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Stuttgart, 18. Dez. Die Kammer der Abgeordneten setzte in ihrer heutigen Sitzung die Beratung über die Volksschulnovelle mit einer derartigen Umständlichkeit fort, daß jede Hoffnung, die Volksschulnovelle werde noch vor Weihnachten unter Dach und Fach gebracht werden können, endgiltig aufgegeben werden muß. In erster Linie galt es heute die obligatorischen Unterrichtsfächer: Geschichte, Erdkunde, Naturgeschichte und Naturlehre, sowie den hiezu vorliegenden Antrag Hildenbrand auf Hinzufügung von Gesetzeskunde zu. erledigen. Die Mehrheit war wohl' darin einig, daß dieser Antrag einen guten Kern enthalte,' daß aber die Einschaltung eines besonderes Lehrfachs für Gesetzeskunde, zumal da das Notwendige jetzt schon in den anderen Fächern hierüber gelehrt werde, einerseits an die Bildung der Lehrer zu hohe Anforderungen stellen und andererseits in die Jnteressen- lage der Kinder nicht Hineinpassen, zudem aber auch noch die Gefahr bieten würde, daß die Politik in die Schule getragen werde. So wurde dieser sozialdemokratische Antrag abgelehnt, dagegen im Einklang mit der Kommission ein Antrag Haußmann angenommen, den Minister des Kirchen- und Schulwesens zu ersuchen, im Ber- ordnungsweg dahin zu wirken, daß in der Volksschule in einer dem Fassungsvermögen der Kinder entsprechenden Form auf die Bürgerkunde, d. h. auf die Belehrung über die wichtigsten Einrichtungen des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens Bedacht genommen wird. Bezüglich des Turnens für die Knaben herrschte vollständige Einigkeit für dessen Wert als eine Ausbildung des Körpers, eine Vorbildung für den Militärdienst und ein Ersatz für den letzteren, dagegen fand ein Antrag Hillwubraud, auch für die Mädchen das Turnen obligatorisch zu machen, nicht die Zustimmnng des Hauses. Die Notwendigkeit der weiblichen Handarbeiten, sofern für letzteren Unterricht nicht anderweitig gesorgt ist, wurde allgemein anerkannt. Damit war der Abs. 2 des Art 1 enthaltend die obligatorischen Lehrgegenstände, erledigt. Nun entstand aber ein Streit darüber, ob auch freiwillige Unter- lichtsgegenstände eingeführt werden können, also 'Unterrichtsgegenstände, zu deren Einführung die Gemeinden nicht verpflichtet sind. Schmidt- Maulbronn sprach sich mit Rücksicht auf die übrigen Lehrfächer, auf deren Kosten die fakultativen gelehrt werden würden, gegen alle freiwilligen Unterrichtsgegenstände aus. Sowohl der Minister v. Weizsäcker, als auch die Abgg. Gröber, Hildenbrand u. a. legten dar, daß ein derartiger Antrag einen Rückschritt bedeute, indem der Schulverwaltung die Möglichkeit genommen werde, wenn in einer Gemeinde das Bedürfnis für irgend einen fakultativen Lehrgegenstand sich Herausstellen sollte, diesen Gegenstand lehren zu lassen. Das Hans sprach sich für den Entwurf aus, nachdem der Minister noch erklärt hatte, daß die Kinder zur Teilnahme an den fakultativen Fächern nicht verpflichtet sind, daß sie aber, sind sie einmal darin eingeführt, dem Unterricht auch folgen müssen. Den Eltern soll jedoch das Recht Vorbehalten sein, die Kinder aus dem fakultativen Unterricht heraus zu nehmen. Als einen solchen freiwilligen Unterrichtsgegenstand sieht der Entwurf den Handfertigkeitsunterricht für die Knaben vor, der Auge und Hand für bestimmte im täglichen Leben notwendige Fertigkeiten schulen solle und durchaus keine Handwerker herausbilden wolle, vielmehr aus den Bedürfnissen für das praktische Leben herausgewachsen sei. Hier mußte die Sitzung abgebrochen und die Fortsetzung der Beratung auf morgen verschoben werden.
Stuttgart, 19. Dez. In der heutigen Sitzung der Kammer der Abgeordneten spann sich die Beratung über den Hanüfertigkeitsunter- richt noch über den ganzen Vormittag hin. Prälat v. Demmler und Abgeordneter Kleemann sprachen sich sehr lebhaft gegen den Unterricht aus. Kultminister v. Weizsäcker sagt, er wolle ein für allemal die Befürchtung zerstreuen, als ob man daran denke, das Fach jemals obligatorisch zu machen. Auf eine Anfrage von Hildenbrand erklärte der Minister noch, es sei selbstverständlich, daß das Fach nur außerhalb der gewöhnlichen Schulzeit gegeben werden dürfe. Nach Annahme
eines Schlußantrags wurde der Kommissions antrag, den Handfertigkeitsunterricht unter die freiwilligen Lehrgegenstände aufzunehmen, angenommen. Dann gelangte noch ein Antrag Sommer, der gemäß einer Petition des württ. Obstbauvereins die Obstbaukunde ebenfalls den freiwilligen Lehrgegenständen angliedern will, zur eingehenden Beratung. Völlige Einigkeit herrschte über den Wert der Obstbaukunde aus volkswirtschaftlichen Gründen, auch der Minister v. Weizsäcker sprach den Wunsch ans. der Sinn für den Obstbau möge in weiten Kreisen im Interesse der Gemeinde» sich zeigen. In Ueber- einstimmung mit dem Minister äußerte jedoch der Präsident der Zentralstelle, Frhr. v. Ow, eine Reihe von Bedenken. Das Zentrum, namentlich der Antragsteller, gab sich redliche Mühe, alle Bedenken zu zerstreuen, betonte namentlich, die Bedeutung der Obstbaukunde für die ländlichen Gemeinden und erreichte auch schließlich die Annahme des Antrags Sommer. Ohne Debatte fanden dann zum Schluß noch Turnen und Haushaltungskunde für Mädchen die Genehmigung des Hauses. Dann teilte der Präsident mit, der Gang der Verhandlungen nötige ihn, eine Nachmittagssitzung auf 5 Uhr anzuberaumen.
Stuttgart, 18. Dez. Die Kammer der Standeshcrren führte heute die Beratung über die Einkommensteuer vollends zu Ende. Bei Art. 50 wurde einem Wunsche des Finanzministers entsprechend, die Steuererklärungsgrenze von 2500 auf 2600 ./ti erhöht. Eine Reihe von Artikeln wurden redaktionell umgeändert, verschiedene andere erhielten ergänzende und erläuternde Zusätze, bemgl. der Frage des Steuereinzugs durch die Gemeinden, denen die Berechtigung hiezu abgesprochen wurde, wird die Regierungsvorlage wieder hergestcllt. Die Bestimmungen über das Verfahren bei eingelegter Nechtsbefchwerde erhalten eine weitergehende Präzisierung, die Strafbefugnisse der Steuerbehörde eine wesentliche Verschärfung gegenüber den Beschlüssen der II. Kammer. Bezüglich der Kosten der Steuereinschätzung wird der Regierungsentwurf hergcstellt. Der Termin, an dem das Gesetz in Kraft treten soll, wird offen gelassen. Hierauf wird noch der Entwurf eines Gesetzes belr. die Kapitalsteuer in Angriff genommen und in Art. 6, Ziffer 7, welche bestimmt, daß die Stiftungen für gottesdienstliche Zwecke steuerfrei bleiben sollen, auf den Regierungsentwurf zurückgegriffen. Nach 3^2- stündiger Sitzung wird die Weiterberatung auf morgen vertagt.
Stuttgart, 19. Dez. Die Kammer der Standes Herren beendete heute die Beratung über das Kapitalsteuergesetz, nahm bei einigen Artikeln Aendcrungen von unwesentlicher Bedeutung vor und stellte nur bei Artikel 15 Absatz 2 den Regierungsentwurf wieder her. Hierauf wurde in die Beratung über den Entwurf eines Gesetzes betreffend Abänderungen zum Gesetz vom 28. April 1873 über die Grund-, Gebäude- und Gewerbesteuer eingetreten und die Artikel 1—85 ohne Debatte erledigt. Morgen wird bie Beratung zu Ende geführt.
Stuttgart, 17. Dez. Die volkswirtschaftliche Kommission trat heute nachmittag zu einer Sitzung zusammen, um die Referate über verschiedene Eisenbahnpetitionen zu verteilen. Das neuerdings eingelaufene Projekt der Erbauung einer Bahn von Spaichingen über den Heuberg wurde dem Abgeordneten Vogler überwiesen. Ueber die Eingabe um Erbauung einer Bahn von Wurmlingen über Unterjesingen nach Herrenberg wurde der Abgeordnete Slockmayer zum Berichterstatter bestellt, über die Petition um Fortsetzung der Kocherthalbahn von Unter- grönlngen nach Wasseralfingen der Abg. Dr. Hartranft, der auch die bereits im Bau begriffene Strecke Gaildorf-Untergröningen im Referat hatte. Ueber die Projekte Rottweil- Duningen-Losburg-Freudenstadt referiert Hildenbrand, über das Projekt Vaihingen a. F.-Tübingen der Abg. Henning. Die Berichterstattung über die verwilligten Eisenbahnkredite wurde dem Abg. Stockmayer, diejenige über den Antrag Haug betr. die Errichtung einer landwirtschaft- ucheu Landeszentralkreditkasse dem Abgeordneten
Gebert übertragen. — Vor dem letzten Drittel des Januar dürfte der Landtag nicht wieder zusammentreten! es soll dann die Generaldebatte über den Etat und über die Gcmeindeordnung, sowie die Beratung der abweichenden Beschlüsse der Standesherren zur Steuerreform stattfinden. Dann soll der Landtag wieder auf einige Zeit vertagt werden, um der Finanzkommission Zeit zu geben, vollends durchzuberaten.
Stuttgart, 18. Dez. Die Gemahlin des Prinzen Max zu Schaumburg-Lippe, Olga, geborene Herzogin von Württemberg, ist von einem Knaben entbunden worden. Der Ehe des Prinzen, eines Bruders der Königin, der Rittmeister und Schwadronschef im Ludwigsburger Ulanen-Regiment ist, sind bereits zwei Söhne entsprossen.
(Korr.) Die Bürgerausschußwahlen in Stuttgart haben den radikalen Parteien eine weitere Vermehrung ihrer Sitze gebracht, so daß nunmehr auch im Bürgerausschuß die Mehrheit von der Volkspartei und den Sozialdemokraten beherrscht wird. Was dabei herauskommen wird, dürfte sich in nicht allzu langer Zeit zeigen. Der „Fortschritt auf dem Stuttgarter Rathaus/ den ein gewisses Blatt schon im vorigen Jahr angekündigt hatte, ist bisher nicht eingetreten, wohl aber sind eine Reihe von unweisen Schritten gethan worden, die den Ruhm des Stuttgarter Rathauses nicht erhöht, wohl aber den Geldbeutel der Steuerzahler belastet haben. Wir erinnern nur an den kläglich verunglückten Prozeß der Stadtverwaltung gegen die Stuttgarter Straßenbahnen und an den Beschluß des Gemeinderats, den bisher gezahlten Beitrag von jährlich insgesamt 12000 an evangel. und kathol. Privaitöchterschulen zu streichen, wodurch für die Stadt, wenn der Beschluß nicht zurückgezogen wird, eine Jahresausgabe von 70000 entstehen muß, also nach Abrechnung der 12000
immer noch eine Fehlersparnis, d. h. eine Mehrausgabe von 58000 ^
Bei der Bürgerausschußwahl in Murrhardt hat von 663 Wahlberechtigten kein einziger abgestimmt!
Stuttgart, 19. Dez. Ueber ganz Süddeutschland ging heute vormittag 9 Uhr ein starker Sturm, verbunden mit heftigem Schneewehen und Donner und Blitz nieder.
Ausland.
In der venezolanischen Angelegenheit ist der zu erwartende Anschluß Italiens an die deutsch-englische Aktion erfolgt, weil sich Venezuela auch gegenüber den italienischen Entschädigungsforderungen durchaus ablehnend verhält. Am 17. Dezember reiste der italienische Gesandte in Caracas, de Riva, da die venezolanische Republik sein Ultimatum nicht beantwortete, von dort ab. Auch Belgien und Spanien rühren sich jetzt, sie haben ebenfalls gewisse Entschädigungsansprüche an Venezuela gestellt. Offenbar wird durch diese wachsende europäische Koalition gegen Venezuela die Stellung des starrsinnigen Präsidenten Castro immer schwieriger. Schon existiert die venezolanische Flotte nicht mehr, die Küsten sind blockiert, auch die Kanonen haben zu sprechen begonnen und die feindlichen Forts schnell zum Schweigen gebracht. Das von dem Gesandten der Vereinigten Staaten übermittelte Gesuch Castros um ein Schiedsgericht hat sich die Regierung in Washington bisher nicht zu eigen gemacht. Mit vollem Recht. Präsident Roosevelt weiß, daß die der deutschen Regierung angedichteten schwarzen Pläne, als wolle sich Deutschland in Venezuela festsetzen, gegenstandslos sind. Graf Bülow hat das Washingtoner Kabinett schon vorher von der geplanten Exekution genau unterrichtet und ihm bündig erklärt, daß er bei seiner Auseinandersetzung mit Venezuela alles vermeiden werde, was die Amerikaner mißtrauisch machen könnte.
In gut unterrichteten Kreisen Englands schließt man, wie aus London gemeldet wird, aus Balfours Aeußerungen im Unterhause und den Erklärungen der Vereinigten Staaten- Regierung schon jetzt, daß eine offizielle Kriegs- erklärung gegen Venezuela bevorsteht.
Die Stimmung in den übrigen südameri- kanischen Staaten wendet sich, wie das ja iu