bezüglich der Reichsfinanzreform bemerkte Redner, daß die Reform nach dem Regierungsentwurf eine annehmbarere Lösung gewesen wäre, als nach der Arbeit des schwarz-blauen Blocks. Seine Partei habe auf dem Standpunkt gestanden, daß
als Gegengewicht gegen die Verbrauchssteuern eine allgemeine Besitzsteuer zur Durchführung gelangen sollte. Die Konservativen hätten aus ihrer Abneigung gegen den aus allgemeinen direkten Wahlen hervorgegangenen Reichstag und den Großgrundbesitz belastenden Steuern kein Hehl gemacht. Die Nationalliberalen hetzten das Volk nicht auf gegen die neuen Steuern, aber man könne von ihnen auch nicht verlangen, daß sie das verleugnen, was sie bisher als ihr Prinzip anerkannt haben. Aus einem nationalen Werk sei ein finanzielles Geschäft geworden. Eine neue Reichsfinanzreform werde notwendig sein und die Vorlage einer Erbschaftssteuer wiederkehren. Man denke an keinen Kulturkampf, wir treten für die Freiheit des katholischen Glaubens und der katholischen Kirche ein, den politischen Ultramontanismus aber betrachten wir als eine den Bestand des Reichs bedrohende Gefahr. Die nationalliberale Partei sei auf positive Arbeit angewiesen, auf nationalem Boden. Sie werde bleiben, was sie bisher war, eine nationale und liberale Partei. (Stürmischer Beifall.)
Aus dem Remstal 22. Okt. Ein seltenes, aber um so erfreulicheres Beispiel von kameradschaftlichem Geist trug sich in Endersbach zu. Es leben dort vier Veteranen, die im Krieg von 1870—71 sämtlich mit der Batterie Flaiz ins Feld rückten. Vor einigen Tagen stattete nun der einstige Batteriesührer, der jetzt in Stuttgart lebende General v. Flaiz diesen Veteranen einen Besuch ab. Er kam zuerst in ihre Wohnungen und versammelte sie dann im Gasthaus zum Lamm, dessen Besitzer einer der Veteranen ist, zu einer gemütlichen Feier. Auch Postverwalter Fischer, der später in dieser Batterie diente, nahm an der schönen Feier teil.
Vaihingen a. E. 23. Okt. Der auf dem Staatsbahnhof beschäftigte verheiratete 36- jährige Hilfswärter August Reh mann von Kleinglattbach, Vater von sechs Kindern, fuhr gestern abend vom Staatsbahnhof nach Kleinglattbach. Er hatte seinen kleinen Sohn bei sich und wurde dadurch wahrscheinlich am rechtzeitigen Aussteigen gehindert. Der Zug war schon in Bewegung, als er ausstieg, und so kam Rehmann unter ihn, wobei ihm das linke Bein so zerquetscht wurde, daß es im hiesigen Krankenhause am Knie abgenommen werden mußte.
Heilbronn 23. Okt. Tie Parsevalfahrt der beiden Heilbronner Herren ist von Frankfurt aus ins Maintal in der Richtung auf Wiesbaden-Mainz zu und zurück sehr genußreich verlaufen. In der geräumigen Gondel befanden sich außer der regelmäßigen Besatzung (Oberleutnant Stelling, Hauptmann Dinglinger, ein
Ingenieur und zwei Mechaniker) noch Major von Parseval selbst, der eben zuvor in Frankfurt eingetroffen war, ferner der Militärattache bei der russischen Botschaft in Berlin, Oberst v. Michelson, im Aufträge der russischen Regierung, die sich für den Ankauf eines Parsevalballons interessiert, außerdem der englische Gardeoberst Churchill, und von Heilbronn Gemeinderat Bach und Dr. Jäckh, im Ganzen also 10 Personen (12 war bisher die Höchstzahl im Parsevalluftschiff). Die anfänglich beabsichtigte 1000 Meter-Höhenfahrt, die einer militärischen Aufklärung dienen sollte, wurde wegen dichter Nebelwolken unterlassen; die Fahrt ging in die Höhe von 200—300 Meter und teilweis gegen sehr starke Böen, die gut überwunden wurden und schließlich im Wind mit Schnellzugsgeschwindigkeit von 60 Kilometer zurück. Die Steuerung funktionierte genau und präzis und die Landung geht glatt und sicher von statten. Heute will Las Luftschiff seine große Heimfahrt von Frankfurt nach Bitterfeld antreten.
Neckarsulm 23. Okt. (Aviatik.) Die bekannten Sportsleute Flinsch, Stuttgart, und der erfolgreiche 8.11. Fahrer Wiencziera, Neckarsum, haben sich einen Antoinette-Flugapparat erworben, denselben Typ, mit welchem Latham seine Erfolge erzielte. Die Herren beabsichtigen damit, die demnächstigen Konkurrenzen zu bestreiten, zunächst diejenigen von Monaco. Wir werden daher in Bälde auch in Württemberg Flugmaschinen zu sehen bekommen.
Blaubeuren 23. Okt. Vor einige» Tagen spielte sich auf der Staatsstraße Gerhausen- Altental ein eigenartiger Vorfall ab. Ein Auto kam in rasendem Tempo von Gerhausen in der Richtung gegen Ulm gefahren. Der Lenker dieses Fahrzeuges, der offenbar ein ihm begegnendes, mit Pferden bespanntes Fuhrwerk nicht beachtet hat, fft mit demselben zusammengestoßen, wobei der Fuhrmann, ein Dienstknecht der Gebrüder Bosch in Altental vom Fuhrwerk herunter in die gepolsterten Sitze des Autos geworfen wurde, ohne hiebei Schaden zu nehmen. Ein Pferd wurde eine Strecke weit geschleift und erlitt eine nicht unerhebliche Verletzung; auch das Fuhrwerk wurde beschädigt. Der Lenker des Autos, der aus Stuttgart ist, ist bekannt; er kam mit dem Schrecken davon und wird den Schaden zu ersetzen und zu verantworten haben.
Biber ach 23. Okt. Der Kampf wogt hin und her — der Kampf auf dem Rathaus nämlich. Im heute erschienenen Anzeiger vom Oberland verteidigt der Stadtschultheiß sein Verhalten in einer Bausache wieder in Form einer mehrere Spalten langen amtlichen Bekanntmachung des Stadtschultheißenamts. In der gleichen Nummer desselben Blattes ergreifen die
„Ich weiß, Tante Marianne."
„Er hat zu mir über Armand gesprochen. Ich bin sehr traurig, sehr."
„Warum denn? Steht es so schlecht?"
„Wie man's nehmen will, mein Kind. Für sein Leben ist keine Gefahr — aber—" sie stockte — „aber denke nur, Inge—" Schluchzen unterbrach ihre Rede.
„Tante Marianne," sagte Inge zärtlich teilnehmend.
„Denke nur, Inge, er wird ein Krüppel werden — mein schöner, flotter, lieber Junge — ein Krüppel! Damit ist sein ganzes Leben, sein Glück, alles, vernichtet." Sie schluchzte heftiger.
„Aber nicht doch, Tante Marianne," wehrte das junge Mädchen ab, „wie kann der ein Krüppel werden? Ein wirklicher Krüppel! Es handelt sich doch nur um einen Hüftenbruch."
„Ja, ja, freilich, aber dadurch wird eine Verkürzung eintreten."
„Eine Verkürzung? Nun Tante Marianne, dann wird er eben etwas hinken — ist denn das so schlimm?"
„Freilich, mein Kind, und die Narbe über der Stirn?" Ihr Mutterherz zitterte für das Glück des Sohnes.
Armand liebte Inge. Wenn Inge nun aber durch diesen körperlichen Fehler zurückgeschreckt würde, wenn sie sich nicht entschließen könnte, Armands Frau zu werden? Ueberwältigt von ihrer Mutterliebe und ihren Muttersorgen, schlang sie plötzlich beide Arme um den Nacken des jungen Mädchens, drückte ihr Gesicht gegen Inges Schulter und weinte bitterlich.
Die tapfere, tatkräftige Frau, die so manches Weh des Lebens mutig überwunden, die ihres Gatten, ihres Sohnes Stütze gewesen, jetzt in dieser Stunde war sie nur Weib, und des Weibes stärkstes, heiliges Empfinden, die Mutterliebe, trug über alles andere den Sieg davon. Und während sie an dem Halse des Mädchens schluchzte, wuchs in Inges Brust ein ganz eigenartiges, starkes, leidenschaftliches Empfinden empor.
„Tante Marianne," flüsterte sie, „Tante Marianne, warum weinst Du so schmerzlich?"
„Weil ich Armand über alles liebe, Inge, und weil ich mir sage, daß vielleicht einmal sein Lebensglück an diesen elenden Aeußerlichkeiten scheitern könnte."
„Das glaube ich nicht, Tante Marianne," sagte Inge bestimmt. „An Aeußerlichkeiten dieser Art kann kein Glück scheitern — oder es war keins," setzte sie leise hinzu.
„Inge!" Frau v. Ferni richtete sich auf, ihre und des Mädchens Augen trafen sich, eines las in der Seele der andern, und sie verstanden sich.
„Inge — er liebt Dich!" flüsterte Marianne. „Aber jetzt, wo alles so anders geworden — Inge, mein Kind, überlege Dir's wohl — prüfe Dich Inge, prüfe Dich ernstlich. Denke nicht an uns, denke an Dich, an Dich zuerst. Du bist es, die hier in erster Linie steht."
Aber Inge dachte nicht an sich; sie dachte nur daran, daß die Stunde gekommen, wo sie, die Arme, Heimatlose, der Reichen etwas geben könne, der gütigen, reichen Frau, die ihren Eltern so viel gewesen, die ihr, der Verwaisten, eine Heimat geboten. Und — es war ja nicht einmal ein Opfer, sie liebte ihn.
Mit ihren schlanken, weißen Händen faßte sie die Mariannens und zog sie an ihr stürmisch klopfendes Herz.
„Tante Marianne," sagte sie leise, „ich liebe ihn."
„Inge!" jubelte die Frau. „Liebste — Du nimmst mir eine Sorgenlast von der Seele. Du liebst ihn, Du liebst ihn trotz allem und allem. Du wirst ihn glücklich machen. Wenn Du an seiner Seite stehst, dann kann ich abkommen, dann hält er das Glück an seinem Herzen, dann hat er einen guten Kameraden. Inge verlaß ihn nicht."
„Nie, Tante Marianne, nie," flüsterte sie und küßte die Hände der Frau, und durch ihre Seele zog ein großes, heiliges Gefühl von Liebe, Dankbarkeit und Opfermut.
(Fortsetzung folgt.)