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3. Fortsetzung.
Boris Sawinkow war der Meinung, das Attentat wäre mißglückt. Er hatte in der Ferne ein Fahrzeug verschwinden sehen und nicht begriffen, daß es der andere Wagen, der mit dem Gardeoffizier, gewesen war. Aber ehe er das Wort an Sasanow richten konnte, trat ein völlig verwirrter Polizeioffizier hinzu, fuchtelte mit den weiß behandschuhten Händen in der Luft herum und sogt- schnell und wirr: „Gehen Die weiter, mein Herr, ich fordere Die auf, weiterzugehen!"
Sawinkow folgte der Aufforderung und entfernte sich in aller Ruhe. Er benutzte sofort den ersten Zug nach Warschau. Am nächsten Tage reiste Schweizer mit dem übrig gebliebenen Dynamit verabredungsgemäß nach Wilna. Dasselbe taten die drei nicht zum Handeln gekommenen Verschwörer, nachdem sie dem Befehl gemäß ihre Mordwerkzeuge an den vorgesehenen Stellen versenkt hatten.
Der verwundete Sasanow wurde ins Alexander-Spital für Arbeiter gebracht, wo er in Anwesenheit des Justizministers operiert wurde. Getreu den Regeln der Partei lehnte er es ab, seinen Namen zu nennen. Später hat er aus dem Gefängnis einen Brief geschrieben, aus dem wir die wichtigsten Teile hier wiedergeben wollen:
„Liebe Brüder und Genossen! Mein Drama ist beendet. Ich hoffe meine Rolle bis zu Ende richtig gespielt zu haben. Für Euer Vertrauen danke ich Euch aus tiefster Seele. Ihr habt mir die Möglichkeit gegeben, eine moralische Befriedigung kennen zu lernen, die mit nichts in der Welt zu vergleichen ist. Diese Befriedigung hat mir die Qualen erleichtert, die ich nach der Explosion erdulden mußte. Als ich nach der Operation wieder zu mir kam, atmete ich auf. Endlich war das Ziel erreicht. Ich hätte singen und vor Freude schreien mögen... Dann aber kam das Fieber. Zwei Monate lang konnte ich mich nicht bewegen und wurde wie ein Kind von fremder Hand gefüttert. Natürlich nutzte die Polizei meine hilflose Lage aus. Die Detektive belauschten meine Fieberphantasten, aber sie konnten aus meinem Zustand keinen Sdrtzen ziehen. Ich weiß noch ganz genau alles, was ich im Fieber gesagt habe, lind doch habe ich ein Verbrechen begangen, habe meinen Namen schon nach drei Wochen genannt; ich begreife nicht, wie das geschehen konnte. Genossen! Seid nachsichtig gegen mich. Wenn Ihr wüßtet, welche Todesqualen ich erlitten habe! Aber ich war nicht imstande, mir zu helfen. Ich wollte mir die Zunge abbeißen — aber auch dazu braucht man Kraft, und ich war so schwach!"
Am 30- November 1904 fand vor dem Petersburger Gericht mit Ständevertretung der Prozeß statt. Sasanow wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Das verhältnismäßig milde Urteil erklärt sich aus dem Kurswechsel in der Regierung, die zum Nachfolger Plehwes einen etwas liberaleren Mann bestimmte und die Direktiven zu dem Urteil gab, um die öffentliche Meinung durch die Hinrichtung nicht in noch größere Erregung zu bringen. Sasanow saß ein Jahr lang in der Schlüsselburg und wurde später in ein Zuchthaus überführt.
V. Kapitel.
Ein furchtbarer Schlag war auf den Zarismus niedergesaust; das Riesenreich schien in seinen Grundfesten zu beben. Alle die Millionen Unterdrückter, Gequälter, Verzweifelter horchten aus und begannen wieder zu hoffen. Mußten da die Nutznießer der Welt — und die Staatsordnung, gegen die dieser Schlag geführt war, nicht vor Furcht erbeben? Mußten sie nicht fragen: Wie war eine solche Tat trotz der Polizei mit ihrer Ochrana möglich? Hätten sie die Wahrheit zu erforschen versucht, so hätten sie gefunden, daß nur ein einziger Mensch auf ihre Frage eine ganze, volle Antwort hätte geben können und dieser Einzige war — Raskin! Äußer ihm aber ahnten noch einige wenige Menschen einen Teil der Wahrheit, unter ihnen auch der Chef der Ochrana, Ratsch- kowski, und diese Wenigen saßen direkt an den Stufen des Thrones und wünschten keine Erleuchtung der schwarzen Hintergründe.
So hatten sich die wunderlichsten Schicksalsfäden zum Leichentuch des Diktators von Rußland gewoben, und Plehwe war jetzt nichts mehr als einer der 140000 Opfer, die bis 1914 unter der Regierung Nikolaus II. dargebracht wurden, um das absolute Regiment eines gekrönten Neurasthenikers zu retten, der ein Spielball war in den Händen von schlauen Spiritisten, habgierigen Popen, brutalen Großfürsten und ungebildeten Generälen.
Boris Sawinkow sollte sich der Verabredung gemäß mit Asew in Warschau treffen. Äsew aber hatte Warschau bereits verlassen und befand sich in Wien. Für diese vorzeitige Abreise ins Ausland fand Sawinkow keine Erklärung.
Einige Zeit später trafen die Angehörigen der Kampfgruppe vollzählig in Gens ein. Feierlich empfing der Chef der sozial-revolutionären Partei, Michael Gotz, zugleich Vater, Freund und Bruder aller Terroristen, seine Helden. Dieser durch ein schweres Leiden an den Rollstuhl gefesselte Mann war der eigentliche ideologische Leiter des Terrors und Hüter der Kampstradition. Schon Gerschuni hatte jede seiner Aktionen genau mit ihm durchgesprochen. Tein ungeheurer Einfluß aus alle Revolutionäre war bis in die entferntesten Winkel Rußlands zu spüren.
Er erließ ein stolzes Manifest in der gesamten revolutionären Presse der Welt, das mit den Worten schloß: ,Mrst wenn in Rußland das parlamentarische Regierungsshstem auf Grund eines allgemeinen Wahlrechts eingeführt ist, werden wir diese, unsere revolutionäre Taktik aufgeben!"
Der Nachhall des Attentats war gewaltig. Man hatte allgemein das Gefühl, von einer Last befreit zu sein; der hemmungsloseste Henkersknecht des Zarismus, der Mann, der seine Karriere mit dem Blute der Verzweifelten und Gemarterten zusammengeleimt hatte, war verschwunden! Die Kampfgruppe bekam riesigen Zulauf, aus der ganzen Welt trafen Glückwunschtelegramme ein, Geldspenden von teilweise mehr als zehntausend Rubel kamen an, und die bis dahin zahlenmäßig so unbedeutende Partei der Sozial-Revolutionäre trat mit diesem einen Schlage an die Spitze aller Umsturzparteien.
Der Held aber, der das gewaltige Werk durch sein Genie vollbracht hatte, war Asew. Er stürzte sich von neuem in die Arbeit. Vierzehn Tage nach Plehwes Tod vertrat er die Partei auf dem Sozialisten-Kongreß in Amsterdam und im Herbst auf dem Meeting aller nicht-sozialdemokratischen revolutionären Parteien in Paris. Selbstverständlich wurde er erneut als Leiter der Kampfgruppe bestätigt.
Er begann damit, daß er ein neues Statut aufstellte. Das alte, bisher gültige, aber inzwischen unmodern gewordene und überalterte stammte noch von Gerschuni. Aus dem neuen
Statut, das im siebenten Heft der Parteizeitschrist veröffentlicht wurde, teilen wir den wichtigsten Passus mit:
„Gemäß dem Beschluß der Partei ist eine spezielle Kampfgruppe gebildet worden, die auf der Grundlage strengster Conspiration und weitgehender Arbeitsteilung ausschließlich desorganisatorische und terroristische Arbeiten ausführt. Die Parteileitung weist dieser Kampforganisation ihre Arbeit an, bestimmt den Zeitpunkt, an dem die Kriegs- Handlungen vor sich gehen und nennt die Person, gegen welche diese Handlungen sich richten. Im übrigen besitzt die Kampfgruppe vollkommene Selbständigkeit. Sie ist nur der Parteileitung direkt unterstellt und von den lokalen Komitees vollkommen unabhängig. Sie ist eine separate Organisation und verfügt über ihren eigenen Personalbestand und ihre besonderen Kassen und Geldquellen."
Die in jeder Beziehung gefestigte Kampfgruppe begab sich zuerst nach Paris. Hier wurde eine Werkstatt für Dynamit eingerichtet, der eine Schule angegliedert war, in der Schweizer alle Mitglieder der Reihe nach in der Dynamit-Technik unterrichtet. Inzwischen bildete Asew drei getrennte Detachements, von denen jedes an einem anderen Ort agieren sollte.
Das erste Detachement, das größte, wichtigste und bestorganisierte, sollte in Petersburg den Generalgouverneur Trepow und den Großfürsten Wladimir „visitieren". Schweizer war der Führer der anfangs elf-, später fünfundzwanzig- köpfigen Gruppe.
Dem zweiten Detachement wurde die Aufgabe gestellt, den Generalgouverneur von Moskau, den Großfürsten Sergius Alexandrowitsch zu „visitieren". Der Führer war Boris Sawinkow; die Gruppe bestand zunächst aus Kaljajew, Dora Brilliant und zwei weiteren Genossen.
Das dritte Detachement hatte sich nach Kiew begeben, um den Generalgouverneur Kleighes zu „visitieren". Diese Gruppe bestand nur aus drei Genossen.
Vorerst aber sollten die neuhinzugekommenen Genossen die beim Attentat auf Plehwe erworbenen Erfahrungen, vor allem die bewährten Praktiken der Straßenbeobachtung von den alten Leuten lernen.
Im November 1904 setzten sich die Angehörigen der drei Detachements, jeder , für sich und von den anderen getrennt, mit falschen Pässen versehen, in Marsch; das nötige Dynamit wurde in kleine Portionen geteilt und in den Rock- und Manteltaschen untergebracht.
Am erfolgreichsten arbeitete das zweite Detachement unter Sawinkow in Moskau. Der Arbeitseifer und die Besessenheit Kaljajews überwanden alle Schwierigkeiten. Er, dem man wegen seines schwärmerischen Wesens den Decknamen der Poet zugeteilt hatte, liebte die Revolution so tief und innig wie nur diejenigen sie leben, die ihr das Leben opfern. So schien er denn allen der Rechte für die Bestrafung des Großfürsten Sergius.
Dieser Mann, der Onkel des Zaren, war es gewesen, der die Schuld an dem furchtbaren Unglück bei der Thronbesteigung Nikolaus II. trug; mehr als viertausend Menschen waren damals auf dem Chodynski-Felde zu Tode getreten worden; er war es, der die für die Krönung bewilligten Millionen, die dem Volke zu diesem Zwecke abgepreßt worden waren, in die eigene Tasche gesteckt hatte. Er war es, der in vollem Einklang mit seiner Devise „Bleibe fest" den haltlosen Kaiser stets zur Schärfe gegen das Volk aufputschte. Er war es, der die gelben Arbeitersyndikate hatte Hervorrufen und dann zum Anlaß brutaler Niederknüppelung des Proletariats hatte nehmen lassen. Er war der eiserne Wille der Reaktion und das Rückgrat und Bundament des blutigen Absolutismus. Wahrhaftig, es entbehrt nicht der Ironie, daß dieser Riesenschlächter, dieser Gigant der Knute, von dem zarten polnischen Poeten gefällt wurde.
Kaljajew ging Anfang Dezember des Jahres 1904 an die Arbeit. Er und noch ein Genossen kauften sich jeder ein Pferdchen und einen Schlitten, etablierten sich als Droschkenkutscher auf den Straßen Moskaus und stellten in unermüdlicher stundenlanger Kleinarbeit den Aufenthaltsort und die Fahr- gewohnheiten des Großfürsten fest. Dabei mußten sie sich ganz in die Rollen Moskauer Droschkenkutscher einleben, um chrer Umgebung nicht aufzufallen und das Interesse der Ochrana nicht auf sich zu lenken. Mit tausend kleinen Pfiffen und Kniffen schlichen sie sich in das Vertrauen ihrer Zunft-' genossen. Kaljajew spielte den Schüchternen und Aen-gstlichen, erzählte, wenn er mit den „Kollegen" aus den Fuhrmanns- Höfen Herumstand, lang und mit allen möglichen Einzelheiten aus seinem früheren Leben, war fromm und geizig, klagte fortwährend über das Defizit in seiner Kasse und spielte immer, wenn er keine genauen und passenden Antworten geben konnte, den Dummen. So behandelte man ihn auf dem Fuhrmannshof zuerst mit leiser Verachtung, allmählich fing man an, ihn zu schätzen, denn sein außerordentlicher Fleiß erzwang sich Ächtung. Er wartete sein Pferd, wusch den Schlitten, fuhr als Erster aus und kam als Letzter zurück. Nach wenigen Tagen hatte er sich bereits ein Bild von den Lebensgewohnheiten des Großfürsten gemacht — da ereigneten sich ganz unerwartet die bekannten Moskauer Studenten- Unruhen vom 5. und 6. Dezember. Das unabhängige Moskauer Komitee hatte aus dem Anlaß der geplanten Unruhen eine Erklärung mit einer unverblümten direkten Drohung an den Großfürsten erlassen. Diese Drohung lautete:
„Das Moskauer Lokalkomitee der Sozialrevolutionären Partei hält es für notwendig, rechtzeitig zu warnen. Wenn oie zum 5. und 6. Dezember einberufene politische Demonstration von der Polizei und den Behörden mit ebensolchen viehischen Schlägereien begleitet werden sollte, wie das vor einigen Tagen in Petersburg geschehen ist — dann wird die ganze Verantwortung für die tierischen Grausamkeiten auf das Haupt des Generalgouverneurs Sergius fallen. Das Komitee wird nicht davor zurückschrecken, ihn hinzurichten."
DaS Erscheinen dieser Erklärung warf alle bisherigen Resultate der Kampfgruppe über den Haufen, denn Sergius übersiedelte plötzlich aus dem Gouvernementspalais an einen unbekannten Ort und Kaljajew sah sich mit seinen Getreuen gezwungen, nunmehr eine ganze Anzahl von verschiedenen Schlössern zu beobachten. Schließlich gelang es ihm aber doch, den Wagen des Großfürsten am Kaluga-Tor zu sichten. Er schloß daraus, daß der Großfürst im Neskutschni-Kalais lebte. Seine Vermutung bestätigte sich, lieber diese Veränderung der Situation war er keineswegs unglücklich, denn der neue Aufenthaltsort lag mehrere Kilometer vom Kreml entfernt, sodaß der Großfürst mit seinem Wagen weite Strecken zurücklegen mußte und sich dadurch besser exponierte. Bald wurde denn auch festgestellt, daß Sergius weiterhin nach dem Kreml fuhr und daß er stets den gleichen Weg benutzte.
Aber mittlerweile war das neue Jahr herangekourmru und am 9. Januar fand in Petersburg jene Metzelei statt,, die unter dem Namen „Blutiger Sonntag" in die Weltgeschichte eingegangen ist. Infolge der Unruhen verlegte der Großfürst seinen Wohnsitz wiederum und die Terroristen mußten noch einmal mit den Vorarbeiten von neuem beginnen. Schließlich gelang es Kaljajew, seine Ankunft im Kreml zu beobachten. Trotzdem wuchsen die Schwierigkeiten mehr und mehr, denn er benutzte jetzt immer andere Wege und fuhr zu ganz unregelmäßigen Zeiten und durch die allerverschiedensten Tore in die Festüng. Schließlich mußten die Revolutionäre ihre Taktik ändern. Sie versuchten jetzt, rechtzeitig aus den Zeitungen zu erfahren, wann und zu welchen offiziellen Feierlichkeiten, wie Gottesdiensten, Theatervorstellungen, Eröffnungen von Krankenhäusern usw. der Großfürst etwa erwartet wurde. Schließlich stellte sich heraus, daß auch diese Quellen keine sicheren und rechtzeitigen Hinweise ergaben.
Immer unruhiger wurden die Revolutionäre. Die Wellen der Empörung, die seit dem „Blutigen Sonntag" nicht nur Rußland sondern ganz Europa durchzitterten, drangen bis in die Abkapselung dieser monomanisch Besessenen hinein. Ruthenberg, jener Mann, der den Priester Gapon, den Anführer des ,Blutigen Sonntag", unter den Salven des Militärs fortgeführt hatte, war nach Moskau geflohen und traf mit Kaljajew zusammen; er erzählte die Petersburger Vorgängr- in allen Einzelheiten. Die JndiviLualterroristen waren von je blind und taub gewesen gegen die Ankündigungen der kommenden Massenrevolution; sie glichen darin ganz der Ochrana: Beide sahen den Wald der Revolution vor Bäumen nicht! So war ihnen denn der Beginn der großen russischen Revolution nichts weiter als eine „unerwartete Aktion, die die Illusion einer beginnenden Revolution schuf. Ruthenberg versuchte Sawinkow von der politischen Reichweite der Arbeiteraufstände zu überzeugen; er wollte ihn veranlassen, seine individualterroristischen Unternehmungen einmünden zu lassen in die große Aktion der Arbeitermassen. Daraufhin berieten sich die Mitglieder der Kampfgruppe und Sawinkow begab sich nach Petersburg, um an Ort und Stelle zu untersuchen, ob und wieweit sie die Mtion der Arbeiter unterstützen könnten.
Aber wiederum fand er, der echte Terrorist, nicht den Weg zur Massenrevolution. Eine junge Dame namens Tatjana Leontjewa und ihre Beziehungen zum Hof waren es, die ihn mehr interessierten, als der Vormarsch des Proletariats, Durch Vermittlung dieses schönen Fräuleins sollten nämlich jetzt Vorbereitungen zu einem Attentat auf den Zaren selbst getroffen werden. Nachdem Sawinkow sich überzeugt hatte, daß im Augenblick in Petersburg „nichts los und seine Anwesenheit völlig überflüssig" sei, da für die nächste Zukunft keine Aktion der Arbeiter zu erwarten wäre, kehrte er nach Moskau an die alte Arbeit zurück.
-Hier saß noch immer Kaljajew im blauen Kutschermautel mit einem roten Baumwolltuch um den Hals aus dem Bock seines Schlittens und beobachtete; aber die Nerven des Poeten fingen an, nachzulassen.
Endlich brachte die Zeitung die Nachricht, daß am 2. Febr.. im Großen Theater eine Wohltätigkeitsvorstellung für das Rote Kreuz stattfinden sollte. Da die Großfürstin das Pro- tektoriat übernommen hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Großfürst an diesem Tage das Theater besuchen würde. So wurde denn das Attentat auf den 2. Febr. angesetzt. Sawinkow trommelte alle Mitglieder seiner Kampfgruppe nach Moskau zusammen und holte schleunigst Dora Brilliant aus Dorpat ab, wo sie das Dynamit aufbewahrt hatte. Ju der Nacht zum 2. Februar setzte die kleine tapfere Person zwei Bomben gebrauchsfertig zusammen. Zwischen sieben und einhalbacht Uhr abends gab Sawinkow die beiden Bomben aus, die er vorher bei Dora abgeholt und in seiner Aktentasche zum Theater mitgenommen hatte. Von acht Uhr ab waren die beiden Zufahrtswege zum Theater von je einem Bombenwerfer besetzt. Kaljajew war jetzt als Bauer gekleidet mit kurzer Jacke, Schirmmütze und hohen Stieseln; er stand im Tor des Stadthauses und starrte auf den einsamen dunklen Platz. Kurz nach acht Uhr kam der Wagen des Großfürsten vom Nikolski-Tor her. Kaljajew erkannte ihn sofort an den Weißen und Hellen Laternen. Der Wagen schwenkte auf den Platz ein und Kaljajew warf sich ihm ohne Zaudern entgegen, um ihm den Weg abzuschneiden. Er hatte schon die.Hand erhoben, um die Bombe zu werfen — da sah er plötzlich, daß außer Sergius noch die Großfürstin Elisabeth mit ihren drei kleinen Kindern im Wagen saß. Er ließ die Bombe sinken und verschwand eilig.
Kurz danach traf er Sawinkow. Vor Erregung konnte er kaum sprechen: „Es ist schrecklich — aber ich darf doch die Kinder nicht umbringen!" rief er. Er verstand, welche Verantwortung er auf sich geladen hatte. Diese einzigartige Gelegenheit zur Ermordung hatte er vorübergehen lassen. Hatte nicht nur sich selber, hatte die ganze Organisation aM Spiel gesetzt! Man hätte ihn mit der Bombe in der Hand am Wagen verhaften können und das Attentat hätte auf lange Zeit verschoben werden müssen. Sawinkow aber war nm seiner Handlungsweise einverstanden. Auf Kaljajews Verlangen wurde sofort, noch zur selben Stunde, die Frage erörtert, ob die Kampfgruppe das Recht habe, auch Frauen und Kinder mit umzubringen, wenn es nötig erscheine. Sollte diese Frage, die noch nie besprochen war, positiv beantworte! werden, so war der Poet bereit, seine Bombe noch am selben Abend auf der Rückfahrt des Wagens aus dem Theater M werfen, ohne Rücksicht darauf, wer sich im Wagen befände. Aber die Frage wurde verneint! Wieder sehen wir, daß aM von diesen Jndividualterroristen niemals der Einzelne am eigene Verantwortung handelt; er verlangt seine Sanktion, er verlangt den Beschluß und den Befehl der Gruppe; das Kollektiv sitzt dem Russen, selbst dem liberalen Anhänger de» Individualismus, tief im Blut.
Das Attentat wurde auf den 4. Februar 1905 verschobeii- Der dazwischenliegende Tag sollte Ruhetag sein, denn die Genossen waren offensichtlich nicht mehr Herr ihrer Nerven- kräfte- Nach ihrer Kenntnis der Gewohnheiten des Großfürsten war mit ziemlicher Gewißheit anzunehmen, daß er »
4. oder 5. Februar in Las Generalgouverneurhaus an oei Twerskaja fahren würde. Am Nikolski-Tor sollte Kaljcqew Li Bombe schleudern. .
Zur festgesetzten Stunde erhielt Kaljajew die in ein Plai eingewickelte Bombe. Die Turmuhr des Kreml schlug Zwe, als sich Sawinkow von ihm verabschiedete.
„Leb Wohl, Janek!"
„Leb Wohl, Iwan Platonowitsch!" . ,
(Fortsetzung folgt.)