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Neuenbürg, Mittwoch den 19. Mai M5.

73. Jahrgang.

Der Krieg.

Berlin, 18. Mai. Der Reichstag trat heute zu seiner vierten Kriegs tagung zusammen. Auf der Tagesordnung standen nur zwei nebensächliche Vorlagen. Um '/r3 Uhr betraten der Reichskanzler und der Reichstagspräsident den Sitzungssaal, der sich schon lange vorher gefüllt hatte. Die Abgeord­neten erschienen auch heute zum großen Teil in Uniform, unter ihnen Bafsermann. In einer kurzen Ansprache gab Reichstagspräsidrnt Dr. Kämpf der Urberzeugung Ausdruck, daß nach den bisherigen Erfolgen das deutsche Volk 4er Zukunft ruhig ent­gegensehen könne. Unter allleitiger Spannung erhob sich Hr. v. Bethmann-Hollweg, um in einer Rede Aufklärungen über die Verhandljungen in Rom zu geben. Der Reichskanzler knüpfte an die Ausführungen des Ministerpräsidenten Grafen Tisza im ungarischen Parlament an und setzte die Welt zu« ersten Mal in Kenntnis von den Zuge­ständnissen, die Oestreich-Ungarn Italien macht und für deren loyale Durchführung das Deutsche Reich sich verbürgt hat. In der Hauptsache waren diese Konzessionen zwar bekannt, aber immerhin über­raschten doch einige Punkte, wie zum Beispiel der, daß nach Abschluß des Abkommens das östreichische Militär, das aus den besetzten Gebieten stammt, nicht mehr an den Kämpfen 'teilnehmen soll. Die sichtlich sehr vorsichtig gewählten Worte machten im ganzen Haus den allerbesten Eindruck, was auch aus dem stürmischen Beifall, der der Rede folgte, hervor­ging. Niemand kümmerte sich mehr um die Tages­ordnung, die in wenigen Minuten erledigt war. Selbst wenn sie wichtiger gewesen wäre, als sie tatsächlich war, hätte sie in diesem historischen Augenblick in den Hintergrund treten müssen. Dem Präsidenten wurde dann die Ermächtigung erteilt, eine neue Sitzung einzuberufrn, vielleicht mit aus technischen Gründen, weil der Verlauf der Krisis in Rom ab­gewartet werden soll. Entscheidet sich das italienische Parlament für den Krieg, dann wird wohl der Reichs­tag sehr bald wieder eine Sitzung halten.

Nachdem gestern der ungarische Ministerpräsident Graf Tis^a mitgeteilt hat, daß die vcn der Türmer Stampa" und nach ihr von anderen Blättern ge­machten Augaben über die von Oesterreich-Ungarn angebotenen Gebietsabtretungen und sonstigen Zu­geständnisse an Italien im allgemeinen richtig seien, hat heute im deutschen Reichstage die zu­ständigste Stelle, der deutsche Reichskanzler, zum ersten Mal genaue Augaben über den Umfang der -österreichisch-ungarischen Angebote gemacht. Damit ist endgültig der Vorhang von den Verhand- Lungen hinweggezogen worden, der. soviel wir wissen, auf ausdrücklichen Wunsch der italienischen Regierung darüber gezogen war. Trotzdem war es nicht die deutsche «der österreichisch-ungarische, sondern die italienische Presse, die zuerst Mitteilungen über den Gegenstand der Verhandlungen machte. Die Mit­teilungen im ungarischen und im deutschen Reichstag haben zweifellos den Zweck, in der letzten ent­scheidungsvollen Stunde vor aller Welt, namentlich auch vor dem italienischen Volk, um dessen Blut und Gut es geht, darzulegen, wie weit Oesterreich-Ungarn den nationalen Forderungen eines Bundesgenossen entgegenkommt und wie geringfügig der Unterschied zwischen diesen Zugeständnissen und den Forderungen ist, die von vernünftigen Politikern Italiens als im Gebiet des Möglichen liegend angesehen wurden. Das, was Oesterreich-Ungarn anbietet, soll Italien ohne jedes Opfer erhalten. Was es darüber hinaus erstrebt, kann nur durch seine Teilnahme am Kriege erreicht werden. Sollte es dennoch wegen der erbärmlich kleinen Differenz zu einem Kriege kommen, so wird der Historiker der Nachwelt staunen, ob der Verblendung, die nötig war, um einen solchen Ent­schluß zu zeitigen. Italien braucht auch in keiner

Weise zu fürchten, daß ihm der Preis etwa doch

- entgehe, denn feierlich vor aller Welt übernimmt ! Deutschland die Bürgschaft für die loyale Durch- ; führung des Abkommens. Der Reichskanzler hat ' erklärt, daß er noch nicht alle Hoffnung auf die i Erhaltung des Friedens mit Italien aufgebe. Es

- hält wirklich schwer, zu glauben, daß Italiens . Lenker dennock den Krieg wollen. Ist es aber so. t dann sollen sie vor ihrem Lande die volle Ver- ^ anrwortung für das Furchtbare auf sich nehmen, das ^ sie ihm aufladen. Dann wird Deutschland seine . Pflicht als Bundesgenosse tun, wie es sie jetzt für dis ; Erhaltung des Friedens getan hat. Was auch immer ? Italien beschließt, Deutschland sieht seiner Entscheidung ' ruhig und seiner Sache gewiß entgegen. (Frkf. Ztg.)

^ Berlin. 19. Mai. Aus Chi aff o wird unter ! dem 17. Mai demBerliner Lokal-Anzeiger" ge­drahtet: Di« römischeJdea Nazionale", das Hauptorgan der konstitutionellen Kriegshetzer, richtet

- einen wütenden Angriff gegen den ersten General-

- adjutanten des Königs, General Brusati. wegen ? seiner Propaganda wider das Ministerium Salandra

und zu Gunsten Giolittis. In engeren Kreisen ^ wiederholte Brusati beständig, Giolitti habe bei . seinem jüngsten Eingreifen keinen persönlichen Hebel­griff begangen, sondern seine Wicht getan, denn die Abmachungen mit den Dreiverbandsmächten seien nur von Ssnnino ins Werk gesetzt worden und trügen vielleicht auch die Unterschrift Salandras, ' aber keineswegs die des Königs, und nur dies« ? schließe Verträge ab. General Brusati behauptet s auch, daß diese Verbindung verderblich für Italien sei, denn im Norden von Tirol und der Schweiz j halte Deutschland starke Kräfte bereit, ungeachtet der j österreichischen Kräfte. Der General erklärte auch,

- der König sei vom besten Willen für das Vater- f land beseelt, aber diejenigen, die heuteEs lebe der

König!" riefen, täten dies, damit er sich von Giolitti entferne. In ihrem Herzen seien sie gegen die I Dynastie und er selbst würde es nicht wagen, heute ! den König in den Straßen Roms zu führen.

! Zürich, 17. Mai. Laut MailänderAvanti" haben am Samstag und Sonntag in Italien 11 MO von den Sozialisten einberufene. stürmisch verlaufene Volksversammlungen der Arbeiterschaft gegen den Krieg stattgefunden, deren Verlauf die halbamtlich« AgeWa Stefani" hartnäckig verschweigt. Der Avanti" bringt mehrere Spalten von Nachrichten über die Abreise der zu den Fahnen berufenen Reservisten aus ihren Heimatorten. Am Bahnhofe beteiligten sich die Reservisten an den Kundgebungen gegen den Krieg. In vielen Orten haben die Frauen die Initiative zu solchen Kundgebungen ergriffen. Arber die sozialistischen Kundgebungen wird gemeldet: Die am 16. Mai in Bologna zusammengetrelene sozialistische Konferenz protestierte in schärfster Form gegen jede Beteiligung am Kriege. Am Vorabend der Kammereröffnung sollen Protestoersammlungen in ganz Italien abgehalten werden. In Como sprengten 150 Reservisten trotz Eintretens der Offiziere unter dem Rufe:Nieder der Krieg!" eine Ver­sammlung der Kriegshetzer.

Berlin, 18. Mai. (WTB.) Die Kriegszeitung desBerl. Lok.-Anz." meldet aus Chiasso: In Turin wurde gestern abend der Belagerungs­zustand erklärt, nachdem die Stadt während des gunzen Tages ver Schauplatz ernstester Tumulte gewesen war. Nach demAvanti" batten 80 000 Arbeiter einen 24 ständigen Generalstreik erklärt, um gegen den Präfekten und die Polizei zu prote­stieren. die den Studenten alle Ausschreitungen, das Einwerfen der Fenster der ZeitungStampa" und anderer erlaubt, aber mit Gewalt jede friedliche Kundgebung der Neutraliften verhindert hätten. Am Generalstreik beteiligte sich ausnahmslos die gesamte Arbeiterschaft Turins und ungeheure Menschenmassen strömten gegen 10 Uhr vormitt, zum Corso Siccardo,

wo vor dem Lokal der Arbeiterkammer eine Massen­versammlung gehalten wurde. Zahlreiche Redner erklärten die absolute Abneigung des Volkes von Turin gegen den Krieg. Als sich darauf ein Demon- ftraiionszug nach dem Platz Castello, wo sich das Königs schloß befindet, bewegte, wurden Barrikaden gebaut und von beiden Seiten geschossen. Die Tumulte dauerten bis zum Abend, obgleich am Nach­mittag ein mehrstündiges heftiges Gewitter die Masten stark verringert hatte. Ein Waffenlager wurde ge­stürmt und ausgeplündert, ein Arbeiter durch den Revolverschuß eines Offiziers getötet. Viele Per­sonen wurden verletzt. Auch unter den Soldaten gab es viele Verwundete.

Berlin, 18. Mai. Aus Wien meldet dieB.Z.": DieNeue Freie Presse' gibt als Auffassung hiesiger diplomatischer Kreise von der Haltung Italien folgen­des wieder: Die Situation ist von hier aus um so weniger zu beurteilen, als auch in der italienischen Oeffentlichkeit keine Klarheit vorhanden ist. Das Kabinet Salandra ist wohl jenes Ministerium, das das größte Vertrauen der Kriegspartei in Italien besitzt. Daraus kann man wohl folgern, daß dieses Ministerium in den Krieg ziehen wird, als auch, daß ein solches Kabinett am ehesten im Stande sein könnte, den Frieden dem Land und damit auch in internationaler Hinsicht zu erhalten.

, Rom. 18. Mai. (WTB)Giornale d'Jtalia" i meldet:Sonnino hat heute vormittag nacheinander den Fürsten Bülow und Freiherrn von Macchio empfangen.

Berlin, 18. Mai. Aus Lugano meldet das BerlinerTageblatt": Der englische Botschafter erschien gestern, als ihm die Menge vor seinem Palais Ova­tionen darbrachte, auf dem Balkon und rief den Demonstranten zu:Verlangt nicht, daß ich spreche. Eure Regierung hat das Wort." Die Gattin des ! Botschafters streute Blumen auf das Volk herab. Dann zog die Masse vor die serbische Gesandtschaft. Der Gesandte rief ihnen zu:Hoch das größere Italien." Die Worte riefen namenlose Begeisterung hervor.

Berlin, 18. Mai. Aus Chiasso meldet der Lokslanzeiger": Gestern vormittag machte der König in Begleitung seiner Adjutanten zwei Ausfahrten und wurde beide Male vom Volk lebhaft mit dem Ruf Hoch der König".Hoch Italien" begrüßt.

Chiasso, 18. Mai. DerCorriere della Sera" meldet lautBerl. Lokalanz." aus Bukarest unterm 12. Mai: Gestern abend ist ein höherer Hofbeamter l mit einem Handschreiben des Zaren für den König von Italien auf der Reise von Petersburg nach Rom ! in Jassy eingelroffen.

^ Berlin, 18. Mai. Aus Basel wird derBerl. Volkszeitung" berichtet: DieNeue Züricher Zeitg." meldet aus Genf: Frankreich hat Italien Eisen- ! bahnwagen zu Truppentransporten zur Verfügung ° gestellt.

Mailand, 18. Mai. (WTB.) DemCorriere della Sera" zufolge ist in Tripolis infolge der seil den jüngsten Ereignissen zunehmenden Tätigkeit der Eingeborenen der Kriegszustand erklärt worden.

Pest. 18. Mai. (GKG.) Die BukarestsMol- dova" schreibt, lautFranks. Ztg ", in den Kreisen der die Regierung unterstützenden Politiker verstärke sich die Ueberzeugung. daß kein wie immer geartetes Verhalten Italiens eine Aktion Rumäniens nach sich ziehen werde. Rumänien werde auch weiter die Politik des bewaffneten Zuwartens befolgen.

Bukarest, 19. Mai. (WTB.) Das russen­freundliche BlattDimineatza" schreibt über die Kriegslage in Galizien: Die Russen ziehen sich andauernd zurück, ohne bisher das Gleichgewicht ge­funden zu haben, das für einen Gegenangriff oder ernstlichen Widerstand erforderlich wäre.