drastisch-jovialen Ausruf Luft machte: Hic Rhodus, hic saltal Dieser Rote, dieser Hopf! Wie man sieht, war der Ton zwischen gereizten Ministern und reizbaren Abgeordneten zur selbigen Zeit im Halbmondsaal noch erheblich gemütlicher als heutzutage. Auch die Politiker hatten dazumal noch weniger Nerven und mehr Humor.
Cannstatt, 29. Mai. Gestern nachmittag hat ein Bursche das Pferd seines Dienstherrn, auf dem er auf dem Cannstatter Wasen ritt, mit dem Peitschen- stock derart mißhandelt, daß es beim Publikum allgemein Aergernis erregte. Einem Schutzmann gegenüber, der dem rohen Burschen das Pferd abnahm, und ihn nach der Wache verbrachte, leistete er den heftigsten Widerstand und beschimpfte ihn in der gemeinsten Weise. Erst als noch ein weiterer Schutzmann zu Hilfe kam, gelang es, den Rohling fortzubringen. Der Vorgang verursachte natürlich einen großen Auflauf von Menschen, die an dem rohen Benehmen des Burschen Aergernis genommen und für die Schutzleute Partei ergriffen haben bezw. ihnen beigestanden sind. Das Pferd wurde seinem Eigentümer übergeben.
Cannstatt, 30. Mai. Der „jüngste Flieger" Steng von hier stieg gestern früh 5.15 Uhr mit seinen zwei Kindern und einem Monteur mit seinem selbst gefertigten Zweidecker auf. Er umkreiste die Gegend von Untertürkheim, Hedelfingen, Obertürk- heim und kehrte dann im Gleitflug zur Halle zurück, wo er glatt landete.
Tübingen, 29. Mai. Die Universität hat auch in diesem Semester eine steigende Frequenz gegen das vorige Sommersemester zu verzeichnen. Ueber 2100 Studenten sind eingeschrieben worden. Das offizielle Resultat steht noch nicht fest.
Iesingen, OA. Kirchheim, 26. Mai. Am Montag nachmittag 4 Uhr erfolgte die Einsetzung des neugewählten Orisvorstehers Hrn. Fr. Günthner von Nonnenmiß-Wildbad durch Hrn. Regierungsrat Gänger in Anwesenheit beider Kollegien im Saale des festlich geschmückten Rathauses. Mit Einbruch der Dunkelheit brachte der Gesangverein dem neuen Schultheißen ein wohlgelungenes Ständchen.
Trossin gen, 29. Mm. Die Einweihung des vom Schwäbischen Albverein auf dem 977 Meter hohen Lupfen errichteten Aussichtsturm fand gestern mittag 1 Uhr bei schönstem Wetter unter enormer Beteiligung statt.
Ludwigsburg, 29. Mai. Ein geriebener Gauner war bei einem hiesigen Hotelier in Begleitung zweier Damen abgestiegen; er hatte sich als Baron v. Rothschild aus Hamburg ausgegeben. Beim Bezahlen seiner Zeche übergab er einen Scheck von 600 Mk. auf eine Londoner Bank und ließ sich den Rest mit 500 Mk. bar herausbezahlen. Dasselbe Manöver machte er am nächsten Tage in einem Hotel in Baden-Baden. Erkundigungen, die der hiesige Wirt über die Echtheit des Schecks anstellen ließ, ergaben, daß der Scheck gefälscht war. Der Gauner wurde in Wolfach verhaftet.
F reudenstadt , 30. Mai. Aus einem Schranke in der Wohnung des Hrn. Mayer z. „Kronprinzen" wurden 2400 ^ gestohlen. Der aus Stuttgart
Kamilla begriff nur das eine, das immer wieder ^ in ihre Gedanken trat: Sie war allein, sie hatte kein ? anderes Herz mehr, an das sie sich flüchten konnte, keine Liebe, die für sie sorgte und mit ihr litt — sie war allein!
Doch nein! Sie war ja Mutter! Mit einem: Male versanken alle dunklen Gedanken in einer Em- i pfindung maßloser Glückseligkeit, und die Vergangen- j heit, ja die Gegenwart erblaßte in dem strahlenden Lichte, daß der Gedanke an die Zukunst in Kamillas Herzen warf. Nein, sie würde nicht mehr allein sein, weniger, als sie es mit Mutter Maria gewesen war. Denn sie hatte ein Geschöpf, das ihrer Liebe anver- traut war, für das sie sorgen durfte, das in seiner völligen Hilflosigkeit ganz mit ihrer Sorge verwachsen war. Wie sie selbst ein Kind gewesen, das sich im Glanze der mütterlichen Sorge sonnen durfte, so war sie jetzt selbst eine Mutter, die das Glück hatte, geben zu dürfen.
Kamilla lächelte in ihrer stillen, tiefen Glückseligkeit. Und ohne daß sie es wollte, beinahe ohne sich dessen bewußt zu sein, regte sich in ihrem Herzen eine Dankbarkeit gegen Gott und zugleich gegen den Vater des Kindes, und plötzlich stand ihr das Bild vor ihren Augen, wie Bertram draußen mit dem Wellentode rang. Alle ihre Nerven spannten sich bei diesem Gedanken an und der Gatte füllte plötzlich wieder ihr ganzes Denken aus.
Er hatte sie belogen, betrogen, bestohlen. Er hatte ihr das Lebensglück geraubt, hatte ihr den Glauben an die Schönheit des Lebens genommen, hatte den
herbeigerufene Polizeihund Sherlock verbellte einen Nachbar, auf den vorher schon der Verdacht gefallen war. Er wurde verhaftet, das gestohlene Geld wurde aber nicht gesunden.
Ellwangen, 29. Mai. Die vom K. Medizinalkollegium in Stuttgart wegen der Wurstver- giftungsaffären angestellten Erhebungen haben ergeben, daß der Tod der in Aalen und Rosenberg gestorbenen Personen auf den Genuß von Leberwurst zurückzuführen sei. In der Wurst und in den Leichenteilen seien die gleichen Bazillen gefunden worden.
Horb, 29. Mai. Ein hier aufbewahrtes herrenloses Kind, das im Zug Eutingen—Horb vorgefunden wurde, ist von Vaihingen a. F. aus requiriert und dorthin abgeschickt worden.
Neckargartach, O./A. Heilbronn. 30. Mai. Das gestrige Gewitter hat großen Schaden in den Fluren angerichtet. Es kam ziemlich viel Hagel, auch hat das Hochwasser viel Erde weggeschwemmt. — In Klingenberg schlug der Blitz in die Scheuer des Bauern Rügner ein. Die Scheuer nebst dem Heu und Stroh, sowie der Stall sind abgebrannt.
Mergentheim, 30. Mai. Ein schweres Unwetter, verbunden mit Wolkenbruch und Hagelschlag, hat gestern abend großen Schaden in der Umgegend, namentlich im benachbarten Baden verursacht. In Grünsfeld wurde eine Mühle eingerissen. Der Besitzer und drei weitere Personen sind ertrunken. In Paimar (Baden) wurden 6 Häuser von den Fluten weggerissen. 12 Personen, darunter eine ganze Familie, sind ertrunken. Nach Grünsfeld sind von Würzburg zwei Kompagnien zur Hilfeleistung abgegangen.
(LandesProduktertbSrse Stuttgart). Bericht vom 29. Mai. Inländische Ware kommt kaum mehr in Betracht und es sind die Vorräte darin um diese Zeit noch selten so klein gewesen, wie dieses Jahr. Auf heutiger Börse waren die Umsätze sehr klein und erstreckten sich solche nur auf Deckung des nächsten Bedarfes. Die nächste Börse findet am Dienstag, 6. Juni statt. — Mehlpreise per 100 Kilogr. inkl. Sack Mehl Nr. 0: 33.— °« bis 34.— «4L, Nr. 1: 82.— «4t bis 33 — «4L, Nr. 2: 3l.— -4L bis 32.— Nr. 3: 29.60 bis 30.50 -4L, Nr. 4: 26.—-4L bis 27.— «« Kleie 9.50 -4L bis 10.— -4L (ohne Sack netto Kasse).
Kus Slaöt. Bezirk unS Umgebung.
Seine Majestät der König hat die erledigte Straßenbauinspektion Calw dem etatsmäßigen Regierunqsbaumeister, titulierten Bauinspektor Schaal, Kollegialyilfsarbeiter bei der Ministerialabteilung für dos Hochbauwesen, übertragen.
Neuenbürg, 29. Mai. Der Verschönerungsverein Stuttgart läßt zur Feier seines 50jährigen Bestehens, auf welches er in diesem Jahre zurückblickt, am Hasenberg oberhalb des Westbahnhofs die sogen. Rolenwald-Anlage erstellen. In dieser neuen Schöpfung soll ein Buntsandstein-Findling Aufstellung finden, auf dessen Vorderseite ein Broncemedaillon mit den Bildnissen der Majestäten zugleich als Erinnerung an die silberne Hochzeit des Königspaares eingelassen werden soll. Dieser Findling ist in den letzten Wochen im Forstbezirk Neuenbürg ausgesucht
und durch Dobler Steinhauer an den Weg geschafft worden. Es ist ein gewaltiger, pyramidenförmig sich zuspitzender Felsblock von über 4 m Höhe, unten etwa 2,5 m Breite und 1—4'/-m Stärke; derselbe ist durch einen von Natur vorhandenen, sockelartigen Ansatz zu dem bezeichneten Zweck hervorragend geeignet. Sein Gewicht beträgt über 300 Zentner und 12 Pferde waren nicht imstande, den auf eine eiserne Rolle verladenen Stein auf einem Waldweg von der Stelle zu bringen. Der Stein ist nun samt der Rolle mittelst Winden auf starke Dielen gestellt und wird auf letzteren gegenwärtig bis zur Dobel- Höfener Poststraße fortbewegt; man hofft ihn bis Donnerstag oder Freitag dieser Woche auf dem Hauptbahnhof in Neuenbürg zur Verladung bringen zu können. Möge er glücklich an seinem Bestimmungsort in der Residenz landen und in seiner imposanten Mächtigkeit eine Zierde der neuen Anlagen bilden! v. 6.
Neuenbürg. (Theater im „Anker".) Wir machen darauf aufmerksam, daß am morgenden Donnerstag den 1. Juni uns ein äußerst seltener Genuß bevorsteht. Im Saale des Gasthauses zum „Anker" findet das erste Gastspiel des de Nolle« schen Novitätenensembles statt. Zur Aufführung gelangt Ludwig Thoma's 3aktige Komödie „Moral". Dem Ensemble soll ein sehr guter Ruf vorausgehen, der Leiter desselben ist vielleicht vielen unserer Theaterbesucher noch vom vergangenen Sommer her bekannt. „Moral" ist dasjenige Stück, das zuerst überall verboten, schließlich aber noch die meisten Aufführungen an allen deutschen Bühnen erlebte. Wer den „Simplizissimus" kennt, dem wird ein Name wie Ludwig Thoma kein fremder sein. Wünschen wir einer Direktion, die uns eine solche Novität beschert, ein ausverkauftes Haus.
Wildbad, 30. Mai. Am letzten Sonntag hat unsere Bergbahn 2144 Personen befördert und eine Einnahme von 1020 Mk. erzielt.
-ü- Herrenalb, 30. Mai. Die Albtalbahn hat und bringt mit ihren schrankenlosen Bahnübergängen fortgesetztes Unglück. Der jüngste Unfall, glücklicherweise ohne Verlust von Menschenleben, ereignete sich vor der Kullenmühle. Eine fahrbare Motorsäge des Schreinermeisters K. Eilbert wurde beim Kreuzen des Geleises von ihrer Fahrtrichtung abgelenkt, als ein Zug der Albtalbahn heran- nahte. Es gelang zwar, einen Zusammenstoß zu verhüten; dabei stürzte jedoch die Maschine den Hang hinab und überschlug sich mehrmals. Sie wurde so stark beschädigt, daß die Reparaturkosten auf 1200 Mark geschätzt werden.
In Enztal ist ein in einem dortigen Gasthause übernachtender Hausierer über Nacht plötzlich gestorben, nachdem er abends noch ganz wohl war. Ein Herzschlag wird den raschen Tod herbeigeführt haben.
In Weiler bei Ellmendingen brach Samstag abend im Anwesen des Landwirts W. Kern Feuer aus, dem die Scheuer und ein Schopf zum Opfer fielen. Der Schaden beträgt über 6000 Mk. Man vermutet Brandstiftung.
Tod Mutter Marias verschuldet und sie so elend und arm gemacht.
Aber Kamilla liebte Bertram trotzdem,' vielleicht mehr als je, denn er war der Vater ihres Kindes! Alle Liebe, die diesem kleinen jungen Wesen zufloß, teilte sich dem Manne mit, der ihr dies Glück gegeben. Ihr Glaube an den Sieg des Guten, an das Edle im Menschen war so stark, daß sie Bertram nicht verloren geben konnte. Mochten ihn die andern verachten — sie glaubte doch noch an ihn, glaubte an eine Zukunft, in der er sich wandeln könne und müsse.
Draußen hatte sich inzwischen der Sturm völlig gelegt. Es begann Tag zu werden — ein nebliger, grauer, düsterer Tag.
Die weise Frau, in der Meinung, die Wöchnerin schlafe, ging auf den Zehenspitzen hin und her. Das junge Weib aber lag mit offenen Augen und fieberte.
„Ist Bertram zurück?" fragte sie leise.
„Ich weiß es nicht," antwortete die Frau. „Man hat ihn nicht gesehen."
„Ist Joseph zurück?"
„Man sah ihn nach seiner Hütte gehen."
Kamilla stutzte. — Wenn er da ist, sage ihm,
ich ließe ihn bitten, sofort zu mir zu kommen-
sofort! Hörst du?"
„Gewiß — ich will eilen und ihn gleich mitbringen."
Zehn Minuten verrannen.
Endlich kam die Frau zurück, hinter ihr schritt Joseph. Er ging schwerfällig wie ein Trunkener und man sah, daß er sich vor Erschöpfung kaum
auf den Beinen zu Hallen vermochte. Der Blick Kamillas flog ihm entgegen. Sie war so aufgeregt, daß sie nicht zu sprechen vermochte.
„Ich habe ihn nicht gesehen," sagte er stotternd. ! „— nicht gesehen — aber doch eine Spur von
ihm? Hast vielleicht schon erfahren, daß er zurückgekehrt oder glücklich drüben angelangt ist — oder — so rede doch, Joseph, um aller Heiligen willen, rede!" —
j Joseph sah ratlos auf die Frau.
- „Sage ihr doch die Wahrheit," flüsterte ihm diese ! ins Ohr, „es ist vielleicht das beste!" j Da legte Joseph die ganz durchnäßte Mütze Ber- trams aufs Bett.
j „Das ist — alles, was — ich — gefunden habe und — und — Planken von seinem neuen Boote."
Und schluchzend wie ein kleiner Knabe floh der ^ Fischer, um nicht sehen zu müssen, wie diese Nach- ! richt auf Kamilla wirkte.
! Mit fliegendem Atem hatte sie zugehört. Sie riß
! die Mütze an ihre Lippen und küßte und koste sie, i als sei sie ein lebendiges Wesen, und wimmerte s dann nur immer leise vor sich hin. Sie sprach un- j ausgesetzt, schnell, fließend, wie es sonst nicht ihre j Art war, aber was sie sagte, war unverständlich, i Die Frau rief sie bei Namen und suchte ihr j Gedächtnis zu wecken, fassungslos über den Anfall.
! Aber Kamilla starrte mit großen Augen ins Leere und sprach immerfort weiter, immerfort. —
! (Fortsetzung folgt.)
Redaktion, Druck und Verlag von E. Meeh in Neuenbürg.