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Neuenbürg, Mittwoch den 3 . November 1980
78 . Jahrgang.
256
Sechzitjnral kleiner!
Es sind nur ein paar Zahlen aus der Statistik der Eisenbahn über Ersatzleistungen für gestohlene Güter, die wir wiedergeben. Sie genügen, daß unser Gesicht schamrot werden muß.
Während 1914 die Ersatzleistungen für Diebstähle auf Eisenbahnen sich bedeutend verminderten, stiegen die Ersatzansprüche für gestohlene Frachten im Jahre 1917 im Verhältnis zu 1912 auf das siebzehnfache, 1918 waren die Ersatzleistungen der Eisenbahn auf das vierundzwanzigfache gestiegen und 1919 erreichten sie die Höhe des dreißigfachen.
Im ersten Kriegssahr 1914 waren die Herzen unseres Volkes noch geheiligt durch die große und ernste Stunde, die gebot: „Einer für alle, alle für einen". In jenen Tagen wurden alle deutsche Tugenden aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Und auch die deutsche Treue war nicht mehr nur ein ' Lied, sie wurde Tat. Darum blieben auch die Diebstähle auf der Bahn weit unter dem Durchschnitt der Friedenszeit.
Aber mit der Länge des Krieges reckten alle Untugenden wieder ihr Haupt. Der heilige Krieg wurde für Hunderttausende ein gemeines Schiebergeschäft. Eine unfaßbare Gier nach Gut, eine maßlose Gewinnsucht setzte sich auch über alle Gebote der Sittlichkeit hinweg. Während draußen im Feld die Besten die heiligsten Güter ihres Volkes mit ihren Leibern schützten, wurde in der Heimat der niedrigste Schacher getrieben.
Dann kamen die Tage der Revolution. Sie riß die letzten Grenzpfähle der Sittlichkeit nieder. Aus den Straßen Berlins konnte man vor Händler nicht treten, die gestohlenes Gut seilhielten. Die Etappensoldaten, längst infiziert von der Unsittlichkeit der Heimat, erfüllt von derselben Gier und Skrupellosigkeit, verkauften Maschinengewehre an die feindliche Bevölkerung.
Man hätte annehmen sollen, daß die Menschen, die nach » Freiheit geschrien hatten, daß ihre Führer, die sich den Hals heiser gesprochen hatten über die Unstttlichkeit der bisherigen Machthaber, über die Unstttlichkeit des Krieges, der Sittlichkeit zuerst einen Tempel bauen würden; denn Freiheit fordert höchste Sittlichkeit. Die Stunde hatte geschlagen, in der sie ihre Werte, für die sie so viel Worte verschwendet hatten, offenbaren sollten. Aber nichts von dem. Ihre Freiheit war Zügellosigkeit. Jetzt wurde nach Rabenart gestohlen. 1919 mußte die Eisenbahn allein das dreißigfache von dem ersetzen, was sie 1912 für Diebstahl entschädigte. So böse sieht es zurzeit aus, daß sich die Einbruchsversicherungsgesellschaften weigern, Schmucksachenhändler zu versichern, daß man seine Wohnung nicht auf eine Stunde unbeobachtet sein lassen kann.
Porr der deutschen Treue rühmte schon der alte römische Geschichtsschreiber Tacitus. Es war bisher weltbekannt, daß deutsch sein treu sein heißt. Strebt unser Volk darnach, der Untreue wegen weltsprichwörtlich zu werden? Soll es überall, wo Menschen Schlagwörter gebrauchen, heißen: Cr stiehlt wie f ein Deutscher?
Jede Zeit trägt ihren Stempel und verrät sich in allem, selbst in ein Paar Zahlen, wie wir es aus den wenigen Daten der Diebstahlsstatistik der Eisenbahn gesehen haben. Schwärmer und mehr noch Verbrecher versuchen in dieser Zeit, aus dem Sittenbnch der Gesellschaft den Begriff Eigentum auszuwischen. Sie wollen uns wahrhaft groß machen?
Groß sind wir schon geworden, Gott sei's geklagt, dreißigmal so groß an Untreue als vordem. — Ach, daß wir sechzigmal kleiner darin würden! . ft. ft.
Augsburg, 1. Nov. Eine Skandalaffäre beschäftigte das Augsburger Schöffengericht. Der zu großem Einfluß gelangte Mehrheitssozialist, Stadtrat und städtischer Obergewerbeinspek- tor Wagner mußte eine Klage gegen zwei Kaffeehausbesitzer einreichen, weil sie ihn öffentlich beschuldigt hatten, er ließe sich durch große Summen bestechen. Die Verhandlung machte aus dem Kläger einen Beklagten. Wagner hat durch Bestechung mit bedeutenden Summen einem Geschäftsinhaber eines Kabaretts Konzessionen verschafft, während er andere Gesuche Hintertrieb, wenn ihm nicht Geld ausgehändigt wurde. Stadtrat Wagner hat nunmehr seinen Posten als Stadtrat niederlegen müssen und es ist gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Die Angeklagten wurden sreige- sprochen.
Berlin, 1. Nov. Die Reichsdruckerei kann die ihr gestellten großen Aufgaben nicht mehr bewältigen. Der Reichsrat hat daher beschlossen, Zweigstellen dieser Druckerei !n anderen Städten zu errichten. Eine Denkschrift in dieser Angelegenheit ist der sächsischen Regierung zugegangen. — Gegen 21 beini Sturm aus das französische Konsulat Breslau Beteiligte ist das Haupsverfahren eröffnet worden.
Gegen -ie Steuerhinterziehung.
Der badische Finanzminister hat an die Beamten seines Ressorts einen Erlaß über die Bekämpfung der Steuerhinterziehungen gerichtet, in dem es u. a. heißt: Alle Mittel müssen angewandt werden, die die Reichsabgabeordnung in die Hand gibt, um den Steuerzuwiderhandlungen und insbesondere dem in sehr großem Umfange ins Ausland verschobenen oder im Inland versteckten Vermögen auf die Spur zu kommen. Wir sind das den ehrlichen Steuerzahlern schuldig. Die Beamten werden für ihr Pflicht- und vorschriftmäßiges Einschreiten gegen Steuerzuwiderhandlungen bei den Vorgesetzten Dienststellen volle Deckung und jeden Schutz finden. Für die Aufdeckung umfangreicher Hinterziehung werden angemessene Belohnungen gewährt und zwar sowohl der beteiligten Beamten wie auch solchen Personen, die zur Finanzverwaltung in keinem Beamtenverhältnis stehen. Wir müssen des systematischen Steuerbetrugs Herr werden.
Folgen -er Kohleunot in Ser sächsischen Industrie.
In einer Pressekonferenz in Dresden behandelte der Leiter des sächsischen Landeskohlenamts, Oberregierungsrat Krämer, die Kohlennöte, unter denen die sächsische Industrie ganz besonders zu leiden hätte. Riesenaufträge seien vom Auslande eingegangen. , Die Ausführung derselben würde aber infolge des Kohlenmangels außerordentlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Allein von Rußland und Polen liegen für die Webereien der sächsischen Oberlausitz vorausbezahlte Millionenaufträge vor, ebenso von Norwegen. Auch Chemnitzer Firmen hatten für 77 Millionen Mark Aufträge aus dem Auslande erhalten. Wittwensdorf bei Chemnitz vermag Aufträge aus England in Höhe von vielen Millionen nicht auszuführen. Ein neuer Betrieb von Siemens sollte in Falkenstein errichtet werden. Die Kohlenstellen in Auerbach, Rodewisch, Adorf und noch anderen Orten im Vogtlande hatten Vorstellungen Leim Reichskommissar zwecks Mehrzuweisung von Kohlen erhoben, sie blieben jedoch alle erfolglos.
Gegen Ueberwuchern -er „kleinen Anfragen".
Der ALg. Schiffer Hai in seiner Rede vom letzten Samstag, in der er das Parlament zur Selbstdisziplin ermahnte, auch die jetzt bei den kleinen Anfragen beliebte Methode getadelt. Tatsächlich haben sich diese Anfragen, die den parlamentarischen Apparat und Betrieb beweglicher machen sollten, zu einer schweren Belastung der Regierungsmaschine ausgewachsen, denn mit dem Aufklärungsdrang der Parteien, die über 1000 und noch einige Dinge Auskunft wünschen, kann keine Behörde mehr Schritt halten. Mehrfach schon hoben amtliche Stellen erklärt, daß sie durch diese kleine Anfragen schlechthin lahmgelegt und an ihrem eigentlichen Arbeiten behindert werden. Der interfraktionelle Ausschuß hat daher, wie wir hören, beschlossen, dis kleinen Anfragen künftighin zu kontingentieren.
Sitzung des Reichsrats.
Berlin, 1. Nov. Der Reichsrat hielt heute abend unter Vorsitz des Ministers Koch eine kurze öffentliche Sitzung ab. Gegen die Beschlüsse des Reichstags zum Notetat wurde kein Widerspruch erhoben. Weiterhin wurde die Satzungsänderung der ostpreußischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft bezüglich ihrer Hastpflichtversicherungsanstalt angenommen. Der Gesetzentwurf über Ergänzung und Regelung von Bezügen der Pensionäre und Hinterbliebenen wurde von der Tagesordnung abgesetzt. Dasselbe Schicksal widerfuhr dem Gesetzentwurf betreffend das Land Oberschlesien, lieber diesen Gesetzentwurf hatten vor der Vollsitzung des Reichsrats ausgedehnte Ausschußberatungen stattgefundcn. Die Angelegenheit ist also im Reichsrat noch nicht zum Abschluß gekommen und wird diesen nochmals in seiner Sitzung vom Donnerstag beschäftigen.
Die Folgen der Aushungerung.
Berlin, 2. Nov. In einem zweiten Artikel, den Gothein im „Berliner Tageblatt" veröffentlicht, schreibt er gegenüber den Darstellungen Beringers, Tardieus, und Laskines über die Entwertung der deutschen Volkskraft, daß die Lcistungs-
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fähigkcit des deutschen Arbeiters durch die Unterernährung furchtbar zurückgegangen sei. Er führt an, daß der Kinderarzt Universitätsprofessor Drügelski in Halle a. S. starke Unterernährung und auffallende Blutarmut bei 90 Prozent der Kinder der Volksschulen, bei 93 Prozent in den Mittelschulen und 80 Prozent in den Gymnasien konstatiert hat. Etwa ein Viertel aller Kinder vermag infolge allgemeiner Schwäche insbesondere der Rückenmarkmuskulatur die Wirbelsäule nicht mehr aufrecht zu tragen. In Breslau sind von 108 000 Schulkindern 50 000 unterernährt, in Karlsruhe von 20 300 Kindern 15 000. Auch der Kleidungsbcdarf der Kinder ist oft nicht zur Hälfte gedeckt und erhöht die Krankheitsanfälligkett. Die Aussichten, daß das Heranwachsende Geschlecht arbeitsfähiger wird als das gegenwärtige, seien alle gleich null; im Gegenteil dürste die Arbeitsleistungsfähigkett noch weiter zurückgehcn. S» werde Clemenceaus Ziel, das heutige deutsche Volk um wettere 20 Millionen zu verringern, auf dem Wege der Aushungerung in nicht allzu ferner Zeit erreicht sein.
Die Berliner Stadtverordneten- Frage.
Berlin, 1. Nov. Heute hat im Oberprästdttnn der Stabt Berlin eine Sitzung stattgefunden, die sich mit der Wahl der besoldeten und unbesoldeten Stadttäte der Stadt Berlin beschäftigte. Das Oberpräsidium der Stadt Berlin kam zu dem Beschlüsse, alle besoldeten und unbesoldeten Stadttäte mit Ausnahme des Stadtschulrats Löwenstein und des unbesoldeten Stadtrats Eichhorn zu bestätigen. Das Schreiben, in dem dieser Beschluß des Oberpräsidiums mitgeteilt wird, ist heute nachmittag in die Hände des Oberbürgermeisters von Groß-Berlin, Wermuth, gelangt. (Eichhorn war bekanntlich nach der Revolution Polizeipräsident von Berlin geworden und hat in den Januartagen des Jahres 1919 die Spartakisten bewaffnet. Auf ihm lastet die Verantwortung für all das Blut, das in den Januar- und Märztagen des vorigen Jahres in den Straßen Berlins geflossen ist. Außerdem werden Eichhorn von der Staatsanwaltschaft Verfehlungen gegen die Strafgesetze zur Last gelegt. Gegen ihn war ein Steckbrief erlassen, der allerdings durch seine Wahl in die Nationalversammlung und nunmehr in den Reichstag unwirksam geworden ist. So entgehen Verbrecher am Bolkswohl ihrer' wohlverdienten Strafe. Die Schriftl.)
Heimkehr ans Sibirien.
Berlin, 2. Nov. Auf eine Anfrage erteilte Minister Simons folgende Antwort: Nach einer sunkentelegraphischen Nachricht der deutschen Fürsorgestelle in Moskau vom 22. Oktober 1920 sind die letzten Insassen des Lagers Kask nunmehr über den fernen Osten zum Abtransport gebracht. Sie werden in Wladiwostok durch die deutsche Kommission mit dem Schiff über Sabong—Port-Said nach Hamburg heimgeschafst.
Der Arbeitslosenrat befiehlt.
Wie ans einer Berliner Zeitungsnotiz hervorgeht, scheint der Arbeitslosenrat nicht immer für die Interessen der Arbeitslosen einzutreten, sondern, wenn parteipolitische Momente mitsprechen, auch gegen dieselben. Dieses beleuchtet folgende Geschichte treffend: Eine Arbeitsstelle erbat sich vom Arbeitsnachweis drei Arbeiterinnen, um sie mit dem Auftrennen von Heeresmaterial zu beschäftigen. Als Tagelohn wurde diesen drei Mädchen bei achtstündiger Arbeitszeit, einschließlich eine halbe Stunde Vesper, 15 Mark geboten. Eine von ihnen nahm die Arbeit auch auf und ist heute noch in dieser Stellung. Zwei wettere, die sich meldeten, weigerten sich, für 15 Mark zu arbeiten und erklärten gleichzeitig wörtlich, daß der Arbeitslosenrat angeordnet hätte, an dem Tag keine Arbeit anzunehmen, da sie — in W. demonstrieren sollten. Gin Kommentar hierzu erübrigt sich Wohl.
Ausland.
Basel, 1. Nov. „Petit Parisien" meldet: Prinz Paul befindet sich auf der Reise nach Athen. Er wird angeblich der Regierung persönlich ein Handschreiben seines Vaters, des Exkönigs Konstantin überreichen, worin dieser den endgültigen Verzicht auf den Thron ausspricht. Die Krönung des Prinzen Paul als König von Griechenland wird in den ersten Novembertagen vor sich gehen.
Paris, 1. Nov. Die Debatten im deutschen Reichstag werden hier sorgfältig verfolgt, aber noch nicht kommentiert. Der „Figaro" meint, man müsse sich hüten, die bissigen Ausführungen des bayerischen Abgeordneten Dr. Heim ernst zu nehmen. — Der französische Admiral Degony, der auf die englische Flotte nicht gut zu sprechen ist, erklärt in der Wochenschrift „Progeds civique" den Beschluß der Botschafterkonferenz, wonach alle Dieselmotoren, in Deutschland zu vernichten sind und in Zukunft nickst wieder hergestellt werden dürfen, als willkürlick und vom technischen und industriellen Gesichtspunkt für unmittelbar vernichtend.
Paris, 1. Nov. Der Pariser „Newyork Herald" berichtet, der australische Ministerpräsident Hughes hat am letzten Freitag in Melbourne von der Kammer die Frage, ob er für die Wiederaufnahme des Handels mit Deutschland sei, verneint. Er erklärt, die Frage könne erst in einem Jahr geprüft werden.
London, 2. Nov. Reuter erfährt, in armenischen Kreis»« in London sei ein Telegramm aus Marstvan am 37. Okteber
Deutschland.
Stuttgart, 1. Nov. Die Abg. Göhring und Ruggaver (S.) haben im Landtag folgende kleine Anfrage eingebracht: Im sogenannten Körnermagazin in Ulm lagern noch über 2000 Zentner Kaffeebohnen, die schon vor Jahren um etwa 7 Mark pro Pfund von der Militärverwaltung gekauft wurden. Das Lebensmittelamt in Ulm hat sich bemüht, den ^ Kaffee der Bevölkerung zugänglich zu machen, jedoch ohne Erfolg. Ist dem Ernährungsminister diese Tatsache bekannt? Bejahendenfalls: Was gedenkt er zu tun, um den Kaffee, soweit er von der Militärverwaltung nicht gebraucht wird, zu billigen Preisen der Bevölkerung zuzuführen."
Karlsruhe, !1. Nov. Entgegen den Bestimmungen im Waffenstillstands- und im Friedensvertrag halten die Franzosen nach wie vor den Mannheimer und den Karlsruher Rheinhafen besetzt. An der Albdrücke können die Karlsruher die Schwarzen bewundern, denn es sind 30 Schwarze mit einem Offizier, die im Hafen sich breit machen. Dieser Unverschämtheit setzen die Franzosen nun die Krone auf. Die französische Militärbehörde fordert, daß an Stelle der Holzbaracke für die schwarze Besatzung im Rheinhafen eine Steinbaracke errichtet werde, auf Kosten des Reiches natürlich. Die badische Regierung wird sich nicht im Zweifel darüber sein können, welche Antwort sie zu geben hat; sie wird, anstatt der schwarzen Kultnrschande noch ein wohnliches Heim zu erstellen, darauf dringen müssen, daß der Karlsruher Hafen überhaupt von Franzosen geräumt wird. Dafür werden ihr auch die umliegenden Dörfer dankbar sein. Die schwarzen Kulturträger besuchen nämlich auch dörfliche Wirtschaften und lassen Sott das dem deutschen Steuerzahler ausgepreßte Geld sprin- >en.