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Stuttgart, 10. Mat. Einen gewissen Anhaltspunkt für die unzählige Menschenmenge, die gestern aus Anlaß der Schillerfeier die Straßen Stuttgarts durchflutete, bietet die Mitteilung, daß bei der Staatseisenbahn rund 50 000 Karten und bei der Filderbahn rund 8000 Karten mit dem Endziel Stuttgart zur Ausgabe gelangten. Hiezu kommen noch die nach tausenden zählenden Personen der umliegenden Orte, die. sei es zu Fuß, per Rad oder Fuhrwerk rc., hereinpilgerten, um sich aktiv oder passiv mit den Stuttgartern an der Feier zu beteiligen.

Stuttgart, 11. Mai. (Strafkammer.) Der frühere Rechtsanwalt Wallensteiner hatte sich wegen Untreue und Unterschlagung zu verant­worten. Er war beschuldigt, 1250 die ihm in einer Alimentensache zur Ausbezahlung an die Kinds­mutter übergeben worden waren, unterschlagen und für sich verbraucht zu haben. Die Mündige Ver­handlung endigte jedoch mit Freisprechung des An­geklagten.

Reutlingen. Die Handwerkskammer wurde vor kurzem von einem Maurermeister er­sucht, einen seiner Lehrlinge schon am Schluffe des zweiten Lehrjahres, d. h. in diesem Frühjahr zur Gesellenprüfung zuzulaffen. Der Meister begründete seine Bitte hauptsächlich damit, daß er für den uichtgeprüften Lehrling, wenn er ihn bei städtischen Arbeiten verwende, eine Lohnvergütung erhalte, die geringer ^ als der Lohn, den er tat­sächlich dem Lehrling zausen müsse; auch habe dieser früher schon ein Jahr bei seinem Vater als Maurer gearbeitet und somit doch eigentlich schon eine drei­jährige Lehrzeit hinter sich. Die Kammer entsprach dem Gesuch nicht, weil 1) der Lehrvertrag auf drei Jahre lautet und bei Einsendung des Vertrags davon, daß der Lehrling schon ein Jahr bei seinem Vater gelernt, nichts gesagt worden, 2) von allen Seiten, auch von der Kammer, gerade für die Bau­gewerbetreibenden eine gründlichere Ausbildung ge­fordert wird und die Kammer, wenn sie die ge­wünschte Ausnahme gestatten wollte, in Widerspruch mit sich selbst verfallen würde, 3) der Lehrherr dadurch, daß er, nach seiner Angabe, einen Lehr­ling mit vierjähriger Lehrzeit hat, im ganzen genügend entschädigt sein dürfte für einzelne Gewinnverluste, die er etwa durch niedrig bemessene Lohnvergütung bei Ausführung städtischer Arbeiten erleidet. Ein ebenfalls in der letzten Sitzung gefaßter Beschluß erscheint beachtenswert für Vereine, welche Fach- kurse zu veranstalten gedenken. Die Unterstützung eines solchen Kurses durch die Kammer hat das Mißliche, daß nach dem Gesetz der gewährte Beitrag auf die Angehörigen des Gewerbes, dem der Kurs zugute gekommen, umgelegt werden muß. Die Kammer glaubt zwar, daß sie bei der Bewilligung kleiner Beiträge, deren Höhe durch die Kosten des umständlichen Umlageverfahrens erreicht oder gar überschritten würde, von jener gesetzlichen Bestimmung ausnahmsweise abweichen dürfe und in diesem Sinne

find der Schneidermeistervereinigung in Tuttlingen für ihren Zuschneidckurs 100 Mark zugesprochen worden. Für alle Fälle aber empfiehlt die Kammer jedem Verein, der ein ähnliches Unternehmen plant und auf Unterstützung rechnet, vorsichtig zu sein und sich vor der Veranstaltung darüber zu vergewissern: ob, von wem und in welcher Höhe er Beiträge er­warten darf. Auch müßte zum voraus ein voll­ständiger Kostenanschlag ausgearbeitet und dem Unterstützungsgesuch beigefügt werden.

Nürtingen, 11. Mai. In Wolf­schlugen hat sich der erblindete und durch einen Unfall gebrechliche Metzger Maier vor den Augen seines 6jähr. Töchterchens erhängt. Bis dieses Hilfe herbeigeholt hatte, war es schon zu spät.

Cannstatt, 11. Mai. Bei der gestrigen Häute- und Fellauktion im htes. Schlacht­haus wurden folgende Preise erzielt per Pfund: für Ochsenhäute 47'/-48 A, für Stierhäute 45 bis 46'/, A für Rinderhäute 4850 A für Farren- häute 3942 A, für Kalbfelle 5 ^ 70 ^ bis 9 Mark 90 A per Stück. Verkauf lebhaft.

LudwigSburg, 9. Mai. (Schweinemarkt.) Zufuhr Milchschweine 124 Stück, Läuferschweine 31 Stück. Preis für ein Paar Milchschweine 33 bis 44 für ein Läuferschwetn 3550 Die Zufuhr von Milch- und Läuferschweinen war heute eine mittelstarke. Der Verkauf ging gut und beide Gattungen wurden rasch und vollständig verkauft.

Ulm, 11. Mai. Der Kanonier Willer von der 1. Batterie des Neu-Ulmer Bataillons des 1. bayerischen Fußartillerieregiments ist gestern abend im Neu-Ulmer Garnisonslazarett an Genickstarre gestorben. Er ist aus Staufen, Bezirksamts Dillingen gebürtig. Ans dem Truppenübungs­platz Lechfeld hat sich am Sonntag abend der Soldat Rotmaier des in Neu-Ulm garnisonie- renden 12. bayerischen Infanterieregiments durch einen mittels seines Dienstgewehrs abgegebenen Schuß ins Herz getötet. Die Tat wurde erst spät nach dem jedenfalls sofort eingetreteuen Tode ent­deckt. Dienstlich lag gegen den Mann nichts vor.

Ulm, 11. Mai. Das Gasthaus zumWeißen Roß" wurde in der gestrigen Zwangsversteigerung von der Tivolibrauerei in Stuttgart um die Summe von 105 000 ^ erworben.

Straßburg, 11. Mai. Der Kaiser machte heute morgen eine längere Automobilfahrt nach Mutzig. Zunächst wurde das FortKaiser Wilhelm II." besichtigt. Alsdann wurde die Spazier­fahrt nach dem BergeDonon" fortsetzt, in dessen Nähe an einem schönen Punkte im Gebirge ein Imbiß eingenommen wurde. Der Kaiser kehrte erst °/«3 Uhr bei herrlichem Wetter nach Stratzburg zurück. Der Kaiser empfängt heute abend den Oberbürgermeister Kirschner aus Berlin und den Stadtbaurat Hoffmann zur Vorlegung von Plänen,

die die Ausschmückung der Stadt Berliu beim Ein­züge der Braut des Kronprinzen betreffen.

Augsburg, 10. Mat. Der hiesige prote­stantische Friedhof war gestern abend der Schauplatz eines traurigen Vorkommnisses. Eine aus Buch­dorf bei Donauwörtb gebürtige, hier wohnhafte ledige, 27 Jahre alte Näherin hatte sich mit ihrem 1'/, Jahre alten Kind nach dem Friedhof begeben und gab auf das Kind drei Revolverschüsse ab, welche dessen alsbaldigen Tod zur Folge hatten. Hierauf gab die Mutter, die zu der unseligen Tat veranlaßt worden war, weil der Vater des Kindes sich von ihr zurückzog, 2 Schüsse auf sich selbst ab, die aber nicht tödlich waren. Die Schwerverletzte wurde ins städtische Krankenhaus verbracht, woselbst ihr durch sofortige Operation die beiden Kugeln, die in der rechten Augenhöhle saßen, entfernt wurden.

München, 10. Mat. Heute Nachmittag 4 Uhr 17 Min. erfolgte die Ankunft des Königs Friedrich August von Sachsen. Die dicht mit Menschen gefüllten Auffahrtsstraßen waren festlich geflaggt. Der Bahnhofplatz trug reichen gärt­nerischen Schmuck. Karz vor Ankunft des Königs fuhr die Generalität, die Minister, die Prinzen und zuletzt der Regent am Bahnhof vor, vor welchem eine Eskadron Jäger zn Pferde aufgestellt waren. Als der König von der letzten Station signalisiert war, begann der Donner der Geschütze, welche 101 Schuß zum Gruß entboten. Als der Zug in die Halle einsuhr, präsentierte unter den Klängen der Königshymne die aufgestellte Ehrenkompagnte des Leibregiments. Die Begrüßung des Regenten und des Königs war eine überaus herzliche. Nach dem Abschreiten der Ehrenkompagnie bestieg der Regent mit seinem hohen Gaste einen offenen Galawagen. Der König trug Generalfeldmarschalls-Uniform, der Regent diejenige seines sächsischen Infanterie- Regiments. Das Publikum begrüßte den König sehr sympathisch. Wir man hört, wird der König vom Regenten zum Inhaber des 15. bayr. Infanterie- Regiments ernannt werden.

Breslau, 10. Mai. Die Ortschaft Giersdorf wurde von einer großen Ueber- schwemmung heimgesucht. Ein kleiner Gebirgs­bach schwoll znm reißenden Strome an. Wiesen und Felder wurden zerrissen und verschlammt und find auf Jahre hinaus unbrauchbar. In den Häusern stieg das Wasser meterhoch und zerstörte Alles. Die Menschen konnten sich nur mit Mühe retten. Im Glotzer Gebirge ging am Montag nachmittag ein Wolkenbruch nieder, der schweren Schaden anrichtete.

Berlin, 10. Mai. Das Abgeordneten­haus hielt heute seine erste Sitzung nach den Osterferien ab. Auf der Tagesordnung stand zunächst die erste Beratung des Antrages der verstärkten Handels- und Gewerbekommiffion auf Annahme eines Gesetzes zur Abänderung des Wareu- haussteuergesetzes. Die Kommission hat beschlossen.

tun," sagte er beim Abschied,so rette meine Fron"; und dann gab er mir an, wo ich sie finden würde, nämlich bei einer befreundeten Familie, wo sie sich unter fremdem Namen aufhält.

Nur mit großen Mühen gelang es mir später, dort vorgelassen zu werden und Tatiana zu sprechen. Wie soll ich Ihnen dies Wiedersehen schildern? Was ist aus der schönen reizenden Frau geworden? Sie erschien mir um zehn Jahre gealtert. Zuerst war sie erschrocken, mich plötzlich in Petersburg zu sehen und stellte eine Menge von Fragen. Erst als ich ihr Nachricht von ihrem Gemahl brachte, schien sie einiges Zutrauen zu gewinnen. Von meiner wahren Rolle hatte sie ja keine Ahnung. Gleichwohl verbarg sie mir nicht, daß sie mich eigentlich haßte und verachtete.

Vergeblich machte ich ihr den Vorschlag, nach der Heimat, nach Tarussa zurückzukehren; sie weiß ja, daß ihr alter Vater unter dem Einfluß Nrdjrschda'S ihr längst verziehen hat. Aber sie wollte nichts hören, sie wollte bis zum Ende auLhalten. Ihr Vater hat ihr sofort ihr Erbteil auSzahlen lassen, so ist sie wenigstens vor Mangel geschützt. Wa» sage ich, Mangel? Sie hat über Tausende zu verfügen, und so könnte wohl noch etwas Unerwartetes geschehen, denn mit Gold ist ja hier alles zu erreichen.

Neulich sprach ich sie zum letzte» Male und kam auch auf diesen Punkt. Sie trägt sich mit «xcmtrischen Plänen, doch ich darf nichts davon verraten, ist e« doch ungewiß, ob WadkowSki dem Todesurteil entrinnt. Wäre ihm die Gnade Sibiriens gegönnt, so will sie ihn begleiten. Eine heroische Natur. Ich verehre sie, obwohl sie mich von obm herab behandelt. Wie würde sie mich erst Haffen, wenn sie Alle- wüßte daß ich und kein anderer zum Judas an meinem Freunde, an ihrem Gemahl geworden.

Gestern wurde ich nicht mehr vorgelaffen. Natürlich der Prozeß hat

begonnen und seitdem wird sie wissen, wer ich bin. So geheimnisvoll man auch verfährt bei den Verhören, am Tage darauf weiß die Stadt alles, als hätten Mauern und Steine tausend Ohren.

ES bestätigt sich, daß mindestens Vierzig zum Tode verurteilt worden. Leben Sie wohl. Oberst. Soeben werde ich zum Kaiser geholt. Der Himmel weiß, was die nächste Stunde bringt mein Verderben oder meinen Sieg. Sollen alle vierzig sterben, so verdiene auch ich, nicht mehr zu leben. Könnte ich Engelszungen haben, dem Kaiser ins Gewissen zu reden I Beten Sie für mich, Oberst. Ich bin fromm geworden aus Verzweiflung und Nichtswürdigkeit. Hören Sie nichts mehr von mir, so bin ich verloren mit allen Andern. Trösten Sie Nadjeschda, sie war mein guter Engel auf Erden. Ich werde ihrer gedenken in meiner letzten Stunde!"

DaL war SherwoodS letzter Brief, der mich bekümmert« und erschütterte. Und dieser Brief war bereit- Monate alt. Waü war seitdem aus Sherwood geworden?

ES verging noch ein Vierteljahr. Die Nachrichten au« Petersburg, di« wir sonst durch Zeitungen und andere Mitteilungen empfingen, lauteten haar­sträubend. Der Riesenprozeß dauerte nun fast ein halbes Jahr und immer noch war kein Ende abzusehen.

Ein bleiernes, dumpfes Schweigen, kaum ander» al« in Frankreich zur Zeit der Schreckensherrschaft, lastet« über Rußland.

Kaum eine angesehene Familie gab eS, dir nicht durch ihre Söhne oder irgend einen Verwandten in den drohenden Prozeß verwickelt war. ES bestätigte sich, daß über zweihundert Offiziere in der Peter-Paulsfestung «ingekerkert waren. Zu ihren Richtern war eine Kommission au» dm ersten Personen de» Reich« niedergesetzt wordm.