und Weingärtner dürfe man auch die Sorgen der anderen Berufsstände nicht vergessen. Die liberalen Parteien sind sich darin einig, daß eine fortgesetzte einseitige Belastung von Gewerbe, Industrie und Handel für unsere Volkswirtschaft von größtem Schaden sein müsse. Der Redner wandte sich dann der Marokkofrage zu. Die deutsche Sozialdemokratie sei in dieser Frage, wo die deutsche Regierung wahrhaftig mit aller Vorsicht und mit einer Engelsgeduld vorgegangen ist, der Regierung in den Rücken gefallen und habe die Geschäfte Frankreichs besorgt. Gerade die Sozialdemokratie sollte für das große Problem der Beschaffung von Arbeitsgelegenheit auf dem Weltmarkt mehr Ver­ständnis haben. Wenn kriegerische Bahnen heut­zutage einmal beschritten werden müßten, geschehe dies gerade im Interesse des arbeitenden Volkes. Die Abhilfe gegen die Steigerung der Lebensmittel- preise müsse nicht auf dem Weg einer Revision der landwirtschaftlichen Zölle gesucht werden, sondern in erster Linie auf dem Weg der Kolonisation und der Ausdehnung der wirtschaftlichen Machtsphäre. Die Hauptsache bleibe schließlich doch die Erreichung günstiger Handelsverträge für unfern Export, der Verzicht auf weitere einseitige Belastung von Ge­werbe, Handel und Industrie. Die Geschichte der letzten Wochen und Monate lehre, daß nur die Macht entscheidet, wenn es sich um die Sicherung der wirt­schaftlichen Bedürfnisse der Völker handelt. Wirt­schaftliche Macht könne sich nur auf politische Macht stützen. Hätte England in der Marokkofrage sich nicht auf Seiten Frankreichs gestellt, so hätten wir sicher greifbarere Resultate erzielt. Seien wir also auf der Hut I Es gilt stark sein in der Stunde der Gefahr, stark zu Wasser vor allem, es gilt aber auch das Schwert scharf zu halten im Interesse der besseren Ernährung unseres hoffentlich weiter wach­senden deutschen Volkes, d. h., es ist eine natio­nale und liberale Politik heute nötiger denn je. Den mit wiederholter lebhafter Zustimmung auf­genommenen Ausführungen des Vorsitzenden folgte ein vorzügliches Referat 'des Landtagsabgeordneten Dr. Mülberger über die Arbeiten des Land­tags. Nach der mit außerordentlichem Beifall auf- genommenen Rede Mülbergers ergriff der Kandidat für den 4. Wahlkreis, Hr. Keinath-Stuttgart, bei seinem Erscheinen lebhaft begrüßt, das Wort zu einem Referat über Reichspolitik. In außer­ordentlich gewandter und fesselnder Rede entwarf er zunächst ein Bild von den dem sterbenden Reichstag noch vorliegenden Aufgaben und gab der Hoffnung Ausdruck, daß wenigstens die Gesetze über die Prn- sionsversicherung der Privatangestellten und über die Stromverbände mit den Schiffahrtsabgaben zustande kommen. Die zum Abschluß gekommene Reichs­versicherungsordnung mit der Witwen- und Waisen­versicherung bedeute einen neuen Vorsprung Deutsch­lands auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge. Bei den Beratungen über den neuen Zolltarif werde weder der Landwirtschaft der notwendige Schutz ge­nommen werden dürfen, noch durch eine überagrarische Zollpolitik das deutsche Wirtschaftsleben gestört werden dürfen. Eine dauernde Verbindung der Konservativen mit dem Zentrum wäre für Deutsch­land unheilvoll, dagegen sei die liberale Verständig­ung ein erfreulicher Ueberrest des Bülowblocks. Die Kampfstellung gegen die Sozialdemokratie sei unver­ändert geblieben^ In der auswärtigen Politik seien leider seit dem Jahr 1890 vielfach die Grundlagen der Bismarckschen Politik, insbesondere die Pflege guter Beziehungen zu Rußland, ohne genügenden Grund verlassen worden. Die Bismarcksche Zurück­haltung in Orient- und Kolonialfragen habe sich da­gegen infolge der wirtschaftlichen Entwicklung Deutsch­lands nicht aufrecht erhalten lassen. Eine enge Verbindung mit der Türkei liege im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interesse Deutschlands. Aus der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands erkläre sich auch die entschlossene Gegnerschaft Eng­lands im letzten Jahrzehnt. In dem Marokkostreit handle es sich um die Abschüttelung des englischen Drucks. Italiens Angriff auf Tripolis müsse ohne Sentimentalität betrachtet werden, gefährde aber die deutschen Interessen in der Türkei. Dir brüske Einleitung des Kriegs werfe auch ein grelles Schlag­licht auf die Deutschland bedrohende Gefahr. Deutschland müsse darum in Zukunft Hammer sein, wenn es nicht Ambos werden wolle. Stürmischer Beifall lohnte auch diesen Redner für seine gehalt­vollen Ausführungen. Die Versammlung stimmte einmütig einer Resolution zu: Gegenüber den neuer­dings in der Presse auftauchenden Anregungen zu neuen Tauschverhandlungen zwischen den liberalen Parteien erklärte der Landesausschuß, daß er an dem vor nahezu Jahresfrist geschloffenen Abkommen

unbedingt festhält. Insbesondere wird die National­liberale Partei ihren vertragsmäßigen Anspruch auf die Kandidatur im 4. Wahlkreis unter allen Um­ständen aufrecht erhalten. Falls die volksparteiliche Kandidatur im 14. Wahlkreis zu Gunsten der Kan­didatur Kehm zurückgezogen wird, ist die National­liberale Partei zu entsprechenden Gegenleistungen bereit, doch kann es sich hierbei in keinem Fall um die Zurückziehung bestehender Kandidaturen handeln.

Die Lebensmittelteuerung bildet immer noch ein ständig wiederkehrendes Kapitel in den Er­örterungen der Tagespresse und gibt auch der poli­tischen Agitation, die sich in stets wachsendem Maße landauf landab geltend macht, reichlichen Stoff zur Behandlung ernster wirtschaftlicher Fragen. Die Tatsache, daß von amtlicher Seite auf Grund genauen statistischen Materials die Verteuerung der Lebens­mittel durch Zwischenhandel und Kleinverkauf nach­gewiesen und die Aufgabe, hier vermittelnd einzu­wirken, den Gemeinden zugesprschen worden ist, hat den Stein von neuem ins Rollen gebracht. Es steht unzweifelhaft fest, daß die Preise im Kleinhandel denen des Großhandels häufig nicht folgen und ins­besondere die Neigung haben, auch bei fallenden Großpreisen nicht zurückzugehen, wenn sie einmal eine gewisse Höhe erklommen haben. Am meisten leiden unter dieser Erscheinung die Städte, und es ist da­her nicht unverständlich, wenn man sich in erster Linie an sie wendet, damit Mittel zur Abhilfe ge­schaffen werden. Manchen Politikern will diese Art der Abhilfe freilich nicht gefallen. Sie verweisen darauf, daß das Anwachsen der Fleischteuerung, wenn sich der Futtermangel, der die Preise von Milch und Butter ebenfalls bestimme, erst einmal recht bemerkbar machen werde, sich noch gar nicht übersehen lasse. Sie verlangen deshalb wohl weniger aus wirtschaftlichen als aus politischen Grün­den die Aufhebung oder die wesentliche Herab­setzung der Zölle auf Futtermittel, die Oeffnung der Grenzen für ausländisches Schlachtvieh und den Massenbrzug gefrorenen Fleisches aus überseeischen Ländern. Dieses Verlangen wird neuerdings sogar damit begründet, daß die Erfüllung solcher Wünsche, auch wenn sie, was als möglich eingeräumt wird, keinen praktischen Erfolg haben, weil im Ausland Futter und Fleisch nicht billiger zu haben sind, der Regierung moralische Eroberungen verschaffe, die sich in der nächsten Wahlkampagne leicht in politische Erfolge umprägen ließen. Die Regierung wird sich schwerlich in eine solche Falle begeben. Bleibt sie sich ihrer Verantwortung bewußt, so wird sie sich durch das Trugbild politischer Erfolge nicht zu wirkungslosen Maßnahmen verleiten lassen, die unsere Landwirtschaft schwer schädigen und unseren wert­vollen Viehbestand einer großen Gefahr aussetzen würden. Bei der ganzen Frage der Teuerung sollte übrigens auch mehr auf Selbsthilfe bedacht genommen werden, und da scheinen uns Betrachtungen manches Wahre zu enthalten, dis jüngst in einem großen liberalen Blatte angestellt worden sind. Sie mahnen zur Sparsamkeit, mit der Hand in Hand die Schlicht­heit und Gesundheit der Lebensführung gehe, aus der wiederum erhöhte Arbeitskraft und Leistungs­fähigkeit, vermehrter Verdienst hervorwachse. Es sei ein charakteristisches Zeichen unserer Zeit, daß viel zu viel über die Verhältnisse hinaus gelebt werde, daß in den sogenannten Vergnügungen übertriebene Bedürfnisse vorliegen.In den Familien, so wird da ausgeführt, schwindet die Pflege schlichter, inniger Geselligkeit. An ihre Stelle treten die widerwärtigen, meist, weil es dazu doch nicht langt, mit Stillosig- keiten und kläglichen Disharmonien verknüpften Ab­fütterungen. Wenn Hausfrauen früher auf dem Gebiete der Kochkunst rivalisierten, so ziehen sie heute die Konkurrenz in Hüten und Dessous, Strümpfen und Stiefelchen vor. Mit dem Betrage der jetzigen Hutrechnungen einer noch nicht einmal verschwenderisch sich kleidenden Frau aus mittleren Verhältnissen be­stritt vor wenigen Jahren ein Hausvater noch seinen Jahresbedarf an Kleidern und Schuhen. In anderen Kreisen wiederum macht man alle zwei bis drei Stunden Brotzeit, ißt und trinkt über Bedarf, raucht und spielt bis in die Nacht hinein in schlechter Kneipenluft und schimpft kräftig über die hohen Fleischpreise und über die allgemeine Not der Zeiten. Darunter leidet nicht allein die materiale Lage der Familie. Vor allem sind es auch die innere Kultur, das Innenleben, das Glück und die Harmonie des Familienlebens, die durch ein oberflächliches, un­geordnetes Dahinleben untergraben werden. Rück­kehr zur Sparsamkeit, Einfachheit, geregelter, ver­innerlichter Lebensführung und intensivere, weniger durch alle möglichen leeren, gehaltlosen Ablenkungen unterbrochene Arbeit das sind gewaltige Waffen im Kampfe mit der Teuerung."

Stuttgart, 11. Oktober. Ueber das Thema Massenvergiftungen" sprach gestern abend im Gustav Jäger-Verein im großen Saal desHerzog Christof" vor einer sehr zahlreichen Zuhörerschaft der Altmeister der Biologie, Prof. Dr. Gustav Jäger. In seiner überzeugenden, lediglich von der Wirklich­keit ausgehenden und aller gekünstelten Mache ab­holden Art schilderte der Redner zuerst die durch das Bläuen des Zuckers und in neuester Zeit auch anderer Nahrungsmittel, so z. B. von Reis bewirkten Vergiftungen. Mit Genugtuung konnte er konsta­tieren, daß auf seine Anregung hin vor nunmehr 12 Jahren heute fast überall der gesundheitlich ge­wiß bekömmliche, ja nährkräftige reine ungebläute Zucker zu haben ist und der Gebrauch des schädlichen gebläuten Zuckers, besonders in Oesterreich sehr zu­rückgegangen ist. Hierauf wandte sich Gustav Jäger der Kupferung der Reben zu und wies an Hand wissenschaftlicher Feststellungen auf das bestimmteste nach, daß das Kupfern entschieden die Güte der Trauben beeinträchtigt und zweifellos als eine zwar sehr langsam und nicht so offenkundig etwa ähn­lich wie das Arsenik bei den Arsenikessern wir­kende Vergiftung anzusehen sei. Jäger führte hiefür zum Beweis an, daß gespritzter Stuttgarter Trol- linger bei neutral-analitischer Untersuchung eine Ver­ringerung der Nervenzeit von 45 Prozent, »«gespritzter Stuttgarter Trollinger dagegen eine Belebung von über 30 Prozent erzeugt. Der Vorsitzende, Prof. Dr. Endriß, sprach unter lebhaftem Beifall der An­wesenden dem hochverehrten Meister in der Beweg­ungZurück zur unverfälschten Natur" den Dank der Versammlung aus.

Stuttgart, 13. Okt. Die Diözesansynode der Stadt Stuttgart hat es als ein Bedürfnis bezeichnet, daß gegen die Auswüchse des Kinematographen von kirchlicher Seite aus etwas geschehen müsse. Hierzu ist übrigens zu bemerken, daß die hiesigen Kinematographentheater und auch diejenigen in den anderen Städten des Landes sich mit ihren Vor­stellungen in gewissen Grenzen zu halten suchen, so daß man eigentlich nicht sagen kann, von ihnen gehe Aergernis aus.

Stuttgart, 16. Okt. Für eine gute Sache tritt im württ. Wochenblatt für Landwirtschaft Landwirt­schaftslehrer Haag-Ulm ein. Er verweist darauf, wie unangenehm das Fehlen von Badeeinrich­tungen auf dem Lande während des letzten heißen Sommers empfunden worden sei und wie oft der leider unerfüllbare Wunsch auftauchte, wer doch jetzt ein Bad nehmen und den ganzen Körper schnell im kühlen, erquickenden Naß von Staub und Schweiß befreien könnte. Er redet dann der Einrichtung zweckmäßiger Bade- und Duscheeinrichtungen das Wort.

Stuttgart, 16. Okt. Eine Versammlung des Vereins für Zeppelinfahrten hat sich für die bald­möglichste Erstellung einer Luflschiffhalle auf Stutt­garter Gebiet ausgesprochen und die Stadtverwaltung um Einleitung der notwendigen Schritte gebeten.

Friedrichshafen, 16. Okt. Die bisherigen Abnahmefahrten des neuen Zeppelin-Militärluftschiffs haben ein befriedigendes Resustat ergeben. Es ist nur noch eine Dauerfahrt vorzuführen, die aus prak­tischen Gründen von Baden-Oos vorgenommen werden soll. Zu diesem Zweck wird sich die mili­tärische Abnahmekommission auf dem Luftweg nach Oos begeben.

Friedrichshasen, 16. Okt. Wie mitgeteilt wird, ist soeben nach Fertigstellung des Zeppelin- Luftschiffes für das Heer der Neubau eines Zeppe­lin-Luftschiffes, eines Ersatzbaues für das bei Düsseldorf zerstörte PassagierluftschiffDeutschland" in Angriff genommen worden. Das Luftschiff ist das 11. Schiff, das nach dem SystemZeppelin" erbaut worden ist. Die Reste der zerstörtenDeutsch­land" finden bei dem Bau dieses Luftschiffes Ver­wendung. Als Termin für die Fertigstellung des I- 2 11" ist der Januar 1912 anzusehen.

Tübingen, 16. Oktober. Die erste nationale Polizeihundeprüfung am nächsten Sonntag in Tübingen verspricht ein sportliches Ereignis ersten Ranges zu werden. Es sind jetzt schon 18 Polizei­hunde reinster Rasse und bester Tressur angemeldet, so aus Würzburg, Hamburg, Köln, Frankfurt, Mül­heim, Pforzheim, Iserlohn. Von Stuttgqxt kommen der berühmte Sherlok und Lux.

Göppingen, 16. Okt. Eine vom Komitee zur Bekämpfung der Schundliteratur veranstalteteRaz­zia" nach Schundschriften in den hiesigen Schulen zeitigte ein recht interessantes Ergebnis. Die Lehrer forderten ihre Schüler ^uf, ihre häusliche Lektüre abzugeben und dafür gute Schriften in Empfang zu nehmen. Unter 500 abgegebenen Büchern konnten