942

die höchste, sondern die mittlere Zahl der Hilfs- personen in Anwendung kommen. Die mit der Verbreitung der Sache betraute Kommission hatte UnterauSteiluug nach der Höhe der Gewerbesteuer» kapitale beantragt. Dagegen war vom Kommissar eingewendet worden: Da nun die eigentlichen Handwerksbetriebe herangezogen werden dürfen, müßte für die sogenannten gemischten Gewerbe­betriebe (Bäckerei oder Metzgerei in Verbindung mit Schaukwirtschaft, Buchbinderei mit Papier» Handlung u. dergl.) das Gewerbesteuerkapital des Handwerksbetriebs besonders erhoben werden, was zu den größten Umständlichkeiten führen würde. Zum Sekretär wurde der Assistent der Stutt­garter Handelskammer, Hans Frey tag, gewählt.

Ulm, 14. Dez. Das Schwurgericht befaßte sich heute mit den Betrügereien, die der 1878 in Buchen OA. Riedlingcn geborene Bantechniker Anton Ruß unter Zuhilfenahme der Presse vom Mai bis Okiober d. I. verübt hat. Er ließ in 35 deutsche Zeitungen ein Inserat «inrücken, in dem er sich aus Dankbarkeit erbot, Lungenleidenden unentgeltlich mitzuteilen, wie er von einem schweren Lungenleiden geheilt wurde. Dieses Inserat Unter­zeichnete er mit dem Namen eines Biberacher oder Münchner Lehrers, worauf an diese Adresse zahl­reiche Zuschrift«» von Hilfesuchenden gelangten. Ruß, der die Zuschriften erhielt, richtete an die Absender derselben Briefe, in welchen er einen ihm zufällig bekannt gewordenen Kräutertee als unfehl­bares Heilmittel für Lnr genleidende empfahl. Gegen 100 Personen ließen sich daraufhin bestimmen, bei ihm selbst solchen Tee, der gegen 23 ab­gegeben wurde, zu bestellen. Ihn selbst kostete das Packet 1215 A und der Tee, der aus Huflattich, Spitzwegerich und Lungenkraut zusammengesetzt war, hatte nach Aussage des Sachverständigen keinerlei gesundheitlichen Wert. Ruß, der wegen schweren Diebstahls schon zwei Gefängnisstrafen von 9 Monaten und 1 Jahr abgeseffen hat, wurde wegen eines fortgesetzten Vergehens des Betrugs, begangen durch die Presse, zu 7 Monaten Gefängnis ver­urteilt. Festgestellt wurde, daß Ruß nie lungen­krank war.

Gmünd, 14. Dez. Ein bedauerlicher Unfall stieß gestern einem Gmünder Arzt auf der Straße noch Herlikofen in der Nähe diese Ortes zu. Derselbe war in einem Automobil auf dem Weg zu einem Krankenbesuch, als ihm ein mit einem Pferd bespannte», von 2 jungen Leuten gelenktes Fuhrwerk entgegenkam. In langsamem Tempo war er bereits vorbeigefahren, als er merkte, daß das Pferd scheute, auf einen Steinhaufen sprang und niederstürzte. Hilfsbereit stieg er aus dem Wagen und half das Pferd wieder in die Höhe bringen, kam aber dabei selbst zu Fall. Das Pferd schlug aus und traf den Arzt mit einem Hinterhuf ans linke Auge; auch das Fuhrwerk ging über ihn hinweg. Die Verletzungen im Gesicht find nicht unerheblich.

Lorch, 14. Dez. Einen interessanten Fund mochte man in der hiesigen Stadtkirche. An der Kanzel befanden sich bisher die Bilder der vier Evangelisten und Jesus, die auf Leinwand gemalt find. Die Renovation der Kirche machte ihre Ab­nahme erforderlich; dabei stieß man unter diesen Bildern auf vier gut erhaltene Holzschnitzereien, die vier Kirchenväter Hieronymus, Augustin, Gregor und Ambrosius darstellend, die leicht übermalt find und anscheinend ans der Mitte des 15. Jahrhunderts stammen. Die gleiche Art der Ausführung der Holzschnitzerei ist bisher nur erst einmal in Württem­berg und zwar in Hebsack gefunden worden.

Berlin, 14. Dez. (Reichstag.) Auf der Tagesordnung Keht zunächst die dritte Lesung der Vorlage betreffend die Handelsbeziehungen zum britischen Reiche. Abg. Schlnmberger (natl) macht Bedenken geltend wegen der Herabsetzung der Garvzölle. Nach einer kurzen Entgegnung des Unterstaatssekretärs Wermuth wird die Vorlage definitiv angenommen, ebenso der Handelsvertrag mit Bulgarien. Es folgt die Fortsetzung der General­debatte über den Etat, die Finanzreform, Steuer­vorlagen und Flottengesetz. Abg. Graf Stolberg (kons.) polemisiert des längeren gegen die Schluß- ausführungeu des Staatssekretärs Posadowsky am LieuStag und betont, daß durch die Wohlhabenheit der bürgerlichen Gesellschaft auch vie Lebenshaltung der Arbeiter gestiegen sei. Im deutschen Volke sei

noch durchaus Idealismus vorhanden. Abg. Bebel (Soz.) berührt zunächst die Diätenfrage und wendet sich dann gegen die Kriegführung in Afrika und den Trotha'ichen Erlaß. I» der Budget-Kommission sei heute offiziell erklärt worden, daß der Reichs­kanzler sich in die Verhandlungen mit Morenga überhaupt nicht eingelassen habe. Das Telegramm, durch das Trotha verhindert worden sei, mit Morenga zu verhandeln sei vielmehr ausgegangen vom großen Generalstabe. Er erbitte hier im Plenum eine Bestätigung beziehungsweise authentische Erklärung hierüber. Weiter beleuchtet Redner, wie Konservative und Zentrum beflissen seien, den Arbeiterkonsumvereiuen an den Wagen zu gehen. Auf die auswärtige Politik übergehend erinnert Redner an einen Ausspruch Bismarcks im Jahre 1885, daß er die Möglichkeit eines kriegerischen Konfliktes mit England durchaus bestreite und daß Deutschland mit einigermaßen gutem Willen sich stets mit England einigen könne. Ein Bündnis des deutschen Reiches mit England würde die beste Friedensgarantie sein. Weiter verwahrt sich Redner gegen die Bülowschen Unterstellungen des Landes­verrats in seine Reden. Die Mörder und Plünderer in Rußland seien keine Sozialisten sondern Werk­zeugs der russischen Regierung. Die Kulturstaaten sollten Einspruch erheben gegen die unter Begünstigung der russischen Regierung verübten Mordtaten in Ruß­land. Reichskarzler Fürst Bülow erklärt, es sei eine Lüge, wenn behauptet werde, daß sich unsere Flotten­verstärkung gegen England richte und daß wir mobil gemacht hätten. Es sei ferner unwahr, daß wir irgendwie England gereizt haben. Kaiser Wilhelm habe bewiesen, daß er von je her alles getan hat, um den Frieden zu erhalten. Leute, die sich für wohlinfonniert ausgebev, sprechen immer davon, daß dis Ursache der Feindseligkeit zwischen England uud Deutschland in einem Konflikt zwischen Kaiser Wil­helm und König Eduard zu suchen ist. Das ist eine blödsinnige Lüge. Der Reichskanzler bezeichnet es auf das bestimmteste als unwahr, daß wir uns England gegerüber jrmals mit aggressiven Plänen getragen haben. Redner erörtert nun eingehend die Verleumdnngskampagne, die die sozialdemokratische Presse in dieser Sache lange Zeit verfolgt und für ihre Zwecke ausgedeutet habe. Er bespricht noch unsere Welipolitik, die darin bestehe, daß wir auf dem Gebiete des Handels und der Schiffahrt die­selbe Berücksichtigung verlangen, wie alle anderen Länder. Unsere Seeleistungen halten sich in viel bescheideneren Grenzen, als die mancher anderer Länder, speziell als die Englands. Wenn die Sozialdemokraten das Heft in die Hand bekämen, dann würde eS um Deutschland bald jämmerlich bestellt sein. Der Reichskanzler schließt: Seien Sie überzeugt, daß wenn Sie bei uns einen Sturm gegen die Bastillen versuchen sollten. Ihnen das übel bekommen würde. Gehen Sie von Reden zu Taten über, so werden Sie sehen, was kommt. Abg. Erzberger (Zentrum) erörtert die Kolonial- verwaltung, bemängelt die Rechtspflege und die Behandlung der Eingeborenen. Nach weiteren Be­merkungen des Stomssekretärs Richthof und des Geheimen LegaiionSratS Helferich erfolgt Ver­tagung. Morgen 11 Uhr Fortsetzung der Etats- beratuog, außerdem Nachtrags-Etat für südwest- afrikanische Eisenbahnen.

Wien, 14. Dez. Hier laufen Gerüchte um, die Frage der macedonischen Finanzreform habe plötzlich eine ernste Wendung genommen, da der Sultan die Zustimmung zu den Forderungen der Mächte wieder zurückgezogen habe. Au amtlicher Stelle weiß man bis jetzt nichts darüber, erklärt vielmehr, daß die Botschafter in Koustantinopel die vom Sultan begehrten unwesentlichen Aenderungcu angenommen hätten, womit die Verhandlungen erledigt seien. Auffallend ist jedoch die weitere offizielle Erklärung, die Flottenkundgebung bleibe vorläufig noch aufrecht, bis entsprechende türkische Maßregeln erfolgt seien. In diplomatischen Kreisen wird erzählt, dis Botschafter seien zu Abänderungen des FinanzreglementS gezwungen gewesen, weil Frankreich und Italien erklärten, an einer etwaigen Fortsetzung der Zwangsmaßregelu gegen die Türkei nicht mehr teilnehmen zu wollen.

Petersburg, 13. Dez. Auf Privatwegeu wird aus Riga berichtet, daß am Freitag Abend eine Versammlung von Etsenbahubeamten mit Waffengewalt aufgelöst wurde. Hierbei gelaugten

auch Maschinengewehre zur Anwendung; die Zahl der Getöteten soll bedeutend sein. In den Straßen find die Maschinengewehre aufgefahreu. Der Bahn- Verkehr von Riga nach Petersburg ist eingestellt. Ein Tagesbefehl des Ministers Dnrnowo vom 9. ds. erklärt kategorisch: Der Verband der Post- und Telegraphsnbeamten wird unter keinen Umständen gestattet werden. Diejenigen Beamten, die den Allsstand forisetzen, werden unbedingt vom Dienst ausgeschlossen; diejenigen, welche Unruhen anstiften uud Beschädigungen der Leitungen und Apparate veranlassen, werden gerichtlich verfolgt wegen offener Auflehnung und Rebellion.

Petersburg, 14. Dez. Das Telegraphen­amt gleicht einem regelrechten Kriegslager. Es ist von einem starken Militäraufgebot besetzt. Das Publikum belagert die Schalter, um Telegramme, die sämtlich mit der Post befördert werden, aufzu­geben. Verschiedene Fabriken und Banken richteten hier eigene Privat post ein. Bei den Truppen macht sich den Offizieren gegenüber nur zu oft Respekts- mangel bemerkbar.

London, 14. Dez. Wie aus Petersburg gemeldet wird, fanden in Lodz große Unruhen statt. Die Schwarze Hundert wirbt den Mob an, um gegen die Juden und Anhänger der politischen Reformen loszuziehen. Der Pöbel plünderte viele Geschäfte und Wohnungen und verübte Exzesse gegen zahlreiche Personen. Tie Arbeiter organisieren eine Schutzmiliz und treten den Ruhestörern entgegen. Es kam bereits mehrfach zu Zusammenstößen, wobei auf beiden Seilen von den Schußwaffen Gebrauch gemacht wurde. Zahlreiche Personen wurden ge­tötet oder verwundet.

London, 14. Dez. Die Exchange Telegraphen Companie meldet aus Ncw-Iork: die Verlobung von Miß Alice Roosevelt mit dem Kongreß- Mitglied Nicholas Longworth wurde im Weißen Hause offiziell angekündigt. Die Hochzeit ist auf Mitte Februar festgesetzt.

Zu dem schon gestern gemeldeten Groß­feuerin Ludwtgshafen meldet man demSchw. Merk." aus Mannheim, 13. Dez.: Seit Jahren ist unsere Nachbarstadt Lndwigshafen von keinem so verheerenden Großfeuer heimgesucht worden, wie es bei dem Brande der Walzmühle der Fall war. Das gewaltige Anwesen liegt, wenn mau von Mann­heim aus die Rheinbrücke überschritten hat, gerade links vom Ludwigshafener Brückenkopf und nimmt mit seinen mächtigen, sechs Stockwerke hohen Bauten, einen sehr weitläufigen Platz ein. Als ein großes Glück ist es zu betrachten, daß ein günstiger Wind wehte, der das kolossale Flammenmeer von der be­nachbarten Trikotweberei von Mann abtrieb. Von den Nachtarbeitern, die von dem Feuer so schnell überrascht wurden, daß sie kaum das nackte Leben retten konnten, liegen drei im Krankenhaus in Lud­wigshafen. Sie hatten nicht mehr zu den Treppen gelangen können und mußten aus dem Fenster deS vierten Stocks springen. Ihre Verletzungen, die sie beim Sprung in die Tiefe und beim Passieren einer bereits vom Feuer ergriffenen Strecke erlitten, sind nicht so schwerer Natur, als anfänglich angenommen wurde. Jedenfalls ist Lebensgefahr ausgeschlossen. Ein Schutzmann rettete zwei weitere Männer aus dem vierten Stock eines anderen Gebäudes unter Lebensgefahr über eine von außen angelegte Leiter. Der dem Brückenkopf und dem Rhein zunächst ge­legene Eckbau, in dem das Feuer ausgebrochen ist, ist fast vollständig vom Erdboden verschwunden. Die bei der enormen Höhe der Gebäude nicht sehr starken Mauern find von den explodierenden Mehl­massen förmlich auseinandergesprengt worden. Außer den bereits erwähnten Gebäuden ist auch die sogen. Graupenmühle stehen geblieben. Dort wird jeden­falls in den nächsten Tagen die Arbeit wieder aus­genommen werden und so einem Teil der ca. 350 Mann starken Arbeiterschaft Beschäftigung bringen. ES heißt schon seit einigen Jahren, daß die Gesell­schaft den Betrieb nach Mannheim verlegen will, weil ihr die besonderen Steuerlasten, die ihr der bayerische Staat auferlegt hat, zu drückend find. ES ist nicht ausgeschlossen, daß sich die Gesellschaft die jetzt günstige Gelegenheit zu nutze macht, uud zwar dürfte eine Ueberfiedlnng nach Mannheim davon abhängen, ob und inwieweit ihr der bayerische