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müßten erweitert werden. ES gebe auch zu viele Parteien, die überflüssigste sei die konfessionelle Zentruwspartci. Nach einem Ausspruch des Papstes gehe es den Katholiken in Deutschland am Besten. Also sei auch die schwarze Garde kein Bedürfnis. Kirchliches und weltliches, religiöses und bürgerliches Leben seien streng zu trennen. Die Sonderinteressen vertretenden Parteien seien ebenso überflüssig. Alle liberalen Elemente des Bürgertums müßten einig zusammenstehen. In Anlehnung an das bekannte Bibelwort sollte der Satz Geltung haben:Suchet des Reiches Bestes, dann wird es Allen Wohl gehen". Nachmittags fand auf dem fahnengeschmückten Fest­platz in den herrlichen Anlagen auf dem Gigeiberg die große öffentliche Volksversammlung statt Land- tagsabzeordneter Liesch ing sprach zunächst über die Reichsfinanzreform. Nach einem Hinweis auf die historische Entwicklung der Reichsfinanzen führte Redner aus: Die erste Reichsfinanzreform habe absolut nicht das gehalten, was sie versprochen habe. Auch jetzt müsse man größte Vorsicht gegen­über den von den Konservativen und dem Zentrum vorgeschlagenen Steuern walten lassen. Bis jetzt sei die ganze Behandlung der Finanzfrage eine Leidensgeschichte ohne Gleichen gewesen. Eine Re­form nur mit direkten Steuern durchzuführen, sei unmöglich und auch die Sozialdemokratie werde das nicht wagen. Für Württemberg würde es sich dabet um die Verdopplung der Ein­kommensteuer handeln. Richtiger wäre cs gewesen, wenn die Regierung sich sofort auf den Standpunkt des liberalen Programms gestellt hätte. Wenn die Konservativen von Thron und Altar und Familien­sinn sprechen, so meinen sie damit ihren Geldbeutel. Die Liberalen haben schließlich Konservative und Zentrum allein wirken lassen. Nachdem Liesching die Zentrumspfarrhaus Politik sowie die vorgeschlagene Kotierungssteuer streng verurteilt hatte, gab er dem Wunsche Ausdruck, daß, wenn das mobile Kapital besteuert werden solle, der Großgrundbesitz ebenfalls mitgetroffen werden müßte Die Parfümsteuer sei ungerecht und belaste die Industrie schwer. Durch die Banderole würden die Damen bald erkennen, wie hoch der Stärkegrad der Liebe ihrer Verehrer eigentlich sei. Bei einer Kohlensteuer hätten die inländischen Kohlenkonsumenten die Zeche zu be­zahlen. Bezüglich der Besteuerung von Beleuchtungs­körpern müsse man HerrnsGröber fragen, ob er nichts wisse von der Bewegung zur Einrichtung einer oberschwäbischen Ueberlandzentrale. Diese Steuer laufe auf eine starke Belastung des Mittelstandes hinaus. Auch die Mühlenumsatzsteuer sei zu ver­werfen. Die Regierung trage die Schuld an der eingetretenen babylonischen Verwirrung. Unter Hinweis auf PayerS letzte Reichstagsrede schloß Liesching mit dem Wunsche, daß sich der konservativ­klerikalen Phalanx eine solche aller liberalen Ele­mente einschließlich der Sozialdemokratie entgegen­stellen möge. Die Zukunft des Vaterlandes hängt davon ab, daß die Interessen der Allgemeinheit den Sonderinteressen übergeordnet werden. LandtagS- abg. Dr. Elsas sprach sodann über allgemeine Reichspolitik. ES fehle bei uns an dem Ausbau der Verfassung, an einer konstitutionellen Verfassuug und Regierung. Solange der große Einfluß des

in geschlossenen Sitzungen tagenden, an Instruktionen gebundenen Bundesrats, nicht beseitigt wird, be­kommen wir keine besseren Verhältnisse. Die Un­sicherheit und Unklarheit der politischen Lage ist in Deutschland permanent. Der ganze Schlüssel der politischen Situation ist das Festhalten Preußens an dem elendesten aller Wahlrechte. Die Politik der Vor­macht Preußen wirkt lähmend auf die Verhältnisse im Reich. Wie in Preußen die Justiz gehandhabt werde, das zeige der Fall Eulenburg. In Süddeutschland wäre eine solche Gerechtigkeit unmöglich. Ein Stutt­garter Fürst Eulenburg wäre weder bis Gastein noch bis Biberach gekommen. Der Schlüssel der ganzen politischen Situation liegt auch darin, daß die preußi­sche Regierung es einfach nicht wagt, die Erban- sallstcuer gegen die Junker einzuführen, weil da­durch deren Schandtaten zu Tage kommen müßten. Die Erbanfallsteuer sei eine Offenbarung?- und Manisestationssteuer. Wie kamen nur das abge­setzte Zentrum und seine alte Liebe, die Konservativen mit einem Male wieder zusammen? Redner weist auf die Worte Goethe's hin, von den Heiligen und Rittern, die Kirche und Reich zum Lohn nehmen. Der Familiensinn der katholischen Geistlichen werde bei der Erbanfallsteuer doch garnicht berührt. Als das Zentrum, vertreten durch den Kapuziner Gröber und Spahn, den Konservativen die Branntwein­liebesgabe dargebracht hatte, kamen beide wieder zusammen. Wir befinden uns jetzt geradezu in einer Krisis. Payer sei es hoch anzurechnen, daß er mit unerschütterlichem Mut an der Erbanfallsteuer fest- halte. Man solle den Reichstag auflösen und den Liberalen zurufen: Macht die Türe zu. Die Komödie ist zu Ende. Dann sei es notwendig, die deutsche Arbeiterschaft aufzurütteln und sie zu einer praktischen Politik zu bewegen. Man könnte jetzt befriedigt ausrufen: Gott sei Dank, der Block ist zum Teufel. Wenn die Regierung den letzten Rest von Autorität verlieren will, dann soll sie es tun. Der Reichs­kanzler Fürst Bülow wird verschwinden und der neue Reichskanzler nicht lange mit dieser Mehrheit regieren. Wir aber ireten dann wieder auf den Boden der alten, gesunden Opposition. Ich glaube an die Kraft der Demokratie und ihre Gedanken werden noch einmalzum Segen des Vaterlandes ausschlagen. LandtagSabg. Nägele behandelte die Landespolitik. Bezüglich der Schulnovelle führte er aus, daß die Demokraten keine Gegner des konfessionellen Unterrichts seien, aber auch keine Freunde der konfessionellen Schule. Wir haben die Möglichkeit der Einführung der Simultanschule, das achte Schuljahr und die Ertei­lung des Religionsunterrichts durch die Geistlichen gewünscht. Die Einführung der fachmännischen Schulaufsicht stelle sich also als dasgottlose" oder wie ein Mitglied der Ersten Kammer gesagt haben sollverruchte" Schulgesetz dar. Prokurist Jlg erinnerte an das Verhältnis zwischen Zentrum und Volkspartei in Oberschwaben in früherer Zeit, da Männer wie Probst die Katholiken aufforderte, gleich im ersten Wahlgang für den Demokraten zu stimmen. Nachdem Redner den Vorwurf der Religionsfeind­lichkeit der Volkspartei energisch zurückgewiesen hatte, verglich er die frühere Windthorstpolitik mit der jetzigen Windfahnenpolitik des Zentrums. Nicht das Zentrum, sondern die Volkspartei kämpfe für Wahr­

heit, Freiheit und Recht. Bei dem abends stattge­fundenen Bankett hielt Landtagsabgeordneter Betz eine Rede über die Demokratie als Trägerin der Friedensidee.

Cannstatt 19. Juni. Das 60jährige Jubiläums- und Schlußschießen der Schützengilde Cannstatt hat heute vormittag begonnen. Der Schießstand war in eine Fest- und Budenstadt umgewandelt. Vormittags 7 Uhr ertönte auf dem Marktplatz großes Wecken. Das Festschießen begann mit 2 Böllerschüssen. Unter den geladenen Gästen befand sich der Oberbürger­meister in seiner Eigenschaft als Ehrenpräsident.

Er begrüßte, begleitet von den Vorstandsmit­gliedern der Gilde um ^»10 Uhr den Herzog Albrecht und die Herzöge Robert und Ulrich, die auf dem Festplatz erschienen waren, während der König, der das Protektorat übernommen hatte, sich hatte entschuldigen lassen. Die Herzöge beteiligten sich lebhaft am Schießen und verließen, nachdem sie die gestifteten Schützentaler und Medaillen gestiftet hatten, den Festplatz, worauf das allgemeine Festschießen begann und sich den ganzen Tag über hinzog.

Talheim 20. Juni. Auf tragische Weise hat eine hiesige Familie ihre Kinder fast gleich­zeitig verloren. In der Nacht vom Donners­tag zum Freitag starb das 4 Jahr alte Kind des Engelwirts Schneider infolge einer Krank­heit, und am darauf folgenden Vormittag 11 Uhr hat der Vater im Schuppen beim Haus sein 1 '/r Jahre altes Kind ebenfalls tot aufgefunden.

Es waren in diesem Schuppen zwei frisch an­gestrichene Wagenleitern zum Trocknen auf Holz­blöcken aufgestellt. Anscheinend wollte das Kind unter diesen Leitern durchschlupfen, wobei die eine umfiel und das Kind unter sich begrub.

Da dem kleinen Geschöpf der Brustkorb zugedrückt wurde, war es am Schreien verhindert und mußte, mit dem Gesicht dem Boden zugekehrt, elend ersticken. Als der Vater hinzukam, waren alle Wiederbelebungsversuche erfolglos.

Ebingen 20. Juni. Der Fabrikant Engel-Ott stürzte gestern mittag auf unauf­geklärte Weise zum Fenster hinaus und schlug dabei mit dem Kopfe so unglücklich auf, daß er sofort tot war. Wahrscheinlich wollte er außer­halb des Fensters etwas befestigen, verlor das Gleichgewicht und fand keinen Stützpunkt mehr.

Gmünd 19. Juni. Stadtpfarrer Oehl- schläger von Lorch sprach gestern Abend in der Wanderausstellung des schwäbischen Gauverbandes gegen den Alkoholismus über das Thema:Gibt es ein Heilmittel gegen die Trunk­sucht?" In längeren einleitenden Ausführungen führte Redner den wiederum in erheblicher An­zahl erschienenen Höhrern vor Augen, welch große 5 Gefahren der Genuß des Alkohols, auch der

Jetzt stand Sibylle wieder an einem Fenster, das sie behutsam öffnete, um nach Regina und dem Kinde Ausschau zu halten. Dort saß sie ihr zu Füßen auf der einfachen Bank und hielt ihren Knaben an der Brust. Um sie her standen die frommen weißen Lilien und überschütteten mit Duft die mütterliche Frau, die ihrem Kinde das Köstlichste gab, das sie zu verschenken hatte: Leben von ihrem Leben, Gesundheit und Kraft.

War sie nicht selbst so rein und gut, stolz und lieblich zugleich wie diese Lilien? Und sie, Sibylle, hatte sie so zu verdächtigen gewagt. Hatte Gott selbst nicht gesprochen, als er den beiden den Sohn und Erben schenkte? War es nicht sein Wille, daß Wolf Dietrich der Nachfolger ihres Sohnes würde, damit eine starke Hand das Erbe der Väter halte und nicht die eines unmündigen Knaben?

Die Blumen dufteten, die Sonne leuchtete, und die Vögel jubilierten in die köstliche Frische des Sommermorgens hinein, da zog zum ersten Male nach der Unglücksnacht wieder Frieden in die Seele der weinenden Frau. Und mit jeder Träne, die da floß, erstarb Haß und Bitterkeit. Sibylle war dem Leben wiedergewonnen und der Liebe.

12. Kapitel.

Wolf Dietrich hatte gesagt, auf dem Lande könne die Kinderstube gar nicht voll genug sein. Und sein Wunsch sollte Erfüllung finden. Dem Majoratserben folgte ein Zwillingspärchen, zwei kräftige Mädchen, und als diese zwei alt waren, lag wieder ein dickes Bübchen in der Wiege, das den Namen seines Vaters erhielt.

Regina, die zu immer reiferer Frauenschönheit erblühte, hatte keine Sehnsucht mehr, einsame Fahrten durch Wald und Bruch zu machen. Sie war eine zu sorgliche Mutter und hütete mit leidenschaftlicher Hingabe ihre klare Schar, so daß Wolf Dietrich seinen Wunsch sehr energisch ver­treten mußte, wollte er einmal seine Frau ganz für sich allein haben.

Auch heute gab es einen Kampf. Regina sollte ihn in den Wald

begleiten, wo die diesjährige Abholzung begonnen hatte. Man war im Januar, und eine leichte Schneedecke bedeckte den Boden. Frische Kälte herrschte seit einigen Tagen, und von Himmel strahlte die Sonne und machte das weiße Kleid der Erde - zu einem glitzernden, schimmernden Festgewand.

Es ist ja gar nicht weit, Regina. Und es ist köstlich draußen."

Ich dachte, nachher ein wenig mit Wilhelm im Park umherzulaufen," wehrte Regina ab.

Verwöhne den Jungen nicht so sehr, der kann mit Fräulein Rosa spazieren gehen. Und die anderen sind bei Fräulein Haller auf das beste ausgehoben. Tu mir die Liebe und komm mit."

Dann will ich Großmama bitten, einmal nachzusehen."

Sibylle war natürlich sofort bereit, sie wurde von allen Kindern nach Wilhelms Beispiel nur Großmama genannt. Und Wolf Dietrich rief sie auch so, da er sie nicht gut Mama titulieren konnte.

Das ist recht, daß du Regina aus der Kinderstube hervorlockst, Wolf Dietrich. Sie wird die richtige Glucke und vernachlässigt alles andere darüber", scherzte Sibylle.

Als ob du es nicht gerade so machtest, Großmama", neckte Ellern. Wilhelm kann gar nicht oft genug zu dir zum Besuch kommen."

Und wie er an dir hängt, Mama, das ist geradezu rührend", rühmte Regina.

Er kann gar nicht genug von seinem Großvater hören. Ich finde, er sieht ihm ähnlich."

Das ist ja auch begreiflich, den Onkel Ellern und mein Vater hatten große Familienähnlichkeit miteinander", bestätigte Wolf Dietrich.

Dort kommt er, der kleine Junker", sagte Sibylle leise.Ich sah nie einen vornehmeren, schöneren Knaben, wie ihn. Gott erhalte ihn uns."

(Fortsetzung folgt.)