Maaere Metschaftsernle
Wirtschaftliche Wochenschau
Allgemeiner Schuldenaufschub? — Morgendämmerung auf dem Binnenmarkt — Mörderischer Steuerwahnsinn
(Nachdruck verboten.)
i8- Wenn der Herbstwind die Früchte von Genf, Lausanne, wieder Genf, Ottawa und Stresa schüttelt, dann sehen wir so recht, wie mager die Ernte ansfiel. Karge Saat mutz nun einmal magere Ernte geben. Kein Wunder, wenn daher die allseits erhoffte Besserung nur schüchtern einsetzte und überall enttäuschte. In allen Ländern wird Klage über das fortdauernde Elend geführt. Die Kriegsschulden wurden trotz der zahlreichen,Tagungen nicht gestrichen und die jüngsten Schritte europäischer Mächte bei dem Weltglän- biger Ämerika zeigen zur Genüge, wie überall die Kriegsschulden den Wirtschaftsaufstieg hemmen. Die internationalen Aktienkurse konnten sich kaum über ein Drittel ihres Standes von 1927 erheben. Den gestürzten Währungen gelang es trotz verschiedener Besprechungen nichl, sich zu festigen. Im Gegenteil. Schon drohen neue Währungen ihren Halt zu verlieren, wie ein Bück in die nahe Schweiz und das ferne Kanada beweist. Die neuen Bündnisse von Ottawa, die vielleicht dem englischen Weltreiche Vorteile bringen mögen, haben neue Wirtschaftskämpfe und Wirtschaftswirren heraufbeschworcn. Die Hoffnungen, die in dieser immer noch verzweifelten Lage begreiflicherweise auf einen Zollumschwnng Amerikas gesetzt werden, sind zwar berechtigt, doch müssen wir noch mehrere Monate warten, bis tatsächlich eine Aenderung zu spüren ist. Wenn nun die Internationale Bank für Zahlungsausgleich (Rcparationsbank) überraschend behauptet, datz sich die Verhältnisse in Deutschland und in Oesterreich in der letzten Zeit Wesentlich gebessert hätten, dann mutz hinter diese Aeutze- rnnq doch manches Fragezeichen gesetzt werden.
Man kann doch wirklich nicht von einer wesentlichen Besserung in Deutschland sprechen, wenn es vor einem all- gemeinen Schuldenau fschub (Schuldenmoratorium) steht. In der ostdeutschen Landwirtschaft begann bekanntlich daS Schuldenmoratorium; nun wird es auf die Hhpothcken ausgedehnt nud die Gemeinden verlangen ebenfalls Säml- denanfschnb. Wenn eben an einer Stelle im Wirtschaftskörper Störungen anftxeten, dann müssen sich die Folgen auch auf die übrigen Wirtschastsglieder auswirkeu.
In Zeiten einer Weltdepression wird stets eine besondere Pflege des Binnenmarktes gefordert. So unterstrich jüngst der Großindustrielle Dr. Silvcrberg die Bedeutung des Binnenmarktes; denn nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Industrie könne vom Binnenmarkt wertvoll angeregt werden, wie es ja auch die jüngsten Ziffern beweisen. Obwohl bis Oktober die Ausfuhr ziemlich darniederlag, hielt z. B. im Rnhrbergban, bei der Eisenindustrie und der verarbeitenden Industrie die Belebung stets an. Als nun gar im Oktober Deutschland seine Ausfuhr zum erstenmal feit langer Zeit wieder beträchtlich steigern konnte, erlebten die Fertigwarenindustrien einen überraschenden Aufstieg. So konnte allein die sächsische Textilindustrie 10 000 neue Arbeitskräfte einstellen. Aber auch in der Produktionsindustrie weht ein frischerer Wind. So konnten z. B. die Ver. Stahlwerke seit 1. Oktober rund 2750 Arbeiter neu beschäftigen. Doch dürfen wir uns von diesen an und für sich erfreulichen Ziffern nicht allzu sehr blenden lassen. Erfahren wir doch nirgends etwas, wenn ein Betrieb unter dem Drucke der Stenern und Abgaben und der Wirtschaftsnot zahlreiche Kräfte entlasten mutzte.
Zur Pflege des Binnenmarktes gehört zweifelsohne auch ein Abbau der Stenern und Abgaben. Wenn aber heute die Steuern mit den sozialen Abgaben fast ein Dritt e l der Lohnsumme ansmachen, wie beim jüngsten Geschäftsabschluß der Gutehoffnungshütte Oberhausen A.G. (Bergbau- und Hüttenbetrieb), dann bedeutet dies für die Wirtschaft den Ruin!
Alle Beteuerungen des Staates, er habe schon brutal seine Ausgaben gekürzt, helfen ihm über das harte Muß nochmaliger Einsparungen nicht hinweg. Man braucht ja nur die Steuerausfälle von einigen hundert Millionen berücksichtigen, um den Ernst der Lage zu erfassen.
Die Wirtschaftsernte war nicht zuletzt deshalb so mager, weil immer wieder die Politik störend eingriff und die Gesundung verzögerte. Kein Wunder, wenn auch diesmal die Wirtfchaft nicht ohne Sorge die innenpolitischen Vorgänge
Roman von Friedrich Lange.
Urheberschutz: Verlag F. Lange. Hohenstein-Er. (Sa.). ? 2 )
Schwarze Gedanken beschäftigten Toni die ganze Zeit über, während sie von der nahen Quelle Wasser holte, während sie auf dem Herd Feuer anzündete. Frauen fühlen die Zukunft oft verblüffend wahrheitsgemäß voraus. Das traf diesmal auf Toni zu. Noch während sie sich um Las Schicksal Vidors sorgte, nahm das Verderben seinen Lauf. Diese Juli- Vormittagsstunden waren von einer Tragik erster Ordnung erfüllt.
Mitten in der Wand ritt Vidor plötzlich der Teufel, daß ihm der schmale Pfad zu lang wurde. Auf seine Kletter- kenntnists Pochend, stieg er, um abzukürzen, senkrecht über den Fels ab. Das war kein allzu schwieriges Unternehmen; denn es gab genug Risse und Schrunden, die den Händen sowohl als auch den Füßen des geübten Felsgehers Halt boten.
Einmal, in unübersichtlichem Gestein hängend, sah Vidor hinab — spannte das Auge schärfer an — — nein, eine Täuschung war ausgeschlossen: achtzig oder hundert Meter tiefer stand ein Mann auf der Serpentine des Pfades und
hielt ein Mädel umschlungen-und diese beiden Menschen
kannte Vidor: Eberhard Kerkhoff und Ursula Josephy.
Der Beobachtende fühlte, wie ihm alles Blut zum Herzen schoß. Seine Hände verkrampften sich fester in den Fels.
Da unten stand der Mensch, den er an der Kampenwand zu vernichten gedachte!
, -^chor schloß flüchtig die Augen. Wieder LLerkam ihn teufmches Rachegelüst. Wenn man jetzt ein paar Felsbrocken zur Hand hätte-
Aber dann überwog plötzlich die Heiterkeit. War es nicht belustigend, wie wunderlich das Schicksal mit den Menschen umsprang? Liebe über's Kreuz — die Freundschaftkonstellation Kerkhoff-Toni, Vidor—Ursula verschoben!
Der Mann im Fels lachte zynisch.
„Das muß mau schon sagen: Ursula hat rasch Ersatz gefunden!" sprach er leise mit sich selber, damit der unsinnigen Eifersucht, die ihn schon im Mirabellpark der herrlichen Bischofsstadt gepackt hatte, neue Nahrung znführend.
Seine Hände und Füße begannen zu zittern. Sie zwangen ihn. den Abstieg fortzusetzen. Mittlerweile trennten sich auch unten die beiden Menschen. Kerkhoff eilte den Pfad hinab. Ursula strebte aufwärts, sich vorsichtig an den Fels pressend, um mit den Füßen dem Steilabfall möglichst nicht zu nahe zu kommen.
Vidor hatte berechnet: wenn er in dem Tempo weiterkletterte, würde er Ursula aus dem Wege gehen. Und das
verfolgt. Doch kann sie verhältnismäßig beruhigt in die Zukunft sehen; denn das Wirtschaftsprogramm der Regierung soll auch bei einem Sturz des Kabinetts nicht geändert und nur die sozialen Härten beseitigt werden. Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang daran erinnern, datz die Regierung Brüning die überhohen Gehälter der vom Reich gestützten Betriebe kürzen wollte. Das Reichswirt- schaftsministerinm verlangte daher damals Auskunft über die Personen, die jährlich Bezüge über 18 000 RM. erhielten. Leider hat die Oeffentlichkeit seitdem hierüber nichts Näheres erfahren.
Die Wirtschaftsernte des Jahres 1932 war im Verhältnis zu den zahlreichen Besprechungen und Konferenzen recht mager. Vielleicht werden die Früchte der amerikanischen Präsidentenwahl und der Weltwirtschaftskonfcrenz reichlicher ausfallcn. ^
P r o d u k t e n m a r k t. Die Getreidebörsen lagen für Brotgetreide und Mehl still. Der Mehlabsatz ist sehr schleppend. Die reiche Ernte ermöglichte eine Senkung des Brot- preiscs. Zahlreiche württembergische Städte haben die Brütpreise durchschnittlich um 2 Pfg. pro Kilogramm herabgesetzt. An der Berliner Produktenbörse notierten Weizen 201 (st-2), Roggen 159 (st-1), Fnttergerste 168 (—1), Hafer 137 (und.) RM. je Pro Tonne und Weizen 27-L (-t >l) und Roggenmehl 22X> (st-2) RM. Pro Doppelzentner. An der Stuttgarter Landesproduktenbörse blieben Wicsenheu und Stroh mit bzw. 3 RM. pro Doppelzentner unverändert.
Viehmarkt. Die Preise für Schlachtvieh, hauptsächlich. für Schweine, daneben auch für Riuder und Schafe, haben angezogen. Die Zutriebsziffern halten sich in den gewohnten Bahnen.
Holzmarkt. An den Holzmärkten blieb die Stimmung ziemlich fest und verschiedentlich konnten sich sogar kleine Preisbesterungen durchsetzen. Am Papierholzmarkt rechnet man mit einer allmählichen Besserung.
Konkurse und Vergleichsverfahren. Nene Konkurse: Karl Schaal, Manufakturwarengeschäft in Schorndorf; Nachlatz des Anton Hirschle, Landwirt in Obermarchtal, Oberamt Ehingen. — Vergleichsverfahren: Firma Rain - ler <L Baer, Großhandlung in Textilwaren in Stuttgart.
Aus Welt uncS
Neue Erdstrahlungsforschungen haben die Erdstrahlen als Erreger verschiedener Krankheiten bezeichnet. Die Wissenschaft steht den bisherigen Ergebnissen und Spekulationen der Erd- strahlcnforschnngen noch völlig ablehnend gegenüber, denn grundlegende Beweise für das Vorhandensein solcher Erdstrahlen sind noch nicht erbracht. Zn diesem Streit hat nun ein Buch des Wünschelrutengängers Freiherr von Pohl neues Beweismaterial beigetragen. Es schildert unter Angabe von zahlreichen, ärztlich und behördlich beglaubigten Fällen in ein-, gehender Weise, daß Mensch, Tier und Pflanze durch Ausstrahlungen über unterirdische Wasseradern, die er als Erdstrahlen bezeichnet, und die mit der Wünschelrute nachzuweisen sind, in ihrer Gesundheit und ihrem Gedeihen schwer geschädigt werden. Insonderheit berichtet er ans Grund seiner Wün- schelrutennntersuchnngen unter ärztlicher und behördlicher Kontrolle in der bayerischen Stadt Vilsbiburg, daß alle Krebstodesfälle dieser Stadt in einer Reihe von Jahren nur in Häusern vorkamen, unter denen unterirdische Wasseradern verliefen. In allen Fällen handelte es sich um an Krebsleiden Verstorbene, die jahrelang schon vor ihrer Erkrankung in diesen Häusern gewohnt hatten, und deren Betten direkt über den Erdstrahlen standen. Herr v. Pohl zieht aus diesen Feststellungen den berechtigten Schluß, daß Krebsleiden durch Erdstrahlen verursacht werden. Dasselbe ist auch von ärztlicher Seite auf Grund ähnlicher Untersuchungen bestätigt worden. Aber nicht nur bei Krebsleiden, sondern auch bei anderen Erkrankungen, wie Rheumatismus, nervösen Leiden, Asthma, Schlaflosigkeit wurden Erdstrahlen als Krankheitsursache festgestellt. Ihr schädigender Einfluß beeinträchtigt die Widerstandsfähigkeit gegen Erkrankungen, insonderheit auch gegen Infektionskrankheiten, so daß jeder entsprechend seiner Disposition irgend welchen Erkrankungen ansgesetzt ist, wenn diese Strahlungen stundenlang täglich oder nächtlich längere Zeit auf ihn cinwirken. Die durch Fachgutachten bestätigten Belege, die von Pohl in seinem Buche anführt, sind so über
zeugend, daß sie nicht mit Geringschätzung oder gar als Schwindel abgelehnt werden können. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande, besonders in Italien und Frankreich, bricht sich die Neberzeugung mehr und mehr Bahn daß der Gesnndheitsschädigung durch Erdstrahlen, die, soweit bis jetzt bekannt, negativ-elektrischer Natur sind, die größte Aufmerksamkeit geschenkt werden muß.
Auch eine „Zahnbehandlung". Eine Zahnbehandlung, die lebhaft an die Kuren Dr. Eisenbarts erinnert, ist auch heute noch bei den Navajo-Jndianern üblich. Hat der Navajo- Jndianer einen Hohlen Zahn, so versucht er die Schmerzen durch Kauen eines einheimischen Pfefferkrantes zu betäuben. Hilft das nicht und muß der Zahn raus, so geht er zu dem Medizinmann des Stammes und der „kuriert den Zahn auf eigene Art". Er nimmt einen rotglühenden Eisendraht und steckt ihn in den hohlen Zahn. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis der überhitzte Zahn platzt. Dauert dies den, Patienten zu lange, so wird der heiße Zahn mit kaltem Wasser begossen und dann platzt er sicher. Die Splitter werden mit den Fingern herausgezogen. Das Ziehen an.sich verursacht keine Schmerzen, da der Nerv durch das glühende Eisen getötet wurde.
Das Germanenmödchen von Egtved
Bubikopf vor 35VS Jahren
lieber die Kultur unserer germanischen Vorfahren herrschen noch recht unklare Vorstellungen. Erst die jüngste Wissenschaft vom Spaten hat durch die Erschließung wertvoller Bodenfunde ein genaueres Bild ergeben. So wird z. B. in einem schwedischen Museum ein Mantel aus der Bronzezeit anfüewahrt, der ungefähr das älteste Kleidungsstück darstellt, das wir in Europa besitzen. Von einem neuen, sehr aufschlußreichen Fund berichtet nun Fritz Buhl in der Zeitschrift „Kosmos" (Franckh'schc Verlagsbuchhandlung Stuttgart). Es handelt sich um das Germanenmädchen von Egtved. Im moorigen Boden von Jütland, Lei Egtved, nördlich vom Kreise Hadersleben, an der alten dänisch-preußischen Grenze, wurde vor einiger Zeit unter Leitung von Museumsinspektor Prof. Thomas Thomsen in Kopenhagen ein Eichensarg geborgen, der die lleberrcste eines Germanenmädchens im Alter von 18 bis 25 Jahren enthielt. Die Tote war an einem Sommertag zur Ruhe bestattet worden, was Reste von ^ blühenden Blumen, die man ihr ins Grab gelegt hat, bezeugen. Der Sarg zeigte noch die deutlichen Spuren der Axt, mit der er gezimmert worden ist. Der Grabhügel, unter dem er verborgen stand, war mit feuchter Erde, die man aus einer moorigen Wiese hergeholt hatte, überwölbt worden, um so die Haltbarkeit des Sarges und seines Inhalts zu erhöhen. Als er geöffnet wurde, sickerte noch das schwarze Moorwasser hervor. Alles war ungestört geblieben, die Tote lag noch in ihrem Sarge, wie man 'sie vor nahezu 3500 Jahren hineingelegt hatte; und alle organischen Bestandteile des jungen Menschen und seiner Bekleidung waren beinahe unberührt erhalten.
Das Mädchen war blond und schlank von Wuchs, offenbar Kind vornehmer Leute. Ihre Kleidung bestand aus einem Jäckchen aus derbem Stoff und einem Röckchen aus Wolle, das ganz kurz und keck anssteht. Und eigentlich besteht dieses Röckchen nur aus Schnüren, die oben durch einen festen Verband zusammengehalten wurden, sich aber im übrigen ganz frei und ungeniert bewegen können. Es ist so kurz, saß es sich gut mit unserer vergangenen Knrzrockmode vergleichen läßt. Es reichte der schönen Germanin von der Hüfte bis zum Knie. Das flatternde Röckchen wurde durch einen aus Wolle gewebten Gürtel um die Hüften festgehalten. An beiden Enden war dieser Gürtel mit zierlichen Quasten versehen, die so lang am Körper herabhingen, daß sie in schwingende Bewegung versetzt werden mußten, wenn das Mädchen zu trippeln begann. Im sommerlichen Straßenbild unserer Zeit würde das Mädchen von Egtved kaum als Fremdkörper hervorstechen, so „modern" trug sich diese Germanin der Bronzezeit! Zu dieser fröhlichen Erscheinung paßt es denn auch und wird beinahe als stilvoll empfunden, daß die Kleine sich eines „Bubikopfes" erfreute. Sie trug das blonde Haar kurz geschnitten. Und unter dem Kopf fand man im Sarge ein Band, mit dem das in den Nacken herabhängende Haar zusammengehalten wurde.
war gut so. Er legte absolut keinen Wert auf ein Wiedersehen in dieser Umgebung und unter diesen Umständen.
Aber dann, in einer Wanddepression hängend, verzögerte sich sein Abstieg. Dadurch wurde seine Kalkulation über den Haufen geworfen. Er mußte wieder ein Stück aufwärts, traversierte nach rechts und — stand schon auf dem Pfad ' vor Ursula!
Das Erschrecken war auf beiden Seiten groß und gleichzeitig. Ursula lehnte sich mit beiden Schultern gegen die Wand, sich instinktiv den Rücken deckend und gegen alle Möglichkeiken dieser unberechenbaren Minute wappnend.
Vidor zwang ein Lächeln auf die Lippen. Er legte, wie immer, Wert darauf, unbefangen zu erscheinen. Nur nicht anmerken lassen, wie peinlich ihm diese Begegnung war!
Es gab keinen Gruß zwischen diesen beiden Menschen, die sich ein Jahr lang nahe gestanden hatten. Nur lauerndes Schweigen.
Bis sich Ursula ein Herz nahm und fragte: „Willst du mir den Weg freigeben?"
Das war der zündende Funke ins Pulverfaß. Vidor reagierte sofort. Ihn reizte die kühl-überlegene Art des Mädchens.
„Bitte sehr, sogar ohne Zoll . . ." Und da die Blondine betroffen schwieg, fuhr er frivol fort: „Den hast du schon dem Glücklichen gegeben, der zwanzig Minuten vor mir kam!"
Ursula errötete. Wenn es je eine Wiedergutmachung zwischen ihr und diesem Menschen gegeben hätte — in dem Augenblick verlegte sich Vidor selbst den Weg zurück zum Herzen dieses schönen, jungen Geschöpfes.
Er glitt immer tiefer in eine heillose Unbeherrschtheit. Wenn dem Mädel ein lichter Engel zur Seite stand, so ritt ihn unbedingt der Teufel schwärzesten einer.
„Ich finde, du hast dich verblüffend schnell über mein Verschwinden getröstet. Hätte ich dein Verhältnis zu Kerkhoff schon in Salzburg genügend durchschaut, so wäre mir mein Kanossagang zu dir an jenem denkwürdigen Abend erspart geblieben. . ."
Das war eine offene Kriegserklärung.
Am liebsten hätte Ursula geschwiegen, aber das Bewußtsein ihrer Unschuld gab ihr den Mut zur Sprache.
„Wir waren einander gut Freund während eines Jahres, aber nun weiß ich, daß es verlorene Zeit war; denn du kennst mich noch immer nicht." Ihre Worte waren gesättigt nnt Resignation.
Die Wirkung auf Vidor blieb aus. Er sah die Schönheit des mngen Weibes und war empört darüber, daß er diese zarte Blüte unberührt an den verhaßten Rivalen abgeben sollte. Toni Geislinger streifte er in diesem Augenblick mit keinem Gedanken. Die braune Carmen hatte nur Macht über ihn. wenn sie in unmittelbarer Nähe weilte.
„Wir wollen uns nichts vormachenI" lachte er brutal auf. „Mich hast du erbarmungslos meinem Schicksal überlasten.
für den andern hättest du Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, wenn er in Not geraten wäre. . ."
Ursula streifte ihn mit einem flinken Blick. Es lag offensichtlich viel Abneigung darin. Sie konnte sich jetzt selbst nicht begreifen, wie sie dieser Mensch solange zu fesseln vermocht«. Was War er denn? Bestenfalls eine schöne Schale, aber leider ohne Inhalt.
„Ich halte unsere Aussprache für zwecklos. Bitte laß mich passieren." Sie setzte den Fuß vor, krampfhaft ihre Angst niederzwingend. Ach, wenn sie doch Kerkhoffs Warnung Glauben geschenkt hätte! Dieser Weg war doch noch
weit gefährlicher, als er gesagt hatte! Steinschlag-das
wäre nichts gewesen gegen diese fatale Begegnung.
Vidor bog sich ein wenig vor. Ursula den Weg versperrend.
„So — Lu meinst, wir haben einander nichts mehr zu sagen?" höhnte er. Dann zynisch bohrend: „Für deinen neuen Freund würdest du sicher durchs Feuer gehen-"
Ursula zwängte sich mit klopfendem Herzen an ihm vorbei. Sie wünschte sich Saugnäpfe an Leide Hände, um mit dem Fels zu verwachsen.
Da geschah, was zu erwarten stand: Brennend vor Eifersucht, schlug Vidor die Arme um ihre Hüften, versuchte, die sich Widerstrebende an sich zu ziehen.
Ursula stemmte ihm die Fäuste in Scham und Abwehr auf die Brust. Sie sah das begehrliche Funkeln in seinen schwarzen Augen, dieses Funkeln der Begierde, das sie ein Jahr lang beherrscht hatte.
Wenn ich dieser Gefahr entronnen bin, kann ich meinem Gott danken! dachte sie, gefangen von ihrer Angst.
„Ursel — hast du mich noch lieb?" lachte Vidor im Siegestaumel des dreisten Wegelagerers.
Seine Gefangene wandte Gewalt an. ,Latz mich, du!'
Dann stürzte sie, von seinen Armen plötzlich freigegeben, rückwärts aus der Wand. Ein Schrei wahnwitzigen Schrek- kens floh von ihren Lippen. Dann Stille.
Vidor, nun plötzlich zur Besinnung gebracht, sah schwarz« und feurige Räder vor den Augen. Er wagte nicht, hinab- zusehen. Unfehlbar wäre auch er gestürzt. Minutenlang drückte er sich in den nächsten Felsspalt, der hier breit wie ein Kamin war. Nur jetzt nichts sehen, nichts hören!
Erst viel später hetzte er, wie von allen Teufeln der Unterwelt geputscht, den Pfad hinab. Achtzig Meter weiter, an der nächsten Serpentinenkehre, mußte er einen im Wege liegenden Block überklettern. Dabei sah er hinab in die Tiefe, schloß in einer jachen Schwächeanwandlung die Augen, suhlte eine entsetzliche Leere im Magen, der Kopf aber war^ ihm auf einmal so unsagbar schwer. Die Hände Wüten fest, die Fuße jedoch baumelten ins Leere.
Dann siegte die Schwäche.
Vidor sackte lautlos wie ein Stein ab, stürzte dreißig Geröll, schon im Sturz von einer wohltätigen Bewußtlosigkeit umfangen. (Fortsetzung folgt.)