Zweites

s Der «nztäler.

^ 18«.

Neuenbürg, Freitag den 16. November 1906.

64. Jahrgang.

RunSschau

München, 14. Nov. Als der kaiserliche Wagen am Marienplatz einbog, brach das Podium der von der Jungmannschaft der Turner gestellten Leiter­pyramide zusammen. Ein Zuschauer, ein 17jähriger junger Mann, wurde von einem Brett niederge­ichlagen und erlitt außer einer schweren Gehirn­erschütterung einen Schädelbruch.

40000 -/-L hat es sich die Stadt München kosten lassen, um zu dem Einzug des Kaiser- paares ein besonders festliches Straßenbild zu schaffen. Mit der Stadt haben private Besitzer ge- wetteifert in der Ausschmückung der Straßen Mün­chens, die nun, da sich die gesamte Künstlerschaft der Hauptstadt daran beteiligte, etwas ganz Eigen­artiges, Geschlossenes bot. Das wichtigste aber war, daß der Kaiser eine Leistung der modernen Kunst zu sehen bekam, die ja gerade in München die Hauptwurzeln ihrer Kraft hat, die aber bis heute vergebens an die Tore des preußischen Konigshofes pochte. Ihren Siegeszug hat das nicht aufgehalten, weil die moderne Kunst nach Abstreifung mancher Schlacken, etwas geworden ist, das sich sehen lassen kann.

Das große Los der Preußischen Klassen­lotterie fiel auf Nr. 49 625.

Berlin, 14. Nov. In der vergangenen Nacht wurden hier 5 Geldschrankeinbrecher verhaftet. Es handelt sich um 4 entlaufene Fürsorgezöglinge, die unter der Leitung eines fünften gewerbsmäßigen Verbrechers standen.

Berlin, 15. Nov. DerLok.-Anz." meldet aus Wilhelmshaven: Die Aussperrung von 1000 Arbeitern des Baugewerbes wurde aufgehoben. Die Arbeitnehmer sind unterlegen.

Altona, 13. Nov. Der Raubmörder Rücker, der den Zahnarzt Claussen im Eisenbahnwagen ermordet hat, ist, wie schon kurz gemeldet, heute früh festgenommen worden. Man holte ihn in der Frühe um 6 Uhr aus dem Bett heraus. Die Ver­nehmung ergab, daß Rücker den Zahnarzt Claussen gar nicht gekannt hat, und daß es ihm nur darauf ankam, sich Geld zu verschaffen. Ein Eisenbahnraub sei ihm dazu am bequemsten erschienen. Rücker hat das Beil, mit dem er den Mord verübte, 5 Tage vorher gekauft und es unter seiner Kleidung ver­borgen getragen. Am Samstag nachmittag begab sich Rücker nach dem Altonaer Hauptbahnhof. Er sah dort Claussen mit einer Handtasche vor sich gehen und in einem Abteil zweiter Klasse einsteigen. Er kaufte sich darauf auch eine Fahrkarte bis Oth­marschen und stieg zu Claussen in das Abteil. Claussen bekümmerte sich anfangs gar nicht um ihn und las eine Zeitung. Von Othmarschen ab sind beide in dem Abteil allein gewesen. Als der Zug den Bahnhof Othmarschen verließ, zog Rücker das Beil hervor und führte gegen den nichts ahnenden Claussen einen furchtbaren Hieb, der den Hut durch­schlug und Blut und Gehirn des Opfers umher­spritzen ließ. Auf den ersten Schlag fiel Claussen zurück, worauf der Mörder in blinder Wut weiter auf ihn einschlug, bis der Zahnarzt zu Boden sank. Beim Leeren der Taschen seines Opfers fand Rücker etwa 100 ^ in Clauffens Geldtasche; außerdem raubte er ihm Uhr und Kette. Inzwischen war der Zug auf dem Bahnhof Flottbeck angekommen, wo Rücker aus dem Zug sprang und bei dem dienst­tuenden Bahnsteigbeamten eine Fahrkarte nachlöste. Später ist er nach Altona hineingegangen. Die Geldtasche leerte er in einer Bedürfnisanstalt von St. Pauli. Eine nochmalige Haussuchung in der Wohnung des Raubmörders Rücker hat die Uhr und hie Kette des ermordeten Zahnarztes Claussen und 15 Bargeld zutage gefördert. Auch wurde das Beil gefunden, mit dem die Tat verübt worden ist. Es ist nach dieser neuen Lesart das Küchenbeil der Wirtsleute des Mörders. Die vermißte Handtasche, die der Ermordete mit sich geführt hatte, wurde heute nachmittag im Altonaer Stadtpark aufgefunden.

Blankenese, 14. November. Heute nachmittag fand hier eine Trauerfeier für den ermordeten Zahnarzt Claussen statt.

DasBert. Tagebl." meldet aus Dresden: Der Massenmörder Dietrich, dem 9 Mordtaten zur Last gelegt werden, ist jetzt als geisteskrank dauernd in der Jrrenabteilung des Waldheimer Zuchthauses untergebracht worden.

Nürnberg, 12. Nov. In einem erstklassigen Hotel sind zwei bestes Französisch sprechende Hotel- diebe, angeblich Engländer verhaftet worden. Sie hatten nachts versucht, verschlossene Zimmer durch Herumdrehen des Schlüssels von außen zu öffnen. Dieser Versuch war in keinem Falle gelungen.

Bingen, 10. Nov. Gegen die Schnakenplage, den wunden Punkt vieler auf Fremdenverkehr an­gewiesenen Orte des Rheinlands, soll nun auch hier der Vernichtungskampf, und zwar mit Feuer und Petroleum, ausgenommen werden. Außerdem sind schon seit Jahren Bestrebungen im Gange, die Sumpfstrecken auf beiden Seiten des Rheins, die der Bildung der Insekten besonders förderlich sind, aus­zutrocknen.

Ein schottischer Mechaniker hat dem englischen Kriegsminister das Modell eines Magazinge­wehres vorgelegt mit dem 28 Schüsse in der Mi­nute abgefeuert werden können. Das Feuer wird durch eine elektrische Vorrichtung geregelt. Die Tragweite der Waffe wird auf 3100 Meter ange­geben. So meldet derElectrician" aus London in Karl Stangens Verkehrs-Zeitung.

Rom, 14. Nov. Am Eingänge eines Cafes legte heute abend ein bisher unermittelter Mann eine Bombe nieder. Diese explodierte einige Minuten später, wodurch 2 Personen verletzt wurden.

New-Jork, 13. Nov. Das Eisenbahnunglück bei Woodville (Indiana) ist das grauenhafteste seit langen Jahren. Von 165 Passagieren, fast alle Einwanderer, wurden 47 getötet und 40 schwer ver­letzt. Von den Getöteten waren 30 lebend unter den Zugtrümmern eingeklemmt und mußten die Flammen, welche sie töteten, nahen sehen. Infolge der großen Hitze und der Zugtrümmer war es dem Personal unmöglich, Rettung zu bringen. Als die Verletzten im Chicago-Bahnhose anlangten, gab es herzzerreißende Szenen dort. Viele Verwandte war­teten, namentlich russische Juden, wovon einer, Chiza aus Warschau, irrsinnig wurde, als seine,Frau erblindet auf einer Tragbahre aus dem Zuge ge­tragen wurde. Weitere Nachrichten melden, daß die Zahl der Toten sich auf über 100 beziffere.

Mit einer verhältnismäßig sehr kleinen Truppe hat ein Bur namens Ferreira einen Putsch­versuch gemacht und einige englische Polizeistationen in Südafrika überfallen und entwaffnet. Nunmehr ist aber eine größere Truppenmacht gegen ihn auf- geboten, welche die Ferreiraischen Leute zersprengen wird. Die von England unterjochten Buren haben vernünftigerweise sich diesem Aufstand nicht ange­schlossen. Immerhin bildet dieser Putschversuch eine erregte Mahnung an die englische Regierung der Kapkolonie, die unterworfenen Buren zufrieden zu stellen. Falls England in einen größeren Krieg anderwärts verwickelt würde, könnte ein für Eng­land sehr gefährlicher größerer Burenaufstand aus­brechen.

23 Jahre Arbeiterfürsorge.

Der 17. November 1906 ist ein wichtiger Ge­denktag der innern Entwicklung Deutschlands, denn an diesem Tage wurde vor 25 Jahren der Grund gelegt zu unserer sozialen Gesetzgebung, die heute vielen Millionen, weit über die Kreise der eigent­lichen Arbeiterbevölkerung hinaus, zugute kommt und als die erste ihrer Art in der Welt das Vorbild für alle derartigen Bestrebungen in anderen Ländern geworden ist. Dieses große Werk ist hervorgegangen aus der freien Entschließung Kaiser Wilhelms des Großen, der in seiner Botschaft an den Reichstag vor 25 Jahren es für seinekaiserliche Pflicht" er­klärte,dein Reichstag die Förderung des Wohles der Arbeiter von neuem ans Herz zu legen", und den Wunsch aussprach, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen,dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschafteil feines inneren Friedens und den Hilfs­bedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Bestandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinter­

lassen." So wird die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches für alle Zeiten ein ragendes Denkmal bilden der Arbeiterfürsorge des sozialen Kaisertums der Hohenzollern.

Wie großzügig dieser Plan staatlicher Arbeiter­fürsorge durch Kaiser Wilhelms großen Berater, den Fürsten Bismarck, in Uebereinstimmung mit ihm entworfen worden ist, ergibt sich am besten daraus, daß die kaiserliche Botschaft vom 17. Nov. 1881 sich bereits mit dem ganzen Gebiete der heutigen Arbeiterversicherung, der Kranken-, Unfall-, Jnvaliditäts- und Altersversicherung befaßt, so daß die 25 Jahre sozialgesetzgeberischer Tätigkeit, die hinter uns liegen, nur dazu gedient haben, das in jener Botschaft aufgestellte kaiserliche Programm zur Ausführung zu bringen. Erst in der letzten Zeit ist der ursprüngliche Plan Kaiser Wilhelms des Großen durch den Gedanken einer Witwen- und Waisenversicherung erweitert worden, dessen Aus­führung der Zukunft aber noch Vorbehalten bleibt.

Das erste dieser Arbeiterschutzgesetze, das Krankenversicherungsgesetz, trat am 1. Dezbr. 1884 in Kraft und wurde durch die Novelle vom 10. April 1892, sowie durch das Abänderungsgesetz vom 25. Mai 1903 in wirksamer Weise umgestaltet, so daß sich seine Segnungen gegenwärtig auf über 11 Millionen Menschen erstrecken. Die Kassen­beiträge dürfen höchstens 4 v. H. des durchschnitt­lichen Taglohnes erreichen. Ein Drittel der Bei­träge ist von dem Unternehmer zu leisten. Die jährlichen Aufwendungen haben im Jahre 1901 194 Millionen Mark erreicht und sind jährlich um wenigstens 25 Millionen Mark gestiegen.

Während bei den Krankenkassen Arbeiter und Arbeitgeber im bestimmten Verhältnis zu den Kosten herangezogen werden, werden diese bei der Unfall­versicherung von den zu Berufsgenossenschaften zusammengeschlossenen Unternehmern getragen, denen dafür auch die naturgemäße Berechtigung zur Ver­waltung der Berufsaenossenschaft zusteht. Auch hier ist durch eine fortgesetzte Weiterarbeit an dem ersten, im Jahre 1884 in Kraft getretenen Gesetz, das sich nur auf die eigentliche Industrie und das Bau­gewerbe erstreckte, der Kreis der Versicherten immer weiter gezogen worden, so daß seine Vorteile gegen­wärtig mehr als 20 Millionen Personen zugute kommen. Diese bestehen in freier ärztlicher Behand­lung im Anschluß an die Krankenversicherung, einer für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit zu gewähren­den Rente für die Angehörigen und einem ange­messenen Sterbegeld. Gegenwärtig befindet sich noch der größere Teil des Handwerks, des Kleingewerbes, sowie die Hausindustrie und das Handelsgewerbe, wegen der sich dabei ergebenden Schwierigkeiten außerhalb der Versicherung; jedoch wird an deren weiterem Ausbau dauernd gearbeitet. Die von den Arbeitgebern aufzubringenden finanziellen Opfer be­laufen sich auf jährlich etwa 150 Millionen Mark.

Die nach langen Beratungen im Parlament nur mit geringer Mehrheit beschlossene Alters- und Jnvaliditätsversicherung, die am 1. Januar 1891 in Kraft trat, wurde neun Jahre später wesentlich erweitert und fand damals eine ein­stimmige Annahme. Versicherungspflichtig sind nach diesem Gesetz alle Lohnarbeiter vom vollendeten 16. Lebensjahr mit einem Jahreseinkommen bis zu 2000 ^//L Versicherungsberechtigt sind auch noch eine Anzahl angestellter und Hausgewerbetreibender mit einem etwa höherem Einkommen. Invaliden­rente erhält jeder dauernd Arbeitsunfähige, Alters­rente jeder Versicherte, der über 70 Jahre alt ist und eine Wartezeit von 1200 Wochen hinter sich hat. Unter gewissen Umständen, wie Verheiratung bei weiblichen Versicherten, Empfang einer höheren Unfallrente usw. wird ein Teil der eingezahlten Beiträge zurückgezahlt. Die Mittel zur Jnvaliditäts- und Altersrente werden von Arbeitgebern, Arbeit­nehmern und dem Reich gemeinschaftlich aufgebracht. Das Reich trägt außerdem die Kosten für das Reichsversicherungsamt und besorgt durch die Post­ämter den Verkälts der Versicherungsmarken und die Auszahlung der Renten. Die Verwaltung er­folgt durch besondere Versicherungsanstalten, die Versicherten haben ebenso wie bei der Unfall-