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Pfarrer Bossert von Hirsau hatte die Güte, uns mit dem Ergebnis seiner mühevollen, autori> tativen Forschung über die Geschichte unseres Klosters bekannt zu machen, wobei sich ergab, daß Manches, das nach abgeleiteten Quellen als fest, stehend galt, in das Bereich der Legende zu ver« weisen ist. Es war eine wirkliche Freude und ein hoher Genuß den Ausführungen des schaffens. freudigen, betagten Dieners am Worte zu lauschen, welcher seine Begeisterung, um die ihn manch Junger beneiden könnte, sichtlich auf den Kreis seiner Zuhörer übertrug. Die Nutzanwendungen de» Vortragenden auf das aktuelle Gebiet der Gegenwart nahmen in dankenswerter Weise einen großen Raum ein, so daß das gewaltige Thema nicht in diesem einen Vortrag zu Ende geführt werden konnte. Am Schluffe desselben war es deshalb nur Eine Stimme der Anerkennung und hohen Befriedigung in der Versammlung, welche auch mit ihrem Danke dem Redner gegenüber nicht kargte und auch an dieser Stelle sei dem Herrn Pfarrer für sein aufopferndes, mannhafte-, von edler Begeisterung durckglühtes Auftreten der herzlichste Dank gesagt. Wer die Gefahr, welche unserem Vaterlands aus den nimmer rastenden Ansprüchen ultramontanen Geistes droht, noch nicht voll erkannt hat, der hätte in diesen Stunden lernen können, daß in der Abwehr dieser kultur- und staatsfeindlichen Einflüsse die Einigkeit aller liberalen und nationalen Elemente be. gründet sein muß, letztere mögen heißen, wie sie wollen, und daß alle anderen, diese Parteien trennenden Fragen bei diesem Kampf zu ver- stummen haben. Er wäre tieftraurtg, wenn der große Augenblick der Gegenwart ein kleinliches, sich befehdendes Geschlecht finden würde! In diesem Sinn gipfelten die zahlreichen politischen Ansprachen, die jenen Abend so anregend gestal- teten, so daß auch dem Wunsche Ausdruck verliehen wurde, die Fortsetzung der Vorträge, welche in liebenswürdigster Weise in Aussicht gestellt worden ist, möchte einen erweiterten Zuhörerkreis finden, ähnlich demjenigen Kreise, welcher im Parlament zu der hohen Aufgabe berufen ist, der Regierung eine wirklich deutsche, liberale Politik zu ermöglichen. — 0. L. ^
Stuttgart 4. Nov. Die jetzt von zuständiger Seite getroffene, sich mit dem Vorschläge der Künstlerkommisfion deckende Entscheidung, daß der neue Hoftheaterbau entsprechend dem Reinhardtffchen Projekt im botanischen Garten errichtet werden soll, ist in der Bevölkerung, obwohl sie einigermaßen darauf vorbereitet war, doch mit recht gemischten Gefühlen ausgenommen worden. Er sind eben immer noch weite Kreise, welche ein lebhaftes Bedauern über die Bebauung des botanischen Gartens nicht zu unterdrücken vermögen. Wenn etwa» mit der Entscheidung aursöhnen kann, so ist es der Umstand, daß wenigsten- die Anlagen in ihrem Hauptteil verschont bleiben, und so wirb man sich mit ihr, als dem kleineren Nebel ab- finden müssen. Wie die Tinge nun einmal
liegen, mußte man dieses Resultat ja auch längst voraussehen, sowie daß es nichts helfen würde, für den alten Platz oder das Marstallprojekt ein- zutreten, wovon man nun einmal an den maßgebenden Stellen nichts wissen wollte. Aber so viel ist sicher, um den alten Platz, wo sich nun aller Wahr, fcheinlichkeit nach über kurz oder lang ein Museums, bau erheben wird, der ganz gut anderswo seinen Platz gefunden hätte, ist und bleibt es schade. — Also das neue Opernhaus kommt nach dem Rein- hardtffchen Projekt im vorderen Teil des botanischen Gartens und auf dem Areal der Adjutantur, an der Ecke der Schloßgarten- und Neckarstraße zu stehen. Dann erfolgt in den botanischen Garten hinein rechtwinklig ein Anbau, der als Verwaltungs- gebäude dienen soll und an dieses wird wieder rechtwinklig dos Schauspielhaus angefügt, dar sich noch ziemlich weit gegen die Hauptallee der Anlagen erstrecken wird. Die ganze Anlage bekommt etwa die Form eines 2. — Die von der „Württemb. Ztg." veranstaltete Volks, abstimmung über die Hoftheaterplatzfrage hat für dar Morstellprojekt 12257 Stimmen, für den alten Theaterplatz 9233 Stimmen, für das Waisenhaus 7561 Stimmen, für den botanischen Garten 729 Stimmen, für den Platz an der Eberhardsgrnppe 655 Stimmen ergeben. Man steht aus dieser originellen Abstimmung, wie viel Sympathie das botanische Gartenprojekt genießt.
Stuttgart. Die amtliche Untersuchung hat nun definitiv ergeben, daß die Klara Schabe! einem Lustmord nicht zum Opfer gefallen ist. Das Mädchen, war gegen 6 Uhr abends von den Eltern von Hause weggeschickt worden, um in der unmittelbar benachbarten Widmannschen Ziegelei von dortigen Arbeitern, wie sie täglich tat, leere Bierflaschen abzuholen; sie wurde alsbald vermißt und nach langem Suchen an bezeichneter Stelle, jenseits eines 75 cm hohen Bretterzauns, auf. gefunden. Leider wurde die Leiche nicht am Fundort belassen, vielmehr von einem Polizeiaffistenten und einem anderen Herrn alsbald weggeschafft — ein Umstand, der die gerichtliche Feststellung de« objektiven Erfund» erheblich er- schwört hat. Die Leichenschau und Leichenöffnung haben inzwischen als sicher ergeben, daß dem Tode der Klara Schabe! ein Sittlichkeitsverbrechen nicht vorangegangen ist, so daß die Annahme eines Lustmordes auSscheidet. Ob die am Halse der Leiche als einzige Spur einer Verletzung Vorgefundene Furche rings um Hals und Nacken von einer Erdrosselung durch eine Schnur oder dergleichen herrührt oder aber vom Rand der fest anliegenden Kleidung, ist noch unentschieden. Am Fundort der Leiche und an deren Kleidung fand man erbrochene Speisereste. Sicher ist, daß die Klara Schabel infolge von Erstickung ge- storben ist, während noch zweifelhaft bleiben muß, ob letztere durch heftige» Erbrechen oder durch Erdrosselung verursacht worden ist. Das Erbrechen war ohne Zweifel veranlaßt durch die vorgeschrittene Schwangerschaft der (erst 13jährigen) Klara Schabel. Die vorüber.
gehend sistierten Arbeiter der Ziegelei find inzwischen wieder entlassen worden.
Stuttgart. Ueber die furchtbare Fa- milientragödie in der Vogelsangstraße meldet der Polizetbericht: „Bei Raith hielt sich seit einigen Wochen auch die 33 Jahre Kellnerin Mathilde Baum von Neuenhau« auf, zu der er in intimen Beziehungen gestanden sein soll. Mithausbewohner hörten am Samstag nachmittag um 3 Uhr in der Wohnung einige Schüsse fallen, haben aber keine Anzeige erstattet. Da von diesem Zeitpunkt an die Wohnung niemand mehr verließ und auf das Ziehen der Hausglocke nie- mand erschien, hat eine Verwandte Anzeige er- stattet und die verschlossene Wohnung wurde polizeilich geöffnet. In zwei Zimmern fanden sie 5 Leichen in ihrem Blute am Boden liegend; die Leiche eines 10 Monate alten Kindes im Kinder- wagen. Alle waren durch Gewehrschüsse getötet. Raith hat seine Frau, mit der in zweiter Ehe seit einem Jahr verheiratet ist, die Baum, sowie seine Kinder, einen Knaben von 6, ein Mädchen von 4 Jahren und das kleinste Kind, einen 10 Monate alten Knaben und dann sich selbst mit seinem Jagdgewehr erschaffen; bei dem Schüsse auf sich selbst hat er das Gewehr mit einem Spazierstock losgedrückt." Weitere Einzelheiten besagen: Die erste Frau Raithr ist vor 2 Jahren an Auszehrung gestorben und Raith hat sich zum zweitenmal und zwar mit der Schwester der verstorbenen Frau, die bisher als Diakonissin tätig war, verheiratet. Vor einigen Wochen kam nun in das nach Ansicht der Nachbarn glückliche Zusammenleben eine schwere Störung. Die Geliebte Raiths, die keine Ahnung davon hatte, daß Raith verheiratet war, fand sich in der Wohnung ein. Es ist dies die etwa 30 Jahre alte Kellnerin Mathilde Baum von Neuenhaus, OA. Nürtingen. Raith soll sich dem Mädchen gegenüber als Witwer ausgegeben haben. Das Mädchen sah ihrer Niederkunft entgegen. Es erscheint nicht ganz ausgeschloffen, daß Raith seine Geliebte tatsächlich mährend seiner Witwerschaft kennen gelernt und das Verhältnis dann auch nach seiner Wiederverheiratung fortgesetzt hat. Die Frau Raiths befand sich ebenfalls in anderen Umständen; von dem ehebrecherischen Treiben ihres Gatten hat sie erst vor einigen Wochen Kenntnis erhalten und hat sich aber schließlich in das traurige Schicksal gefügt. Die Untreue Raiths hatte selbstverständlich eine Zer, rüttung des ganzen Familierlebens zur Folge. Er muß sich auch schon länger mit Selbstmordgedanken getrogen haben. So soll er anfangs voriger Woche versucht haben, in der abgeschloffenen Küche durch Oeffnen des Gashahnens sich zu vergiften. Wie verlautet, hat Frau Raith, um ihren Mann von seinen Selbstmordabfichten abzubringen, die Geliebte des Mannes herbeiholen lassen, die, wie von anderer Seite gemeldet wird, nicht bei der Familie Raith, sondern in der Gymnasiumstraße wohnte. Es hat anscheinend in letzter Zeit in dieser Familie ständig die größte Auf-
Die Verzweiflung übermannte den sonst so ruhigen Mann. Ein erschütterndes Schluchzen und Aechzen kam aus seiner Brust. Es klang schauerlich durch die geweihte Stätte des Todes.
Stunden mochte der Mann hier gekniet haben.
Als er sich endlich erhob, schien der Mond auf das Grab. Er warf noch einen langen Blick darauf, als wenn er sich die Schriftzüge auf dem weißen Marmorkreuz genau einprägen wollte. Mit goldenen Lettern stand dort ein Name und darunter Geburts- und Sterbetag.
Ein stammelnder Laut, der vielleicht der Toten unten galt, kam über seine Lippen. Dann gab er sich einen Ruck, wandte sich und verließ mit müdem» schleppenden Gang den Kirchhof.
Er dachte nicht mehr daran, daß er zu einem Fest geladen war. — Als er den Fabrikhof und sein Zimmer erreicht hatte, war es spät, und das Fest auch wohl längst vorüber.
Am nächsten Morgen ließ er sich bei Helmbrecht melden. „Herr Kommerzienrat, ich muß notwendig für einige Wochen nach Rosenberg zu unseren Eisenwerken. Es handelt sich um die Feststellung und Regulierung einer neuen Ader, die entdeckt wurde. Es steht viel für uns auf dem Spiele, und meine persönliche Anwesenheit ist durchaus geboten. Heute früh erhielt ich die Depesche. Sie find doch mit meinem Entschluß ein- verstanden?"
„Gewiß, immer, Mister Williams. Sie wissen, daß ich alles Ihren Händen und Ihrem genialen Geist anvertraue. Sie werden meine Sache gut führen. Nur» ein wehmütige« Lächeln flog über seine Züge, wir werden Sie in der Zeit sehr vermissen."
Der Amerikaner zuckte zusammen; der Blinde sah es natürlich nicht.
„Wann gedenken Sie wieder hier zu sein?" fragte Helmbrecht.
„Anfang Juni."
„O, dann wollen wir gerade an die See. Wir werden Sie kaum noch Wiedersehen."
„Nein, kaum, Herr Kommerzienrat. Ich bitte Sie, mich bei Ihren verehrten Damen zu entschuldigen — ich kann mich nicht mehr persönlich von ihnen verabschieden, da der Zug, der allein Anschluß hat, bereit» um neun Uhr von hier abgeht. Ich bitte Sie, Ihnen freundlichst meine Grüße zu übermitteln."
„Gern, lieber Williams. Leben Sie denn wohl. Viel Glück auf die Reise und zu Ihrem Vorhaben. Auf baldiges Wiedersehen."
„Mister Williams ist heute früh nach Rosenberg abgereist; seine An- Wesenheit ist dort nötig," sagte Helmbrecht nachher zu Frau und Tochter.
Inge verfärbte sich und Frau Helmbrecht sagte erstaunt: „So plötzlich ?"
„Ja," erwiderte Helmbrecht, „eine Depesche rief ihn. Wir müssen uns schon so lange ohne ihn behelfen. Er hat einen Vertreter für die Fabrikleitung bestellt. — Freilich, in unserem trauten Familienkreise Mt die Lücke keiner aus."
Inge mußte an sich halten, um nicht vor Wehe aufzuschreien.
Vierzehn Tage war der Amerikaner nun schon von Buchenau fort und die Familie Helmbrecht rüstete sich zur Abreise nach Mirdroy.
Inge half mit fieberhafter Hast die Vorbereitungen beschleunigen. Nur fort aus den gewohnten Räumen, wo alles sie an ihn erinnerte; wo sie die Gedanken an die trauten Stunden, die sie mit ihm verlebte, nicht zurückvrängen konnte.
(Fortsetzung folgt).