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Hahn auf dem Kirchturm ist heruntergefallen. Sine Abteilung der Stuttgarter Berufsfeuerwehr, nämlich eine Dampsspritze. ein Mannschaftswagen, 2 Schlauchwagen mit Bespannung haben sich um 4 Uhr 50 Min. in einem Sonderzug nach Böb, ltngen begeben und find kurz nach 6 Uhr auf dem Brandplatz eingetroffen, zu einer Zeit, wo da» Feuer infolge Nachlassens de» Windes auf seinen Herd beschränkt sein soll.
Darmsheim 20. Aug. Eine um 9 Uhr abends eingegangene Meldung besagt, daß 68 Häuser abgebrannt und 58 Familien obdachlos sind. Vernichtet ist der ganze innere Teil des Orts. Auch die Postagentur ist niedergebrannt. Das Feuer ist in unmittelbarer Nähe des dem Bäcker Sauter gehörigen Hauses ausgebrochen. Als Entstehurgsursache gibt man das Spielen von Kindern mit Feuer an. Die Mitteilung, daß es der Feuerwehr an Wasser gemangelt habe, bestätigt sich nicht; in Böblingen sind vielmehr die Schleußen der dortigen Seen geöffnet worden, sodaß in dem nach Darmsheim führenden Bach genügend Wasser floß. Als die Stuttgarter Berufsfeuerwehr auf der Brandstätte ankam, bot sich ihr noch ein großes Arbeitsfeld. Branddirektor Jacoby traf sofort zweckdienliche Anordnung und übernahm die Führung in der Bekämpfung des noch immer hochauflodernden Feuers, dessen Schein, obwohl es noch nicht Nacht war, weithin sicbtbar war, und so auch auf dem Engelrberg bei Leonberg bemerkt wurde. Das Feuer ist zwar nun eingedämmt, muß aber noch überwacht werden und es dürste wohl Morgen werden, bis es gänzlich erstickt ist. Große Schwierigkeiten werden die Aufräumungsarbeiten machen und die Unterbringung des in den Straßen wirr durcheinander liegenden Mobilars. Die ob» dachlosen Frauen und Kinder finden in den Nachbarorten, namentlich in dem nur 1 km entfernten Dagersheim Unterkunst, während die Männer sich noch vielfach an den Arbeiten be. teiligen. Jammer und Elend find groß, doch hält auch manchen die Hoffnung aufrecht, daß mildtätige Hände im ganzen Lande sich öffnen und Hilfe gewähren werden. Möge diese Hoffnung in Erfüllung gehen!
Darmsheim, 21. Aug. Das Feuer hat während der Nacht keinen weiteren Umfang mehr angenommen, doch haben die Löschungsarbeiten die Feuerwehren, namentlich die Stuttgarter Be- rufrfeuerwehr, vollauf in Anspruch genommen. Letztere kehrt im Lauf des Vormittags nach Stuttgart zurück, auch die übrigen Löschmannschaften konnten von 8 Uhr an zurückkehren, mit Ausnahme einer größeren Wache. Ein Kind des Bauern Strohm wird vermißt.
Stuttgart 19.Aug. (Der FallSteindel.) Unter starkem Andrang fand heute vor der 2. Ferienstrafkammer die Verhandlung gegen den Musikdirektor
Steindel wegen Körperverletzung, begangen an seinen drei Söhnen, statt. Dem Ausgang des Strafverfahrens wurde hier mit außerordentlicher Spannung entgegengesehen. Vor etwa 6 Jahren unternahm Steindel mit seinen Söhnen, die er zu tüchtigen musikalischen Kräften herangebildet hatte, die ersten Konzertreisen. Die Proben für die Konzertreisen waren für die Knaben Leidensepochen. In teuflischer Weise kehrte sich der Zorn und die Wut des Angeklagten gegen das jüngste Kind, das seinen Hatz ob dir Ähnlichkeit mit dem Großvater mütterlicherseits besonders drastisch empfinden mußte. Die Anklage beschuldigte den Angeklagten, er habe im Laufe der letzten 10 Jahre seinen nun 14 Jahre alten Sohn Albin, den jetzt 16 Jahre alten Sohn Max und den jetzt 17 Jahre alten Sohn Bruno körperlich mißhandelt und an der Gesundheit gefährdet. Die Mißhandlungen und Körperverletzungen seien ausgeführt worden mit einem dicken Meerrohr, eineni Lineal und einem Spazierstock. Dem Sohn Albin habe er auch mit einem Krug schmerzhafte Streiche versetzt. Weiterhin habe er ihn auf Hände und Füße geschlagen, so daß diese angeschwollen seien, den Knaben Albin habe er außerdem häufig gezwungen die Hosen hcrabzulassen und er habe ihm dann 20—25 Streiche auf den bloßen Hinterteil versetzt, so daß der Knabe fürchterliche Schmerzen erlitt. Am Gesäß seien daraufhin eitrige Wunden entstanden. Im April 1906 habe Albin von dem Angeklagten auf beiden Füßen derartige Streiche erhalten, daß die Füße anschwollen. Albin habe einmal die Hosen ausziehen und mit dem entblößten Gesäß an den heißen Ofen stehen müssen, wobei er furchtbare Brandwunden erlitten habe. Darauf habe der Angeklagte den Knaben auf das entblößte Gesäß, das mit Brandwunden bedeckt war, poch heftige Schläge mit einem Kehrbesen gegeben. Mit dem Geigenbogen habe er die Knaben ins Gesicht gestupst und sie mit den Fingernägeln in die Arme und in den Bauch gezwickt, außerdem habe er den Knaben Stecknadeln in den Arm gesteckt. Des weiteren soll der Angeklagte auch seine Frau mißhandelt haben. Der Angeklagte wurde in Zwickau als Sohn eines Musikdirigenten geboren; er trat schon im 7. Lebensjahr mit seinem Vater als Geiger auf. Nachdem er 10 Jahre in München-Gladbach als Musikdirektor gewirkt hatte, siedelte er nach Stuttgart über. Seinen Söhnen ließ er wohl eine musikalische Bildung angedeihen, dagegen war die Schulbildung eine höchst mangelhafte. Eine öffentliche Schule besuchten die Knaben nicht, vielmehr ließ er sie durch Privatlehrer unterrichten und zwar höchstens in 2—3 Wochenstunden, die zudem noch häufig genug ausfielen. Der Angeklagte machte geltend, er habe bei den Züchtigungen die Grenze des Erlaubten nicht überschritten. Sein Sohn Bruno habe sich öfters abends in Wirtschaften herumgetrieben, was ihn in Aufregung versetzt habe. Die Frau des Angeklagten bezeugte, ihr Mann habe die Knaben dann und wann gezüchtigt, aber nicht in barbarischer Weise. Die Knaben hätten die Züchtigungen verdient. Albin und Max Steindel machten von dem Recht der Zeugnisverweigerung Gebrauch, während Bruno Steindel Zeugnis ablegte. Während er in der Voruntersuchung seinen Vater stark belastet hatte, schränkte er jetzt seine Aussagen wesentlich ein und erklärte, er habe zu Ungunsten
seines Vaters stark übertrieben. Im übrigen will er sich an die einzelnen Mißhandlungen nicht mehr erinnern. Lehrer Klöpfer, der Prtvatlehrer der Knaben, hat einmal gesehen, daß der Angeklagte den Albin mit einem Meerrohrstock barbarisch auf die Hände schlug. Einmal habe ihm Albin sein Gesäß gezeigt, das auf ihn den Eindruck gemacht habe, wie ein gehacktes Kotlett. Hemd und Hosen waren mit Blut besudelt. Die Knaben schilderte er als verdorben und verwahrlost. Zeuge bringt einige Aeußerungen der Knaben über ihren Vater vor, die geradezu haarsträubend sind. Zeuge Pfarrer Sandberger, bei dem Albin untergebracht war, bekundete, dieser habe ihm öfters erzählt, daß ihn sein Vater barbarisch geschlagen habe. Einige weitere Zeugen haben bei den Knaben — jedenfalls infolge der Züchtigungen — angeschwollene Hände und Waden beobachtet. Der Staatsanwalt beantragte angesichts dieser Rohheiten und Mißhandlungen 1 Jahr Gefängnis. DaS Urteil lautete auf 7 Monate und 3 Tage Gefängnis abzüglich einen Monat für Untersuchungshaft. Außerdem lehnte das Gericht den Antrag auf Haftentlassung wegen Fluchtverdachts ab. Von der Körperverletzung begangen an seiner Frau, wurde Steindel freigesprochen. Die Verhandlung dauerte bis Mitternacht.
Stuttgart 20. Aug. Der internationale Sozialisten-Kongreß hat heute mit seinen geschäftlichen Verhandlungen begonnen. Den Vorsitz führte Reichstags-Abgeordneter Singer. Im Ganzen waren 886 Delegierte zum Kongreß erschienen. Zu einer längeren Debatte kam es über einen Antrag des internationalen Bureaus, wonach die Vertreter der englischen unabhängigen Arbeiterpartei als vollberechtigte Vertreter zum Kongresse nicht zugelassen werden sollten. Nach scharfen Auseinandersetzungen zwischen den englischen Sozialisten und dem englischen Unterhausmitglied Macdonald als Vertreter der unabhängigen Arbeiterpartei wurde die Angelegenheit zur Untersuchung der Frage, ob die unabhängige Arbeiterpartei Englands auf dem Boden des sozialistischen Programms stehe, an das internationale Bureau zurückverwiesen. Die für heute Nachmittag in Aussicht genommene Sitzung mußte ausfallen, weil die Kommission nicht genügend Beratungs-Material vorbereitet hatte.
Ludwigsburg 20. Aug. Ein hochgeschätzter Würdenträger der evang. Landeskirche, Prälat Karl v. Berg, vollendet heute sein 70. Lebensjahr. 1869—80 als Helfer in Ulm» 1880—87 Dekan in Calw, später als Prälat in Heilbronn tätig gewesen, führt der Jubilar seit 1900 sein hiesiges Amt als Generalsuperintendent, indem er sich wegen seines einfachen, mit herzlicher Liebenswürdigkeit verbundenen Wesens großer Beliebtheit bei allen Schichten der Einwohnerschaft erfreut. Bekannt ist. daß er seine Kräfte auch der Landessynode und der zweiten bezw. ersten Kammer widmete. Eine Abordnung der Lehrerschaft der Mittel- und Volksschule, deren Visitator
ihm absichtlich in einem Moment des Alleinseins sagte, seine Schwester habe von seinen Poesien ganz entzückt gesprochen, errötete er merklich, und seine hübschen Augen leuchteten hell auf. Vielleicht wäre es besser gewesen, diesen Punkt gar nicht zu berühren, aber in Hinsicht auf die Gefühle junger Herzen war Werner nun einmal kein großer Diplomat. Er erfuhr, daß Heinrich im Laufe der nächsten Woche nach Berlin abreisen müsse, und daß er noch nie mit so schwerem Herzen von dem stillen Winkel Abschied genommen hätte als diesmal. „Ich weiß gar nicht", sagte er ernst, „aber mir ist zu Mule, als wenn ich mich in Berlin eine ganz neue Welt erwartete, als wenn Vieles um mich her und in mir selbst dort ganz anderes werden müßte. Ich bin eigentlich kein Mensch, der von der Natur zum Streiten und Kämpfen geboren ist, und doch habe ich das unbestimmte Gefühl, als wenn mich jenseits unserer Wälder viel Kampf erwartete."
„Dann rufen Sie nur mich zu Hilfe, lieber Freund," lachte Werner heiter auf, „in diesem Punkte bin ich Ihnen über, und es soll mir eine angenehme Aufgabe sein, Ihr Wesen ein bischen stählen zu helfen. Ich glaube, Ihnen auch prophezeien zu können, daß das Leben Sie diesmal aus Ihrer stillen Studentenstube ein wenig energisch ausrütteln und Rechte an Sie geltend machen wird, von denen Sie heute ncch gar nichts ahnen."
Heinrich sah Werner ganz verdutzt an, schwieg einen Moment und sagte dann, indem er die Hand des jungen Grafen faße: „Ich verstehe nicht, was sie damit an deuten wollen, aber ich bitte Sie, wecken Sie keine Hoffnungen in mir, die sich nachher als trügerisch erweisen müssen. Oder haben Sie gar schon für mich gehandelt, vielleicht schon gar etwas gehört?"
„Ich kann Ihnen heute noch gar nichts sagen," erwiderte Werner ruhig, denn erstens darf ich nicht aus der Schule plaudern, und zweitens will ich tatsächlich keine Hoffnungen anregen, die sich aus tausend Gründen nicht realisieren könnten. Kommen Sie nur erst nach Berlin, alle» Weitere wird sich dort schon finden!"
So sehr Heinrich auch in ihn drang, er ließ sich nicht erweichen, und der arme Dichter erfuhr nichts. Er sah zu seiner Freude, daß Heinrich mit einemmale förmlich darauf brannte, nach Berlin zu kommen, und so beruhigte er sich denn auch über den so plötzlich bei ihm aufgetauchten Verdacht einer Schwärmerei zwischen seiner Schwester und dem jungen Großmann; denn über den Gedanken, nach der Metropole zu kommen und dort neuen, großen Ereignissen entgegenzugehen, schien Heinrich wie mit einem Zauberschlage die Schwierigkeit der Trennung vom väterlichen Gute und seiner Umgebung völlig zu vergessen. Und wirklich reiste der junge Großmann volle acht Tage vor Werner nach Berlin ab, und zwar ohne noch einen Besuch auf Schloß Ellingen gemacht zu haben. Nur seine Karte sandte er am Tage seiner Abreise an Werner und an Beate mit einigen höflichen Zeilen. Für die Komtesse folgte dabei mit herzlichem Dank für das „freundliche Interesse an seinen bescheidenen Dichtungen" ein Rosen, bukett von herrlicher Schönheit, das den Treibhäusern eines Fürstenhauses Ehre gemacht haben würde. — Acht Tage nach ihm reiste auch Werner völlig ruhig beruhigt nach der Residenz ab, denn Beate hatte den jungen Mann mit keiner Silbe mehr erwähnt und nur Werner ziemlich formell gebeten, ihm für die Rosen auch in ihrem Namen zu danken.
Bevor er abreiste, war er noch einen Abend mit seiner Schwester zu Tisch bei Großmanns gewesen und hatte mit vieler Freude gesehen, daß Beate und Frau Großmann sich sehr gut zu verstehen schienen und herzliche Freundschaft miteinander geschlossen hatten. Er wußte also in der Nähe seines Lieblings ehrliche, redliche Menschen und konnte beruhigter abreisen als jemals.-
Zwei Tage vor Eintreffen des Grafen Ellingen war Kurt Rhoden nach Paris abgereist, nachdem er auch in Werners Wohnung noch seine Karte mit dem lakonischen x. x. o. abgegeben hatte.
(Fortsetzung folgt.)