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Drei Tage lang hatte der Novemberhimmel seine Schleusen schon geöffnet. Silbcrgrau glitzerten die nassen Fäden hernieder. Einförmig tönte der Schall ihres Zerspritzens, und traurig wirkte ihr Schein, wenn sie zerrannen.
Soeben erhellte sich das Licht über dem Stangenort. und ein feiner Schlitz tat sich in dem düsteren Wolkcnmantel auf. Ein Weilchen dauerte es noch, dann mäßigte sich der Regenguß, wurde sanft und fein, plärrte nur noch dünn über die Kiefernnadeln, tröpfelte noch ein klein wenig hinternach und wurde dann still. Es hatte aufgehört zu regnen.
Der Abcndwind strich durch den Ort und jagte die Tropfen aus den grün erglänzenden Wirteln. Alsbald erhob sich der Ruf der Amselhähne ringsum. Der Bussard schüttelte sein Gefieder trocken und blieb noch einen Augenblick in der Eiche am Wiesenrande sitzen, hoffte er doch noch auf einen guten Fang. Die Häher frohlockten mit einem Male in dem Wipfel ihres Nahrungsbaumes und kümmerten sich keineswegs um den ruheliebenden Mauser. Da erhob er sich und strich lautlos davon. Aber auch die Häher wurden wieder still, und ehe man es versehen, hatten sie sich heimlich und leise in das dichte Stangenholz zum Schlafen eingeschwungen.
Während sich die Ohreule auf einem niedergetretenen Eichhornkobel zum Beutefluge rüstete, knackte es in der Dämmerung des Stangenlabyrinths, bald hier, bald dort, als träte jemand unschlüssig hin und her. Ganz leise hörte es sich an. ganz behutsam, schüchtern säst, als fürchtete sich jemand, entdeckt zu werden. Flutsch, war die Ohreule durch das Wipselwerk davongeritten. Länger hatte sie nicht Zeit.
Es war kein Mensch, der dort verstohlen nach Pilzen suchte, auch kein Schlingensteller, der Wild meucheln wollte. Was mochte es Wohl kein?
Erregt zeterte der Zaunkönig über die ihm unwillkommene Störung seiner Nachtruhe.
Eilfertiger wurde nun auch der Sprung Rehe, der auf dem vielverschlungenen Wechsel vorüberzog. Es war höchste Zeit, daß der Pansen wieder gefüllt wurde. Vorsichtig trat die führende Nicke über die glänzende, rotbraune Streu.
- Der Rehbock, der ganz am Ende des sechs- köpfigen Rudels zog, war krank. Mühsam hielt er mit seinen Artgenossen Tritt. Bald blieb er zurück. Unsicher waren seine Schritte, und seine Lichter schienen trübe. Ab und zu Verweilte er an den Pfützen, schöpfte gierig daraus, um den Brand zu löschen, der in seinem Gedärme um sich fraß. Schließlich stand das Tier allein. Viel später trat er aus dem Dickicht als seine Gefährten, die über die Wiesen gewechselt waren.
Lässig pflückte der Bock einige grüne Blätter. Er versuchte, sie zu zerkauen aber die Unlust überkam ihn. Jede Bewegung schien ihm Schmerzen zu bereiten. Sein schöner weißer Spiegel triefte voller Unflat, und die einst so glatte seidenweiche Winterdecke seines Körpers wirkte ruffig und zerdrückt. Dünn griff der Hais über den Rumpf hinaus, und eingefallen umschatteten sich die Dünnungen vor den Hüftknochen. Die Lauscher waren weit zurückgenommcn. Eine stark geperlte Gabelkrone gipfelte über dem Jammer des Zerfalls.
Soeben war das Tier zwischen den aus- gewctterten Stauden Schafgarbe verschwunden. Dicht am Grabenufer hatte es sich niedergetan. So erwartete cs die Nacht in seinem Leid.
Die Nacht ist die Freundin für mancherlei Getier. Sie bringt die Aesung, sie gibt den Scklas und heilt damit manches Gebresten. In ihrem Schoße vollzieht sich die Wiedergeburt des Lebens gar oft mit plötzlicher Ueber- raschnng.
Die Füchsin am hohen Eichwege yat es oftmals am eigenen Leide gespürt. Helle Nächte ganz besonders sind ihr in lieber Erinnerung. Darum mag sie augenblicklich, wo die Sterne bereits am Firmamente funkeln, nicht länger in dem Kessel bleiben, zumal ihr erwachsener Sohn schon längst nach draußen drängt.
Lautlos ist das Paar schon an der Ausfahrt, wittert kurz in die fröstelnde Luft hinein und huscht wie eine rostbrandige Doppelzunge die Böschung hinab. Gegen'den Wind laufen die beiden Füchse.
Aus einem umgenurzten Roggenacker halten sie anfänglich Einkehr. Der verfängliche Duft von Mäusen bannt sie länger als gewohnt auf dem holprigen, freigiebigen Plaue. Aufmerksam liegen sie dem Fange ob. Mäuse sangen sich schlecht in der Finsternis. Es geht aber sofort besser, als der Mond seine volle Fahrt beginnt.
Plötzlich schrecken Rehe am Rande des Schlages Ein gelbliches Licht taucht au? dem Fahrwege Mf. Das Rumpeln eines Kastenwagens wird yvrbar und kommt stetig näher. Scharf beobachten Fuchs und Fähe das unheimliche, laut quietschende und stöhnende Gefährt und kalten es schließlich für geraten, sich zu emp
fehlen. Sie wären noch gerne geblieben; denn satt sind sie noch längst nicht von der kleinen Beute.
Quer durch den Wald schnüren sie. Ihre Lichter suchen emsig voran. Ihre feuchten Windfänge sind ganz auf neue Entdeckungen aus, und ihre Gehöre tasten sofort jedes Geräusch ab, ob nicht ein Erfolg daran haften möchte.
Der Wald ist still. Die Hasen, die sonst im Windschatten der Stämme ruhen, weilen längst draußen auf den Wiesen oder der Feldmark. die Rehe nicht minder, und die Kaninchen am Rande des Rieds — bumms, da klopfte eins schon zur Warnung für die anderen! — sind gar zu vorsichtig. Sie zu übertölpeln, ist auch für zwei Freibeuter ein schweres Stück Arbeit.
Aber vielleicht spielt der Zufall einmal glücklich mit. Instinktiv führt die Fähe zum Quell, der aus dem Ried sich talab schlängelt. Manchmal konnte sie schon in dem hohen Grase einen Fasan oder eine Schnepfe erhaschen. Der Rüde folgt seiner Mutter dichtauf und tut es ihr an Aufmerksamkeit und Vorsicht gleich.
Erfolglos schlüpfen Mutter und Sohn unter dem Fichtenbehang entlang und spiegeln sich für einige Herzschläge am Rande der Wiese in dem träger werdenden Wasserlaufe.
Unvermittelt wendet sich die Fälle herum. Der Luftzug hat ihrem Windfange soeben ein Geheimnis verraten. Einen Augenblick sich besinnend, zieht sie ihm nun entgegen. Der Rüde ist gleichermaßen von dem Geruch bestrickt. Lautlos schleichen die beiden durch das vergilbte Farnkraut. Die Begierde ist über sie gekommen. Trotzdem wird das Paar nicht schneller. Mit erstaunlicher Sicherheit schiebt es sich an sein Opfer heran, duckt sich immer tiefer in den falben Wuchs hinein und verschwindet zeitweise gänzlich darin. Nun ver
weilt die Füchsin und beobachtet. Sie hat das kranke Reh entdeckt. Ein Reh! Jede Muskel in dem Körper des Raubtieres ist gestrafft und beherrscht. Wie ans Ton gebrannt, so still lauert der Fuchs...
Vier feurige Seher schießen ihre Blicke durch den lichten Bestand verwitterter Knnigunden- kräuter...
Stelzbeinig zieht der siechende Bock bergauf. Er hat seine Lebensgefährten zurückwechseln sehen. Gewohnheitsmäßig will er ihnen folgen. Schwach in den Gelenken und müde in den Muskeln schleppt er sich hinterdrein. Teilnahmslos strebt er an den Ort seines früheren Seins.
Da rascheln die dürren Strohhalme am Graben. Die beiden Gesichter der Lauerer wandten sich rasch zum Sprunge zurück, dann sausten die rostbrandigen Leiber über das Wasser und schossen über die gilbende Grasnarbe dahin.
Nun erst war der Rehbock ihrer ansichtig geworden.
Einen breiten Schrei der Angst stieß er aus seiner Kehle. Er hatte seine Todfeinde erkannt. Mit hilflosem Schwünge versuchte er, zur Seite zu sprengen und ihnen zu entwischen. Seine letzten Kräfte setzte er daran.
Seine Flanken bebten, seine Nüstern zitterten. Der Brustkorb schien zu eng. Röchelnd Pfiff der Atem durch den Windfang. Seine Läufe schlugen
Quer durch den Wald schnüren sie. Ihre Lichter suchen emsig voran.
wie unsinnig nach dem jüngeren Fuchs. DauX sprang die Fähe ihm mit reißender^
Zahne entgegen und würgte ihn an der VtAl Drossel. Wie vom Blitze gefällt, sank der Reh-
bock in den Vorderknien zusammen, keilte mit den Hinterläufen und bäumte sich noch ein- verzweifelt empor, um die zähz
Last abzuschütteln, die Gewalt über ihn hatten Es gelang ihm nicht mehr. Jrrlichternd zuckten seine großen Seher über den Wiesenplay. Dann fuhr röchelnd der Atemstrom ans seine« Kehle. Dumpf fiel der Leib aus den taufeuchten Graswuchs. Aus der zerrissenen Schlag« ader pulste rubinrot der entweichende Lebens« quell. Hastig schlürfte der Fuchs davon.
In der Ferne schreckten die Rehe.
Gierig hielten die beiden Freibeuter ihr Morgcnmahl. Sie hatten wieder ein kranket Leben ausgelöscht, dem eine Gesundung nicht mehr möglich war.
Die Sonne hob die Nässe auf, und der aus« steigende Dampf umwallte in dichten Schwaden die blutige Stätte des Naturgerichts.
Zeichnung: Alex Harder (M)
Das Grab am rauhen Eck...
Eine Erzählung aus den Bergen von Wolfgang Kemler
Schon vor Jahren hatten Ingenieure den alten Berghofer auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die seinem Hofe und dessen Bewohnern von dem nahe hinter dem Hause empor- ragenden. zerklüfteten Felskar ständig drohte. Einmal müßte sich naturnotwendig nach der Schneeschmelze im Frühjahr oder schweren Gewitterregen von dem brüchigen und verwitterten Gestein, das heute schon unheimliche Risse und Sprünge zeigte, ein größerer Teil loslösen und niederstürzen. Dann über wäre der Berghof verloren. Und man gab dem alten Bauern den dringenden Rat. seinen Hos, den die Vorfahren offenbar in Unkenntnis der Gefahren nur wegen der guten Quelle, die hier entsprang, an diesen gefährdeten Ort gebaut hatten, abzubrechen und ihn an einer anderen, vollkommen sicheren Stelle des großen Besitzes wiederauszubauen. Der Bruckner Naz. ein alter Junggeselle, der ganz allein auf dem einzigen Nachbarhose hauste, hatte dem Berghofer und seiner Familie sein Haus für die Umbauzeit zur Verfügung gestellt.
Jedoch der alte Berghofer hatte nur den Kopf geschüttelt und lächelnd gemeint, nun stehe der Berghof schon über hundert Jahre, er habe vielen schweren Sturmnächten getrotzt, und vier Geschlechterfolgen hätten am rauhen Eck ruhig geschlafen. Warum solle das einmal anders werden? Unter keinen Umständen verlasse er den Platz, den sich einst seine Väter erwählten.
Jahre gingen. Als sich der einzige Sohn eine Lebensgefährtin holte, übergab der alte Bauer ihm Hof und Gut gegen eine lebenslängliche Rente. Dann kam wieder einmal eine Frühlingssturmnacht. In dieser Nacht starb am rauhen Eck der achtzigjährige Bruckner Naz, und mit gewaltigem Krachen stürzten einige riesige Felsblöcke vom Kar. Sie zerschmetterten einen kleinen Geräteschuppen, der etwa zwanzig Meter seitlich vom Berghofe stand. Das war für den jungen Bauer wie ein Fingerzeig Gottes.
Wenige Tage später erklärte er dem Vater, daß er von den Erben des Bruckner Naz den Brucknerhof gekauft habe und dorthin übersiedeln werde. Der alte Bauer widersetzte sich diesem Vorhaben nicht, erklärte aber, er bleibe auf dem Berghofe, bis seine Stunde schlage. Von diesem Entschlüsse war er nicht abzubringen. Kein Zureden des Sohnes und der Schwiegertochter hals. Sie mußten den alten Mann gewähren lassen. Bald hernach begann der Umzug. Im Berghofe wurde es still und leer. Nur der alte Mann lebte fortan, allein in dem großen, verlassenen Hause.
In einer dunklen Herbstnacht klopfte es an das Fenster des Berghofes. Der alte Bauer, der in der Stube sah und beim Scheine einer Kerze in einem Kalender las, horchte auf: „Bist du es, Kar)!'"
Aber eine ihm ganz fremde Stimme erwiderte: „Berghofer, mach' auf, ein müder Wanderer bittet um Rast."
Da erhob sich der Bauer, schritt aus der Stube und machte die Haustür auf. Auf einen Stock gestützt, stand ein hagerer Mensch mit Weißen Haaren und verwildertem Bart draußen.
„Woher des Weges?" fragte der Berghofer.
„Komme über das Joch und will nach Neubach. Dabei hat mich die Nacht überrascht. Kann ich hier etwas rasten?"
„Kommt in die Stube!"
Der alte Bauer führte den späten Gast ins Haus. „Ein bißchen Brot und Milch könnt Ihr haben" sprach er. „sonst habe ich nichts da. Ich gehe zu den Mahlzeiten zu meinem Sohn hinunter."
„Macht nichts, ich habe andere Schmerzen als Hunger. Ja. Berghofer, bist nicht jünger geworden."
„Das wird jedem so ergehen", meinte der Bauer kurz und fragte dann: „Uebrigens scheint Ihr mich zu kennen."
„Und wie. Berghofer! Du aber hast, wie es scheint, den Haller Max vergessen."
Da sprang der Bauer in die Höhe. Aus seinem Gesicht wich jeder Tropfen Mutes. „Du bist...?"
„Der Haller Max", vollendete der anocre spöttisch.
„Woher kommst du?"
„Von jenseits des großen Wassers. War eine Schinderei, als ich kein Geld mehr hatte. Endlich bekam ich das Fahrgeld in die Hand. Wie. das tut nichts zur Sache. Also da bin ich, denn ich weiß ein Plätzchen, wo ich meine alten Tage angenehmer verbringen kann. Meinst du nicht auch. Berghofer?"
„Haller", sprach der Bauer dumpf, „wir sind guitt. Ich gab dir damals viel Geld."
„Quitt?" lachte der andere voll Hohn. „Berg- Hofer. ich will dir was sagen: Wenn ich vergessen hätte, was ich einst am roten Stein oben Iah. wie in einer Mondnacht zwei auf Leben und Tod aneinander waren, wie der Stärkere endlich Meister wurde und den anderen in den Abgrund stieß, der Wilddieb den Forstgehilfen, wie dann die Leiche gefunden wurde und Volk und Behörden einen Unfall vermuteten und aus den einen nie der leiseste Verdacht siel, io daß er immer der angesehene Bauer blieb, wenn ich das vergessen hätte und du keinen'Groschen mehr besäßest, dann wären wir guitt. Beides ist aber nicht der Fall."
„Ich bin schon lange im Ausgeding, habe alles meinem Buben übergeben."
„Weiß ich alles, Berghofer. Trotzdem wirst du schon noch einen Spargroschen auf der Sparkasse haben. Ich bin bescheiden "
„Wieviel soll es sein?"
„Siebenhundert Schilling, dann siehst dn mich eine Weile nicht mehr."
„So vre! Geld habe ich Uichr oa."
„Macht nichts, ich komme wieder. Sagen wir. in drei Nächten um dieselbe Stunde."
„Es ist gut."
Der Fremde ging aus dem Hause. Bald hatte ihn die Nacht verschlungen. Er war aber pünktlich in drei Nächten wieder zur Stelle, erhielt vom alten Bauern das Geld und verschwand ohne Dank und Gruß im Dunkel...
Viele Monate hatte der Berghofer Ruhe. In einer stürmischen Frühlingsnacht aber klopfte es wieder. Es war der Haller Max.
„Berghofer, da bin ich wieder. Ich habe mein Versprechen gehalten und dir lange Ruhe gelassen. Nun brauche ich aber wieder Geld."
„Wieviel?"
„Dieses Mal müssen es achthundert sein."
„So viel Geld habe ich nicht mehr auf der Sparkasse, und den Zins bekomme ich erst zu Josefi."
Der andere zuckte die Achseln. „In drei Nächten komme ich wieder. Berghoser, mußt halt schauen, wie du das Geld anftreibst, hast ja Kre. ."
Er sprach das Wort nicht ganz aus, denn in demselben Augenblick ließ ein dumpfes, donnerähnliches Geräusch die beiden Männer entsetzt aufhorchen. Der Boden zitterte, als ob ein Erdbeben hcreinbräche, das Hüus krachte in allen Fugen, und die Fenster klirrten.
Da schrie der alte Bauer: „Der Berg!" und wollte, der andere ihm auf den Fersen, zur Tür flüchten. Bevor sie die aber erreichten, kam das Verhängnis. Ein ohrenbetäubendes Donnern und Krachen, ein Balkensplittern und -bersten. Die Felsblöcke, die vom Kar herabstürzten, schlugen das armselige Menschenwerk wie ein Kartenhaus in Grund und Boden.
Daun herrschte Totenstille
Im Brucknerhof war alles entsetzt aus dem Schlaf anfgefahren. Schlimmes ahnend, machte sich der junge Bauer mit seinen Knechten. die Laternen und Fackeln anzündeten, gleich auf den Weg.
Wo einst viele -Jahrzehnte lang der stattliche Berghof gestanden hatte, war nur noch ein Trümmerfeld. Das ganze Haus mit allen Nebenbauten lag unter den Felsen begraben, keines Menschen Hand würde es jemals wieder befreien können. Mit dem Hause seiner Väter hatte auch der alte Berghofer sein Grab gefunden. Und mit dem Bauern war noch ein. zweiter zugrunde gegangen, Schwer begrub der Berg sein Geheimnis.