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Zeugin zu erscheinen. Ciuello war vorher in deren Wirtschaft gewesen und hatte, nachdem er sich drei Tage lang dem Trunk ergeben hatte, damals in Gesellschaft anderer Gäste 7 Liter Bier getrunken. Einer der Gäste nahm ihm seinen Hut weg, den er erbettelt hatte. In dem darüber entstandenen Wortwechsel ergriffen die Gäste und nach Aussage des Angeklagten auch die Wirtin gegen ihn Partei. Als nachher die Wirtin einen Ausgang antrat, verfolgte Cinello sie und brachte ihr unvermutet den Stich bei. Während Cinello den ganzen Vorgang vor- und nachher noch genau wußte, behauptete er, während der Zufügung des Stichs das Bewußtsein verloren gehabt zu haben. Auch wollte er trotz 18jährigen Aufenthalts in Deutschland der deutschen Sprache nicht mächtig sein. Die Verletzte schwebte lange Zeit in Lebensgefahr. Da die Tat an versuchten Totschlag grenzte, lautete das Urteil gegen den mehrfach vorbestraften Angeklagten unter Ausschluß mildernder Umstände auf eine Gefängnisstrafe von 1 Jahr 6 Monaten.
Stuttgart, 30. Juni. Ein Straßenraub wurde heute mittag gegen 12 Uhr in der verkehrsreichen Friedrichsstraße verübt. Der etwa 25jähr. verheiratete, selbständige Friseur Konrad Köhler aus Weingarten entriß einem Kaufmaunslehrling eine Mappe mit 400 die dieser nach der Bank bringen sollte, und rannte damit gegen den Bahnhof davon. Am Eingang des Bahnhofs wurde der Dieb von dem durch Zurufe aufmerksam gemachten Schutzmannsposten verhaftet. Die Mappe mit dem Geld hatte er zuvor an der Ecke Friedrichsstraße und Schloßstraße weggeworfen; sie konnte dem Lehrling auf der Polizeiwache unversehrt übergeben werden. Köhler wurde in Polizeigcwahrsam genommen.
Stuttgart, 1. Juli. Der Flaschnerstreik ist beendet. Die Meister haben die 9'/-- stündige Arbeitszeit und eine entsprechende Lohnerhöhung bewilligt.
Tübingen, LO.Juni. (Schwurgericht.) Angeklagt des versuchten Totschlags und der Körperverletzung war heute der Zimmergeselle Ludwig Schäle von Neuffen OA. Nürtingen. Schüle befand sich am 12. März mit Kameraden in Balzholz und geriet in der Hirschwirtschaft mit Balzholzern in Streit, wobei er einem mit dem Bierglas einen wuchtigen Streich auf den Hinterkopf versetzte. Auf Geheiß des Wirts Blind verbrachten die Fabrikarbeiter Schäfer und Franz den Angeklagten in den Oehrn hinaus. Dort griff Schüle zu seinem scharfgeladenen Revolver und feuerte nacheinander drei Schüsse ab. Schäfer und Franz erhielten leichte Streifschüsse am Kopf, während die dritte Kugel dem Wirt Blind in den Fersen des rechten Fußes eindrang. Blind erkrankte, und es verlief seine Heilung nur langsam. Der Angeklagte machte Notwehr geltend; es wurde aber bezeugt,
daß er von keinem der Getroffenen geschlagen worden sei. Auch brachte er vor, er habe seinen scharfgeladenen Revolver nicht zum Schießen, sondern zum Zuschlägen in der Faust gehalten und im Ringen sei ihm versehentlich ein Schutz losgegangen. Nicht wahr sei, daß drei Schüsse gefallen seien, wie die Zeugen behaupten; es gehe dies schon daraus hervor, daß er nachher bloß eine leere Hülse im Revolver gefunden habe. Der Sachverständige, Oberförster Münst, zweifelte schon an der Möglichkeit, daß dem Angeklagten der Revolver, während er ihn in der Faust zum Zuschlägen gehalten habe, losgegangen sein könne, für ganz ausgeschlossen hielt er es ober, daß dies dreimal der Fall gewesen sein könne. Schüle wurde wegen zwei Vergehen der vorsätzlichen und eines Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung zu der Gefängnisstrafe von 8 Monaten und zur Zahlung einer Bvße an Blind in Höhe von 900 ^ verurteilt.
Metzingen, 2. Juli. Das Sommerfest der Volksportei fand heute hier und auf dem etwa Stunden von hier entfernten „Florian" statt. Unter fttiem Himmel fanden bei drückender Hitze am Bergabhang die Ansprachen statt. Landtagsabgeordneter Henning dankte den Anwesenden für ihr Erscheinen. Die Volkspartei sei gewöhnt, zu arbeiten und sei nach dieser sauren Woche der Arbeit hierher gekommen zur Erholung. Den Linksstehenden sei die Volkspartei nicht radikal genug. Es werde aber eine Zeit kommen, wo man mit Sehnsucht nach den besonnenen Männern des Fortschritts rufen wird. Reichs- und Landtogsabgeordneter Konrad Haußmann sprach zunächst über die politischen Ereignisse außerhalb Württembergs; über die Ereignisse im Zarenreich, in England und über die Marokkofrage. Dann ging Redner über zur Verfassungsreviston und rechtfertigte die Politik und Taktik der Partei, sowohl in den letzten Jahren als auch bei der Generaldebatte in der Kammer. Durch seine prinzipielle Parteierklärnng am letzten Montag habe die Partei ihren prinzipiellen Standpunkt vcr dem ganzen Lar de festgelegt, zu dem sie jeden Augenblick zurückkehren könne. Wir haben die Gegner eingezingelt und jetzt ist eS so weit, daß die Gegner, die uns wenigstens 31 Stimmen entgegensetzen müssen, höchstens volle 32 Stimmen aufbringen. Die Sozialdemokratie werde in der Schlußabstimmung für den Entwurf stimmen, weil er doch ein großer Fortschritt sei. Wir werden den Kampf kämpfen mit Anspannung oller Kräfte. Die letzte Woche habe gezeigt, daß das Zentrum Handel treibt mit politischen Grundsätzen, wie man früher Ablaßhandel getrieben hat. Kammerpräsident Payer knüpfte an die Ausführungen des Vorredners an und meinte, von dem Ausgang der Verfassungs- r>Vision wissen wir soviel wie vom Jahrgang 1905. Der Ansctz ist gut; aber noch steht eine schwarze Wand da, noch drohen Gewitterwolken, von denen wir nicht wissen, ob sie feuchtbaren Regen oder
verderblichen Hagel bringen. Früher habe das Oberland die besten Stützen der Demokratie gestellt. Jetzt schäme man sich dessen, was man früher hochgehalten. Die Kirche habe früher Bilder überpinselt und mit Gips verstrichen. So sei es auch im Oberland gegangen. Redakteur Groth sprach namens der Jungdemokraten und knüpfte an die Mahnung zur Besonnenheit die Mahnung zum Feuereifer, indem er auf den vulkanischen Ursprung des Florian hinwies. Um V'l2 Uhr wurde der Rückmarsch nach Metzingen angetreten, wo das Fest in gemütlicher Weise fortgesetzt wurde.
Ulm, 2. Juli. Eine vorgestern hier tagende Wirtstiers ammlnng hat wegen der mit dem gestrigen Tage in Kraft getretenen Steigerung der Preise für Fleisch und Wurstwaren beschlossen, die Preise der sämtlichen Speisen in den Hotels, Restaurants und Wirtschaften zu erhöhen.
Hall, 1. Juli. (Schwurgericht.) In der heutigen Vormittags-Verhandlung wurde der 36 Jahre alte, verheiratete vormalige Amts- und Polizeidiencr Jakob Gock aus Goggenbach, OA. Oehringen, wegen Sittlichkeitsverbrechens zu einer Gefängnisstrafe von 8 Monaten verurteilt. Die Verhandlung fand unter Ausschluß der Ocffentlich- keit statt. — In der Nachmiltagsverhandlung stand Termin gegen den 20 Jahre alten ledigen Bierbrauer Georg Schwab aus Geslou, Bez.-AmtS Rothenburg o. T. wegen Fälschung einer öffentlichen Urkunde und Betrugs an. Der Angeklagte, der in Raboldshausen OA. Gerabronn in Arbeit gestanden, hatte am 4. Februar ds. Js. eine Fahrkarte von Blaufelden nach Raboldshausen für 15 H gelöst, jedoch den Zug versäumt. Am 19. Februar hatte er sodann diese Fahrkarte, au welcher er inzwischen das Datum ausrodiert hatte, zur Fahrt auf genannter Strecke benützt, wobei die Fälschung entdeckt und zur Anzeige gebracht wurde. Die Geschworenen haben die Schuldfrage auf Fälschung einer öffentlichen Urkunde verneint, hingegen derjenigen auf Fälschung einer Privaturkunde unter Zubilligung mildernder Umstände zugestimmt, wobei die Geschworenen der Ansicht waren, daß der Angeklagte die Fälschung nicht begangen habe, um sich einen VermögenSvorieil zu verschaffen. Das Urteil lautete auf 5 Tage Gefängnis. Die Geschworenen haben den Angeklagten der Gnade des Königs empfohlen.
Stockholm, 1. Juli. Die angebliche Mobilisierung beziehungsweise Verschiebung norwegischer Truppen wird amtlich von der norwegischen Regierung dementiert. Auch privatim werden zuverlässig alle Maßnahmen, die kriegerisch gedeutet werde» könnten, bestritten. Tatsächlich fungiert auch fortgesetzt die Eisenbahn und Drahtverbindung regelmäßig.
Paris, 1. Juli. Aus St. Petersburg wird gemeldet: Tie Zahl der Opfer in Odessa
„Es hat nichts zu bedeuten!" Papa Lübke richtete sich auf und versuchte ein Lächeln. „Ich kam auch mit einer Frage. Ich hatte gestern Abend den Auftrag, ein B'llet zu besorgen; eS ist mir verloren gegangen, als mich der Anfall traf; der Nebel muß mir wohl auf das Gehirn gedrückt haben, und da man es nun von mir fordern könnte, wollte ich hören, ob es vielleicht hier bei Ihnen . . .
„EinBillet? Wir haben keins gesehen! Das muß also wohl draußen verloren gegangen sein."
Papa Lübke erzitterte, verbarg aber seine Bewegung.
„Das tut mir sehr leid! Ich kann dadurch in Ungelegenheiten kommen."
„Na, ich meine aber doch, Sie hätten nichts dafür gekonnt! Wenn einem so etwas widerfährt! An wen war es denn adressiert? Vielleicht hat es der ehrliche Finder besorgt."
„Es hatte keine Adresse!"
Eben trat durch die Seitentür der Budiker selbst herein mit einem Zeitungsblatte in der Hand. Er erkannte den Fremden.
„Ah, das ist ja unser Freund von gestern!" rief er, ihm die Hand reichend. „Wieder rüstig auf den Beinen? Freut mich! Caroline", wandte er sich an seine Frau, „hier steht jetzt die ganze Geschichte aus dem Nachbarhause in dem Abendblatte! Eine tolle, ganz düstere Geschichte! Was Neues steht allerdings nicht darin, nicht mehr, wie wir wissen!"
Papa Lübke war, während jener sprach, heftig zusammengefahren; er wandte sein Antlitz in den Schatten und lauschte mit heftigem Herzpocheu.
„Mehr als wir von den Leuten im Hause wissen steht freilich auch nicht darin", fuhr de, Mann fort; „aber hören kannst Du's doch. Man möchte glauben, es wäre die alle Geschichte von der Prinzessin mit dem Totenkopf, aber doch anders! Also höre!" — Papa Lübke ließ fich neben dem Ladentische auf den Stuhl finken.
„Vor kurzem, so steht hier, mietete rin anscheinend reicher und vornehmer Herr, Namens Baron von Zern k, der aus Montevideo g kommen sein wollte, um in Deutschland bei den größten Aerzten Rat zu suchen, mit seiner Tochter dir elegant möbliert« Etage der Witwe M., die sich von dieser Vermietung ernährt, auf vier Wochen und zahlte den ganzen Betrag voraus. Beide schienen nicht glücklich. Der Vater, obgleich wohl in der Mitte der Fünfziger, war krank und sprach zu Niemandem, ließ auch Niemanden zu fich; die Tochter deutete ebenfalls nur in wenigen Worten an, er leide an einem chronischen Magenübel, um desientwillen er hier die Asrzte cousultieren wolle.
Aber auch die Tochter hatte ein Leiden. Von schöner schlanker Gestalt mit üppigem, goldblondem Haar, war sie scheu und zurückgezogen. Sie wollte von Niemanden gesehen sein und gönnte auch der bedienenden Magd nur dir notdürftigsten Worte. Ihr Vater hatte sie eben aus einer hiesigen Klinik abgeholt, in welcher sie an einem GefichtSLbel operiert sein sollt», infolge d'fsrn sie nach Vorschrift der Aerzte den oberen Teil des Gesichts bis zur Lippe mit einer fleischfarbenen, leichten Seidenbelleidung verdeckt hielt — aus Eitelkeit, so erklärte fich die Magd, denn nach dem unteren Teil ihres Gesichtes zu urteilen, mußte dasselbe schön sein oder vor dieser Operation gewesen sein.
„Es waren sonderbare Lmte, indes gut« Menschen, denn sie hatten keine Bedürfnisse, sie begehrten keine Bedienung und belästigten Niemanden. Die Wirtin selbst hatte sie nur einmal flüchtig bei ihrem Einzug vor Augen bekommen und fand keine Berührung mit ihnen, da sie über die Hoftnppe in ihrer eigenen kleinen Wohnung aus und ein ging. Auch die Magd sah sie selten und nur wenn sie durch die Schelle in das nach hinten liegende äußerste, stets halb dunkle Zimmer gerufen wurde. Was fi« dann von der jungen Dame zu besorgen den Auftrag bekam, setzte sie in das Zimmer und ging wieder ohne dieselbe zu sehen."
(Fortsetzung folgt.)