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Neuenbürg. Freitag den 29. Februar 1914.
72. Jahrgang.
RunSlehau.
Berlin. 18. Febr. (Reichslag.) Am Bundesratstisch Staatssekretär Dr. Lisco. Den Platz des Präsidenten schmückt ein Blumenstrauß aus Anlaß seines 72. Geburtstags. Präsident Dr. Kämpf eröffnet 1 Uhr 15 Min. die Sitzung und dankt den Schriftführern für die Aufmerksamkeit. Die zweite Beratung des Etats des Reichsjustizamls wird beim Titel Staatssekretär fortgesetzt. Abg. List- Eßlingen (natl.): Der Abgeordnete Röchling hat im preußischen Abgeordnetenhaus davon gesprochen, daß in solchen Fällen wie Zabern vom leitenden Staatsmann die Sraatsraison über die Gerechtigkeit zu stellen sei. Im allgemeinen hat er diesen Satz nicht ausgestellt und damit gesagt, daß der leitende Staatsmann unter Umständen einen anderen Standpunkt einzunehmen Habs als ein Richter. Wie die Sozialdemokratie die Novell engesetzgebung mit dem preußischen Wahlrecht in Verbindung bringen konnte, verstehe ich nicht. Die Novellengesetzgebung ist der einzige Weg, unser gegenwärtiges Reich laufend zu verbessern. Geschäftliche Schädigungen durch unerkannte Geisteskranke werden nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Breslau und Stuttgart berichtet. Eine gesetzliche Regelung dieser Materie wäre sehr erwünscht. Hinsichtlich der religiösen Erziehung der Kinder aus Mischehen muß dringend Abhilfe geschaffen werden. Wir verlangen in unserm Antrag, daß der im Etat geforderte, aber von der Kommission gestrichene sechste Reichsanwalt wieder eingestellt wird. (Beifall.) — Der Abg. Dr. Oertel hat nichts Neues zu sagen, aber er macht zu dem schon Gesagten einige Witze, die das ganze Haus erheitern. In der Frage der persönlichen Ehre versteht er keinen Spaß; sie soll mehr geschützt werden. Unnachsichllich ist Herr Oertel gegen unzüchtige Ansichtskarten und sonstigen Schmutz im Bild; nicht aus Muckerei. sondern aus „Religiösität". Herr Dr. Müller- Meiningen denkt darüber natürlich anders. Nach alter Erfahrung machten die größten Zotenjäger offiziell nach außenhin am liebsten in Sittlichkeit. Staatssekretär Lisco räumt ein, daß man über einige obrigkeitliche Entscheidungen in diesen Dingen verschiedener Meinung sein könne. Auch der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Heine behandelt eingehend das Thema Unzüchtigkeit, erntet aber für einige Kraftstellen eine Zurückweisung des Staatssekretärs Dr. Lisco ein. Dr. Gerlach und Dr. Dove von der Fortschrittlichen Volkspartei kommen noch einmal auf das Jrrenwesen und anderes zu sprechen. Der Genosse Sachse trägt sozialdemokratische Beschwerden vor. Dann ist die allgemeine Aussprache beendet. Um 6^/« Uhr vertagt sich das Haus.
Berlin, 19. Febr. (Reichstag.) Am Bundesratstisch Staatssekretär Dr. Lisco. — Vizepräsident Dr. Paasche eröffnet die Sitzung um 1 Uhr 5 Min. Die zweite Beratung des Etats des Reichs-Justizamts wird fortgesetzt. Zur Besprechung steht bei dem Titel „Staatssekretär" nur noch der Fall Hamm. Trotz der Mahnung des Staatssekretärs Lisco, nicht in ein schwebendes Verfahren einzugreifen, sprachen heute vier Redner zum Fall der Witwe Hamm in Flandersbach. Es handelt sich für diese freilich nicht um das eingeleitete Wiederaufnahmeverfahren, sondern um die Fehler des ersten Verfahrens, das zu ihrer Verurteilung führte. Dr. Heckscher von der Fortschrittlichen Volkspartei hält auf Grund dieser Beschuldigungen eine Reform des Wiederaufnahmeverfahrens für nötig. Mit dem Protest des Reichsparteilers Schulz-Bromberg gegen diese Erörterungen schließt die Debatte, und die Abstimmungen folgen, bei denen auch der vielerörterte sechste Reichsanwalt bewilligt wird. Beim Kapitel Reichsgericht wird die von der Kommission gestrichene 6. Reichsanwaltsstelle.bewilligt (lebhafter Beifall) und sodann der Rest des Etats
erledigt. — Es folgt die zweite Beratung des Marin ee.tats. Herr Noske aus Chemnitz, der sich vom Holzarbeiter zum Armee- und Marme- spezialisten der sozialdemokratischen Fraktion empor- gearbeitrt hat. beginnt den Reigen der Kritiker. Er vergießt erst einige Tränen über die „zu neuen Riesenschlachtsch'ffen gewordenen schönen Vorsätze, die Flottenrüstungen einzuschränken", entrüstet sich über die „Schreckensurteile der Marinegerichte" und hat überhaupt allerlei auszusetzen. Mit einer Philippica gegen die Kriegshetzer in der Presse schließt er. Staatssekretär v. Tirpitz. der bei Beginn der Beratung mit seinem Mitarbeiterstab im Saal erschienen ist. nimmt sofort Gelegenheit, den Marineekat von den Beschuldigungen des Genossen Noske reinzuwaschen. Daß die Strafen zu hart ausfielen, sei nicht richtig, aber Disziplin müsse sein. Auch die übrigen Behauptungen Noske bestreitet er, an der Rüstungs- ^ frage gehr er vorsichtig vorbei. Unter lebhaftem Beifall schließt er mit dem Wunsch, daß sich das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Volk und Flotte immer mehr ausbreiten möge. Matthias Erzberger ist gegen den englischen Vsrständigungsplan sebr geladen. Darauf eingehen, würde eine Bankerotterklärung unserer Flottenpolitik bedeuten. Er hat im übrigen wenig zu tadeln; die Marine habe dem deutschen Namen immer Ehre gemacht.
Wieder angefochten ist die Reichstagswahl des Zentrumsabgeordneten Dr. Wrrth im Reichstagswahlkreis Offenburg-Kehl und zwar wegen verschiedener Wuhlmachenschaften des Zentrums und Verstöße gegen die Wahlordnung.
Berlin, 18. Febr. Wie der „Berliner Lvkal- anzeiger" mitterlt, ist infolge des Generalpardons bei der Einschätzung zum Wehrbeitrag im Kreis Eschwege an Kapitalvermögen bisher 11055550 Mark mehr als früher deklariert worden. Hiervon entfallen nach der „Kleinen Presse" auf die Stadt Eschwege allein 5023 915 Mk. — Im Fürstentum Birkenfeld haben sich bei der Erklärung zur Wehrbeirragssteuer 19MillionenMarkmehr ergeben, als bisher versteuert wurden. Auf die Städte Idar und Oberstem kommen davon 11 Millionen Mark.
Berlin, 18. Febr. Den irreführenden Meldungen französischer Blätter über den Gesundheitszustand in den deutschen Garnisonen ist das preußische Krieg-Ministerium bereits an Hand statistischer Angaben entgegengetreten, die es jetzt noch folgendermaßen ergänzt: Die Gesamtsterblichkeit im deutschen Heere ist von 0.43 vom Tausend der Kopfstärke im Oktober bis Dezember 1912 auf 0,36 vom Tausend im gleichen Zeitraum des Jahres 1913, also um 0,07 vom Tausend gesunken. Diese Tatsache ist umso erfreulicher, da bereits im Berichtszeitraum vom 1. Oktober 1912 bis 30. September 1913 der Gesundheitszustand des Heeres recht günstig war.
Berlin, 18. Febr. Aus Germersheim wird der Morgenpost berichtet: Die Heeresvermehrung wird dem bayerischen Heers neben der Vermehrung des Soüstcmdes auch ein Zeppelin Luftschiff modernster Bauart bringen. Als Ort für die Luflschiffstation ist die Festung Germersheim gewählt worden.
Die Strafkammer Beuthen verurteilte nach neunlägigen Verhandlungen den russischen Agenten Lubelinsky wegen Verstoßes gegen das Auswanderergesetz, Mädchenhandel und Betrügereien zu neun Jahren Zuchthaus. 9000 Geldstrafe und zehn Jahren Ehrverlust.
Paris, 18. Febr. Diesen Morgen stellte in Gegenwart von Vertretern des Kriegsministeriums sowie der französischen Luftschifferliga der Flieger Guerre vom Eiffelturm Schießversuche mit brennenden Pfeilen gegen bewegliche Ziele an. Die neue Erfindung soll zur Abwehr von Lenk- ballonen im Kriege dienen. Die Versuche können als geglückt bezeichnet werden. Wenn die Witterung
es erlaubt, will der Erfinder von einem fliegenden Flugzeug aus feine Versuche wiederholen.
Paris, 18. Febr. Die Zahl der Krankheitsfälle in den französischen Garnisonen ist ständig im Wachsen begriffen und die heutigen hier vorliegenden Meldungen zeigen, daß alle zur Bekämpfung der Seuche ergriffenen Maßnahmen erfolglos geblieben sind. 198 Erkrankte liegen im Hospital in Orleans. Vom 131. Infanterie-Regiment, das in Orleans garnisoniert, sind abermals 3 Personen gestorben. in Marsaille ebenfalls 3, in Montpellier 2, in Langres 1. Auch die Zahl der Neuerkrankungen ist beträchtlich. Allein vom 26. Artillerie-Regiment sind in den letzten Tagen 250 Soldaten ins Hospital eingeliefert worden. Von ihnen find mehrere gestorben und einige ringen mit dem Tode.
Ein unerhörter Anschlag auf das Leben der Soldaten der französischen Garnison Amiens wurde in der dortigen Garnisonbäckerei entdeckt. Als die Bäcker die fertig geformten Brote in den Ofen schieben wollten, fiel ihnen ein eigenartig scharfer Geruch auf. Der Teig wurde untersucht, und es ergab sich, daß jemand einegiftigeKupferlösung hineingeunscht hatte. Die Militärbehörde hat sofort eine Untersuchung eingeleiiet, die zur Folge halte, daß zwei der Tat verdächtige Soldaten verhaftet wurden.
Bei den Manövern im Golf von Juan ^ wurde, wie aus Toulon gemeldet wird, der Torpedo- boolszerftörer „Poigoard" von dem Torpedobootszerstörer „Fantaissin" angerannt. Beide Schiffe erlitten beträchtliche Havarien.
Der verabschiedete russische Ministerpräsident Kokowtzow hat die Summe von 300000 Rubeln, die ihm in Anerkennung seiner Dienste vom Zaren angeboten wurden, zurückgewiesen.
Innsbruck, 18. Februar. Heute nacht 2 Uhr wurde hier ein kräftiges Erdbeben von horizontaler Richtung und mit starken Schwingungen wahrge- nommerr. Es dauerte drei Sekunden.
Auf der Bobsleighbahn in St. Moritz fuhr ein Bobsleigh über die Tribünen ins Publikum. Mehrere Personen wurden verletzt, einige davon schwer.
New-Jork, 18. Febr. Der Hafen ist voll» kommen von Treibeis unzugänglich gemacht. Die Ozeandampfer können nicht landen und kommen zum Teil mit schwerer Verspätung an. Die von Europa kommenden Schiffe haben bis fünf Tage Verspätung. Der argentinische Kreuzer Riva Beira mußte in den Hafen von Boston flüchten und wurde vom Eise beschädigt.
Württemberg.
Stuttgart, 17. Febr. Der König und die Königin werden, wie verlautet, Mitte nächsten Monats in München zum offiziellen Gegenbesuch beim bayerischen Königspaar eintreffen. Unter anderem ist aus diesem Anlaß eine Festvorstellung vorgesehen. Der württ. Hilfsverein in München plant die Veranstaltung eines schwäbischen Abends, bei dem nur heimische Dichter und Komponisten vertreten sein sollen.
Stuttgart, 17. Februar. Am 26. Februar, an dem Heuer die kirchliche und bürgerliche Feier von Königs Geburtstag ftattfindet, wird der Post-, Telegraphen- nnd Fernsprechdienst in der Weise eingeschränkt, daß die Postschalter während der für die Sonn- und Feiertage festgesetzten Zeit offengehalten werden. In größeren Städten wird die Einlieferungszeit entsprechend verlängert. Die Briefkasten werden wie an Sonntagen und außerdem noch einmal nachmittags geleert. In den Postorten finden zwei Bestellgänge statt, im Landbestelldienst werden die Sonntagsbotengänge ausgeführt. Im Telegraphen- und Fernsprechdienst greifen dieselben Einschränkungen wie an Sonntagen Platz.