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v. Weizsäcker, Präsident v. Stieler, Oberbaurat v. Neuser und Ministerialrat Metzger vertreten. Auf der Tagesordnung stand als erster Punkt eine Anzahl von Eingaben betreffend den Bau einer Bahn von Enzweihingen über Markgröningen nach Ludwigsburg. In einer früheren Eingabe suchten die beteiligten Gemeinden Konzessionierung einer Privatgesellschaft und um die Gewährung eines Staatsbeitrags von 25 000 ^ für das Kilometer Bahnlänge nach. Der Berichterstatter Abgeordneter Andre sprach sich damals gegen den Bau der Bahn durch eine Privatgesellschaft aus. Die Kommission schloß sich in ihrer Sitzung vom 13. März 1908 dieser Auffassung an. Von Seiten der beteiligten Gemeinden wurde inzwischen zwei neue Eingaben eingereicht. Der Berichterstatter erklärte in der heutigen Sitzung zunächst die Erklärungen der K. Staatsregierung abwarten zu wollen, bevor er einen bestimmten Antrag stelle. Auf die vom Berichterstatter aufgeworfenen Fragen antwortete Staatsminister v. Weizsäcker indem er ausführte: Die Regierung könne der Erbauung einer Privatbahn keine Sympathie entgegenbringen. Das Ergebnis der technischen Untersuchungen spreche gegen die Einführung einer Privatbahn in Ludwigsburg. Die Stichbahn Ludwigsburg—Markgröningen werde 8,4 Klm. lang; der Bauaufwand betrage 1030 000 die Betriebseinnahmen berechne die Verwaltung auf 70000-^, die Betriebsausgaben auf 43000°^, die Verzinsung des dem Staat verbleibenden Bauaufwands betrage 2,9°/». Es handle sich also um eine „bessere" Nebenbahn. Nach Asperg zu bauen sei nicht empfehlenswert. Abg. Keil macht geltend, daß man endlich einmal den berechtigten Wünschen der Stadtgemeinde Markgröningen entgegenkommen müsse. Berichterstatter Andre stellt den Antrag: 1) Die Eingaben der Gemeinden Markgröningen, Möglingen und Ludwigsburg um Erbauung einer normalspurigen Bahn durch den Staat der Kgl. Regierung zur Berücksichtigung zu überweisen. 2) Die Eingabe der Gemeinden Oberriexingen, Unterrieringen und Enzweihingen um Fortsetzung der unter Ziffer 1 genannten Bahn bis Enzweihingen der Kgl. Staatsregierung zur Erwägung zu übergeben. 3) Die früheren Eingaben damit für erledigt zu erklären. Der Antrag wird einstimmig angenommen, lieber die Bitte der Gemeinden Nürtingen, Kretzingen, Plattenhardt usw. um Fortsetzung der Filder- bahn von Neuhausen nach Nürtingen berichtet Abg. Liesching und stellt den Antrag, die Eingabe der Regierung zur Kenntnisnahme zu übergeben. Dr. Nübling tritt auf Uebergabe zur Erwägung ein. Bei der Abstimmung wird der Antrag Liesching gegen die Stimmen der
Abgeordneten Dr. Bauer und Dr. Nübling angenommen. Abg. Liesching referierte sodann über die Eingabe des Eisenbahnkomitees Urach- Münsingen betr. die Projektierung eines späteren Anschlusses der Filderbahn an die Hauptbahn in Metzingen und der Schaffung einer Verbindungsbahn Bernhausen bezw. Aich—Neckartenzlingen-Metzingen und beantragte Kenntnisnahme. Der Antrag wird ohne Diskussion angenommen. Die nächste Sitzung ist noch unbestimmt.
Stuttgart 15. Juni. Die Zweite Kammer erledigte heute in fortgesetzter Etats- beratung ohne nennenswerte Debatte das Kapitel Bodenseedampfschiffahrt und lehnte zum Kap. 110 n Aufwand an Postporto, das in Zukunft aus die einzelnen Verwaltungen übernommen werden soll, einen Antrag Graf (Z.) betr. Abschaffung der Dienstmarken ab. In der nun folgenden Beratung von Eisenbahnpetitionen wurde die Frage der Weiterführung der Heubergbahn nach Trossingen der Regierung zur Erwägung übergeben. Längere Erörterungen knüpften sich an zwei Eingaben um Erbauung einer Nebenbahn von Ellwangen nach Unter- sckneidheim und von Bopfingen nach Tannhausen. Es entspann sich, wie Minister v. Weizsäcker bemerkte, ein Krieg zwischen Ellwangen und Bop- singen, deren Vertreter, die Abg. Walter und Dambacher einerseits und Schmid-Neresheim andererseits, die Eingaben der Regierung gerne zur Berücksichtigung übergeben hätten. Das Haus entschied sich für Erwägung, um keine Hoffnungen zu erwecken, die in nächster Zeit doch nicht in Erfüllung gehen könnten. Morgen Fortsetzung u. a.
Stuttgart 15. Juni. (Strafkammer.) Wegen Vergehens gegen § 184 Ziffer 3 des Strafgesetzbuches, betreffend die Anpreisung, Ausstellung oder Ankündigung von Gegenständen, die zu unzüchtigem Gebrauch bestimmt sind, hatte sich heute der durch seine Vorträge über „Sexualethik" bekannte vr. mcä. Hans Fischer aus Berlin, der diese Vorträge gegen ein Honorar von je 150 auf Veranlassung eines Magdeburger Verlagsbuchhändlers hielt, zu verantworten. Dieser sogenannte Buchhändler entpuppte sich als Verkäufer und Vertreiber eines Apparates zur Beibringung antikonzeptioneller Mittel. Der Staatsanwalt betonte, daß Dr. Fischer lediglich für diesen Apparat seine Vorträge gehalten habe, und beantragte eine Geldstrafe von 500 Der Verteidiger plaidierte für Freisprechung. Das Urteil lautete auf 100 Geldstrafe oder 10 Tage Gefängnis.
Stuttgart 15. Juni. Der Polizeibericht schreibt: Gestern vormittag kurz vor 9 Uhr wurde in einem Straßenbahnwagen der Linie
wollten ihr Recht haben. Sie dachten nicht mehr der düsteren Vergangenheit, sie dachten nur an die jetzige gute Zeit und das Glück ihrer Herrschaft.
„Laßt die Toten ihre Toten begraben!" flüsterte Sibylle vor sich hin und flüchtete vor der Freude, die sich überall breitmachte, zu dem Erbbegräbnis. Sie ging alltäglich hierher, es war, als müsse sie sich hier stets neue Kraft holen, um den Haß gegen die beiden Glücklichen lebendig zu halten. Sie sah zwar in Wolf Dietrich nicht mehr den Mörder ihres Sohnes, wenn sie sich hätte ehrlich Antwort geben wollen, aber der Verdacht, daß Regina Wolf Dietrich zu Lebzeiten ihres Sohnes geliebt, und daß sie einen Meineid geschworen hatte, verdichtete sich bei ihr immer mehr zur Tatsache. Wenn sie nur den Beweis hierfür erbringen könnte, dann hielt sie beide in ihrer Hand, und ihr Sohn war gerächt.
„Gott wird sie in ihrem Glück strafen!" flüsterten ihre Lippen wieder mitten aus ihren düsteren Gedanken heraus. „Ob Wolf Dietrich ihre Schuld jetzt weiß?"
Schritte, die die Treppe zum Gewölbe herunterkamen, schreckten sie auf. Wer konnte es sein? Wolf Dietrich!" Wie ein Aechzen verklang es in dem niedrigen Gewölbe. Keines anderen Gegenwart konnte sie hier ertragen, am wenigsten aber die des Mannes, der mit Regina an ihren Zufluchtsort kam. Die dunklen Schleier fest um sich ziehend, drückte sich Sibylle hinter den hohen Särgen der Gruft an die Wand, dort, wo das Dunkel des dämmernden Lichtes nistete. Im Herzen ein tiefes Grauen, wurde sie ungesehen Zeuge, wie das junge Paar an den Sarg des Toten trat, der ihrem Glück hatte weichen müssen.
„Gib mir den Kranz, Regina", sagte Wolf Dietrich und legte behutsam das köstliche Gewinde auf das dunkle Eichenholz. „Wie bleich du bist, du hättest mich nicht begleiten sollen."
„Mein Platz ist an deiner Seite, Wolf Dietrich."
„Mit reinen Händen schmücken wir den Sarg. Wir taten nichts Unrechtes, Regina. Du hieltest die Treue, und ich ging um meiner Liebe willen in die Ferne, mehr zu tun, war uns nicht möglich."
Gaisburg—Traubenstraße ein verheirateter 55 Jahre alter Kaufmann von einem Gehirnschlag getroffen. Der Kranke wurde nach seiner Wohnung übergeführt, wo er bald daraus starb. — Auf dem alten Postplatz wurde gestern vormittag 8 Uhr eine 53 Jahre alte Weißnäherin von einem Straßenbahnwagen, als sie vor diesem das Geleise überschreiten wollte, erfaßt und zu Boden geworfen. Sie trug Hautschürfungen im Gesicht und eine Verletzung der rechten Schulter davon. — Am letzten Donnerstag verbrühte sich ein 22 Jahre altes Dienstmädchen in einem Hause der Mozarrstraße beim Ausheben eines Kessels heißen Wassers vom Herde den linken Fuß.- Das Mädchen wurde gestern ins Marienhospital übergeführt. — Gestern nachmittag 2'/- Uhr wurde ein städtischer 60 Jahre alter Arbeiter auf dem Städtischen Lagerplatz Ecke der Werder- und Neckarstraße vom Schlage gerührt und war sofort tot. — Gestern abend 5'/- Uhr wurde in dem Walde bei Südheim rechts der Schießplätze der Stuttgarter Schützengilde eine verheirateter, 52 Jahre alter Taglöhner erhängt aufgefunden.
Besigheim 15. Juni. Die zwei Kinder des Bahnwärters Ernst in Könbronn bei Schrozberg (ein 12jähriges Mädchen und ein /jähriger Knabe), die, wie berichtet, seit Anfang voriger Woche vermißt wurden, sind nun in hiesiger Gegend aufgefunden worden. Sie kamen vorigen Freitag, nachdem sie unterwegs mehreremal übernachtet hatten zu Verwandten in dem benachbarten Hettisheim. Dort wurde der Knabe von seinem benachrichtigten Vater abgeholt. Das Mädchen war indessen auf den Bahnhof Bietigheim gelaufen, wo es sich an eine hiesige Frau anschloß, die es mit nach Hause nahm. Gestern wurde die kleine Ausreißerin, die sich einen falschen Namen beigelegt hat, ebenfalls nach Hause befördert.
Göppingen 16. Juni. Hier wurde ein sozialdemokratisches Zeitungsunternehmen gegründet und bereits in das Genossenschaftsregister eingetragen. Die Druckerei gilt als Vorläufer einer sozialdemokratischen Zeitung für den 10. Reichstagswahlkreis.
Göppingen 15. Juni. Der „Verein Brieftaube Göppingen" hatte wieder einen großen Erfolg zu verzeichnen. Er erzielte bei dem Brieftaubenfliegen ab Metz das beste Resultat und erhielt den Ehrenpreis des Königs von Württemberg (Silberner Pokal). Der Ulmer Brieftaubenklub erhielt als zweitbester den ersten Verbandspreis. Die Tauben wurden 6 Uhr 35 Min. in Metz abgelassen. Die ersten trafen in Göppingen um 9 Uhr 58 Min. ein, erzielten also, da die Entfernung Metz—Göppingen 261
„Und doch werde ich hier in Groß-Ellern meines Glückes nicht von Herzen froh. Die Erinnerung ist noch zu mächtig", klagte Regina.
„Es ist nur menschlich, mein Herzensweib. Es wäre unnatürlich, wenn es bei dir anders wäre. Mit der Zeit wirst du es schon lernen, schon aus Liebe zu mir."
Wolf Dietrich wollte den Arm um die Bleiche schlingen, aber sie wehrte ihm, mit bangen Augen um sich schauend: „Nicht so, es ist mir hier, als ob die Augen des Toten voller Eifersucht auf mir ruhten. — Dort — in der Ecke — Wolf Dietrich!"
Ein geller Schrei erfüllte die heilige Stille mit unheimlichem Leben, und Regina klammerte sich hilfesuchend an ihren Mann, ihren Kopf an seiner schützenden Brust verbergend. Er hielt sie mit starkem Arm, seine klangvolle Stimme klang ebenso ruhig wie sonst, als er fragte: „Tante Sibylle, warum verbirgst du dich vor uns? Es kann dich doch nicht verletzen, wenn wir dem Toten die ihm gebührende Ehre erweisen. Gib Frieden wir wollen ja nichts lieber, als dir dein schweres Leid mittragen helfen!" Regina hatte den Kopf erhoben und sich von ihrem Mann gelöst, als sie den Gegenstand ihres Schreckens erkannte. Auch sie streckte ihre Hand der Frau entgegen, die langsam auf sie zukam.
Im Leid erstarrt! So blickte das Gesicht Sibylles zu ihnen hin, und mit heiserer Stimme gebot sie: „Laßt mich meinen Weg gehen, er hat nichts gemein mit dem euren. Diese Stätte des Todes ist mein Platz, ihr gehört hier nicht her; denn euer Glück stört dem Toten die Ruhe. Geht, wenn ihr mir was Liebes tun wollt. Dieser hier gehört mir jetzt allein, ihr habt ihn im Leben nicht geliebt, so laßt ihn auch im Tode von euch vergessen sein. Er hat mich, euch braucht er nicht. — Geht!"
„Komm," sagte Wolf Dietrich. „Wir wollen uns Tante Sibylle nicht ausdrängen. Vielleicht kommt noch ein Tag, wo sie unserer und unserer Liebe bedarf."
„Niemals!"
„Die Zeit wird es lehren." (Fortsetzung folgt.)