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17S.
Neuenburg, Samstag den 2. November M2.
7V. Jahrgang.
Run-schau.
Es läßt sich in diesem Augenblick nicht untersuchen, ob es klug war, das Fell des Bären zu verteilen. bevor er erlegt war; es läßt sich nicht widerlegen. ob die Bureaustralegie, die von einem türkischen Sedan sprach, sich nicht doch noch verrechnet hat; es läßt sich, da die Schicksalswage noch in der Schwebe, von niemand, vom Fachmann so wenig wie vom Laien, sagen, ob die Türkei nicht doch noch die Oberhand gewinnt; aber das Eine wissen wir mit untrüglicher Sicherheit: die Diplomatie der Großmächte ist geschlagen, sie zieht sich zurück an den grünen Tisch und denkt darüber nach, wie sie sich mit Ehren aus der famosen Sackgasse ziehen könnte. Und siehe da, Oesterreich Kat bereits die Formel dafür gefunden. Mit Formeln läßt sich ja derartiges immer am besten machen. Vor und zu Beginn des Krieges, als noch niemand daran dachte, daß der Türke derart den Hosenboden ver- klopft bekommen könnte, da wurde Stein und Bein geschworen, daß der 8tatus guo (der gegenwärtige Zustand) aufrechterhalten werden müsse. Ja. man ging ausdrücklich so weit, zu erklären, daß man unter dem Ltatus guo die Erhaltung der jetzigen staatlichen Gebietseinteilungen verstehe, daß man nicht dulden werde, daß eine der kriegführenden Mächte etwa fremdes Gebiet an sich reiße. Aber — die Bulgaren, die Serben, dis Montenegriner und die Griechen siegten, drangen Schritt für Schritt in türkisches Land und erklären dieses, ganz nach modernem Muster, für annektiert. Sie scheren sich, etwas drastisch ausgedrückt, den Teufel um den Status guo der Grüntischdiplomaten, sondern stellten sich einfach auf den Standpunkt: s'x suis, reste, hier bin ich, hier bleibe ich. Und der 8tatus guo drehte sich in den Diplomatenköpfen und bekam plötzlich ein anderes Gesicht. In Oesterreich wurde man der Ansicht, es sei gar nicht notwendig, den 8tatus quo so aufzufassen, als ob die Gebietsveränderungen nicht vorgenommen werden dürften — obwohl das, wie gesagt, ausdrücklich erklärt worden war —. sondern es handle sich nur darum, daß die Interessensphären der Einzelstaaten in den einzelnen Gebieten gewahrt würden, ob diese nun den Türken verblieben oder von den Bulgaren, Serben. Montenegrinern oder Griechen besetzt würden. So spricht man jetzt, nachdem man damit rechnet, daß die Türkei niedergerungen sei. Wenn nun die Rechnung doch noch fehlschlüge, wenn es den Türken doch noch gelänge, den Gegner abzuschütteln, wenn sie dann Ansprüche auf neues Gebiet erhöbe, ob da die Diplomaten auch noch so weitherzig in der Auslegung des 8tatus guo wären? Oesterreich schwerlich und Rußland sicherlich nicht, obwohl gerade dieses außer allem Zweifel von Anfang an ins Auge gefaßt hatte, den vier Balkanstaaten etwaige territoriale Erfolge nicht streitig zu machen, denn so ganz aufs Geratewohl sind diese nicht mit solchem Elan ins Zeug gegangen. Rußland träumt schon lange davon, süd- slavische Vormacht zu werden, die Vier, die seine Sympathien und zum Teil sein Geld haben, sollen ihm nun den Traum verwirklichen. Zum Schaden von Oesterreich, das bei einer zustande kommenden Diplomatenkonferenz den schwierigsten Standpunkt haben würde, seine eigenen Interessen zu wahren. — Wenn man sich die Kriegsereignisse ansieht, so steht man fast vor einem Rätsel, eine solche Zerfahrenheit im türkischen Heerwesen zu finden. Mag man auch die Hoffnung hegen, daß sich die Türken in der verzweifelten Lage, in die sie mit wuchtigen Schlägen hineingeworfen worden sind, doch noch zur Tatkraft aufraffen, angesichts der Niederlagen bei Adrianopel im Osten, bei Kumanowo und Uesküb im Westen und bei den thessalischen Pässen an der griechischen Grenze kommt man nicht über den Eindruck hinweg, daß die Führung auf türkischer Seite schlaff und nachlässig, die Manneszucht aufs
allerbedenklichste gelockert ist. Man hatte anderes von der Widerstandskraft der Türken erwartet, namentlich nachdem unter dem jungtürkischen Regiment mit Energie auf die Verbesserungen der Heereseinrichtungen hingearbeitet worden ist. Aber was hiedurch hätte erreicht werden können, das ist durch die politische Zersetzung des Offizierkorps mehr als erträglich ausgewogen worden. Oben hat die Demoralisierung begonnen, unten war sie damit von selber gegeben. Man muß nun abwarten, wie sich die entscheidenden Ereignisse gestalten. Tritt bei Adrianopel nicht ein völliger Umschwung zu Gunsten der Türkei ein. so ist sie von der europäischen Landkarte so gut wie gestrichen und hat als Großmacht überhaupt aufgehört. Was an ihre Stelle treten wird, weiß freilich noch niemand, denn die Aufteilung ist eine Frage für sich, die heute noch niemand löst. — Man mag es einigermaßen verwunderlich gefunden haben, daß sich bei den ganzen Vorgängen England so ganz im Hintergründe gehalten hat, das doch sonst überall seine Hände im Spiele hat. Aber man wird es erwarten können, daß es mit von der Partie sein wird, wenn es gilt, die Karten für das diplomatische Spiel zu mischen. Trotz aller Entente sieht ja England immer scheel nach Rußland, wenn dieses Miene macht, seine Einflußsphäre in Persien zu erweitern. Man kann aber heute schon Hundert gegen Eins wetten, daß diese sich die Schwächung der Türkei zunutze machen wird, um die Dinge an der persisch-türkischen Grenze in „Ordnung" zu bringen. Dazu der wachsende Einfluß Rußlands bei den Südslaven, worauf wir schon oben hingewiesen haben, und man wird ohne weiteres zu der Ueberzeugung kommen, daß die europäische Diplomatie auch nach dem Balkankrieg, den man so lange gefürchtet und schließlich durch Absicht oder Saumseligkeit doch herbeigeführt hat. noch lange nicht in ruhigem Fahrwasser segeln wird. Frankreich hat sich ja nach langem Hin und Her endlich mit Spanien über Marokko verständigt und so einen Stein vom Herzen, aber es wird ein böses Gesicht machen, wenn es seine Kapitalien, die es in der Türkei investiert hat, mindestens auf unabsehbare Zeit hinaus brach gelegt sehen wird. Da wird es bei der Regelung der türkischen Angelegenheiten wohl auch ein gewichtiges Wort mitreden wollen. Also überall ein Jnein- andergreifen von Interessen und Streitfragen, daß man allen Grund hat, der Weltlage nach wie vor die größte Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Krieg auf dem Balkan.
Konstantinopel. 1. Novbr. Die türkische Flotte hat gestern den bulgarischen Hafen Burgas beschossen.
Konstantinopel, 1. Nov. Amtlich wird gemeldet: Nach einem heute nacht eingetroffenen Telegramm des Generals Nasim Pascha dauert der seit 4 Tagen auf der Linie Visa—Lüle—Burgas tobende Kampf fort. Auf dem rechten Flügel, auf dem Flügel von Visa, sei der Feind mit großen Verlusten zurückgeworfen worden. Gegen den von Norden kommenden Feind leisteten die türkischen Truppen bei Lüle-Burgas tapferen Widerstand. Bei den Kämpfen um Adrianopel sind die Bulgaren zurückgeworfen worden.
Sofia. 1. Nov. (Agence Bulgare.) In Lüleh Burgas haben die Bulgaren zwei weitere Eisenbahnzüge, die mit Lebensmitteln und Munition beladen waren, abgefangen.
Sofia, 1. Nov. Die bulgarischen Truppen haben Dimotika besetzt. Heute fand in der Kathedrale in Stara Zagora ein feierlicher Dankgottesdienst aus Anlaß des Sieges von Lüle-Burgas statt. Morgen wird aus dem gleichen Anlaß ein Dankgottesdienst in der kiesigen Kathedrale gehalten werden.
Sofia, 1. Novbr. König Ferdinand beglückwünschte den Kommandanten der bei Bunar- Hissar und Lüle-Burgas siegreichen Armee mit folgender
Depesche: „Ich beglückwünsche Sie und Ihre Leute aller Grade zu dem ruhmreichen Sieg, den Sie über den Feind errungen haben. Ich spreche allen meinen aus tiefstem Herzen kommenden Dank für ihre Tapferkeit und ihre grenzenlose Selbstverleugnung aus. Möge Gott Ihnen neue ruhmreiche Siege gewähren! Meine Gedanken weilen jederzeit bei Euch, meinen tapferen Kämpfern".
Sofia, 1. Nov. Die im nördlichen Mazedonien überflüssig gewordenen serbischen Trupven sind nach Bulgarien abgegangen, um sich den bulgarischen Streitkräften vor Adrianopel anzuschließen. Größere Massen serbischer Infanterie haben bereits Sofia passiert.
Athen, 1. Nov. Das griechische Torpedoboot Nr. 12 drang in der Nacht in den Hafen von Saloniki ein und feuerte mit Erfolg einen Schuß gegen den türkischenKreuzer„Feth-i-Bülend" ab. Der Kreuzer neigte sich auf die rechte Seite und sank. Das Torpedoboot kehrte unversehrt nach Katerini zurück. (Der Feth-i-Bülend ist ein altes, 1907 auf den Aesoldowerken in Italien etwas modernisiertes Küstenpanzerschiff von 2800 Tonnen, ohne großen Gefechtswert.)
Athen, 1. Nov. Die Armee von Epirus hat ihren Vormarsch fortgesetzt und, ohne Widerstand zu finden, das Dorf Anogi bei Pendepigadia (an der Straße Arta-Janina), das sie verbrannt vorfand, besetzt. General Sapundjakis hat ferner mehrere strategische Positionen besetzt.
Cetinje, 1. Nov. Die Türken wurden gestern bei Pulay an der Bojana geschlagen und zogen sich auf Sovanni di Medun zurück. Die Türken hatten viele Verwundete und Tote. Die Montenegriner eroberten eine Kanone.
Paris, 31. Oktober. Die Panzerkreuzer „Leon Gambetta", „Victor Hugo" und „Jules Fe rry" haben denBefehl erhalten, nach Syrien zu gehen. Sie werden bereits heute abend Toulon verlassen. Der Panzerkreuzer „Bruix", der gegenwärtig vor Samos liegt, wird sich nach Saloniki begeben.
Triest. 1. Nov. Die österreichisch-ungarische Kriegseskader hat Befehl erhalten, unter halbem Dampf zu stehen, um in See zu stechen, sobald in Saloniki ernste Ereignisse eintreten sollten.
Saloniki, 1. Nov. Hier sind gestern zwei englische Kriegsschiffe aus Malta eingetroffen. Die Mannschaften haben das Verbot, an Land zu gehen. Sollte sich in Konstantinopel, wie befürchtet wird, eine revolutionäre Bewegung gegen die christliche Bevölkerung geltend machen, so hat die englische Flotte im Aegäischen Meer Befehl erhalten, vor Konstantinopel zu erscheinen.
London, 31. Oktbr. Wie das „Reuter'sche Bureau" aus diplomatischen Kreisen erfährt, besteht kein Grund zu der Befürchtung, daß Oesterreich- Ungarn auf dem Balkan eine Aktion unternehme, die zu europäischen Komplikationen führen könnte. Es wird vielmehr erklärt, daß Oesterreich- Ungarn mit den anderen Mächten in dem Entschluß, den Frieden aufrecht zu erhallen, einig sei und nicht die Absicht habe, eine militärische oder eine andere Aktion zu unternehmen, die dazu angetan wäre, den entgegengesetzten Erfolg herbeizuführen.
London. 31. Okt. (Unterhaus.) Auf eine Anfrage an den Staatssekretär des Aeußern, ob er Mitteilen könne, wie die Aussichten für eine baldige Beendigung und für das Zustandebringen des dauernden Friedens zwischen den Krieg- führenden seien, antwortete Sir Edward Grey: Ich fürchte, ich kann nichts sagen, außer daß ich von nichts in der internationalen Lage gehört habe, was den Friedensaussichten hinderlich sein könnte, sobald die militärische Lage den Friedensschluß möglich macht. (Beifall).