Beilage zu M 108

Gnzthitlees.

Neuenbürg, Samstag den 12. Juli 1902.

Württemberg.

Stuttgart, 10. Juli. Heute wurde in der Kammer der Abgeordneten die Einzel­beratung des Gesetzes betr. die Besteuerungs­rechte der Gemeinden und Amtskörperschaften zu Ende geführt. Eine von Gröber angeschnittene Frage, ob auch Reich und Staat bei Erwerbung von Gemeindeeigentum eine Umsatzsteuer an die Gemeinden zu entrichten haben, wurde in der Weise erledigt, daß ein diesbezüglicher Antrag Gröber, der die Frage bejahte, angenommen wurde. Die Hundeabgabe wurde ohne Debatte nach den Beschlüssen der Kommission erledigt. Die von der Regierung vorgeschlagenen Lustbar­keitsabgaben wurden gestrichen. Der Antrag Egger auf Einführung einer Fahrradsteuer in Höhe von 3 bis 5 ^ wurde von verschiedenen Seiten lebhaft bekämpft und abgelehnt, ebenso ein Antrag des Zentrums, gegenüber der Regier­ung die Bereitwilligkeit auszusprechen, einer Er­gänzung des Gesetzentwurfes zuzustimmen, welche den Gemeinden die Befugnis einräumt, den Besitz der ausschließlich dem Luxus dienenden Gebrauchs­gegenstände einer Gemeindebesteuerung zu unter­werfen. Bezüglich der Wohnsteuer entstand eine lange Debatte; die Steuerkommission hatte sich mit dieser Frage gestern noch befaßt und hatte sich auf einen von Gröber gestellten Antrag ge­einigt, die Wohnsteuer abzuschaffen und diejenigen Personen, welche keine-direkten Steuern zu zahlen hätten, zur Gemeindeeinkommensteuer bis zum Höchstbetrage von 1 heranzuziehen. Außer­dem war mit diesem Antrag ein Zurückgreifen auf die gestern fakultativ beschlossene Einkommen­steuer in der Weise verbunden, daß beantragt wurde, dieselbe obligatorisch zur Einführung zu bringen. Gröber gab seinem Antrag eine ein­gehende Begründung. Dem Antrag trat der Minister des Innern, sowie die Abgeordneten v. Geß und Haug entgegen, während Binz, Haußmann Balingen und Keil ihn befürworteten und nur ein Amendement dazu einbrachten. Nach längerer Debatte wurde bei der vorgenommenen Abstimmung der Antrag, die Gemeindeeinkommen­steuer obligatorisch einzuführen, angenommen, der Antrag, die Wohnsteuer abzuschaffen und ebenso der Antrag, die nicht direkt staatssteuer­pflichtigen Personen zur Gemeindeeinkommen­steuer heranzuziehen, abgelehnt und ein inzwischen eingebrachter Antrag Röder, durch den die Wohn­steuer in Höhe von 2 ^ für männliche und 1 für selbständige Frauenspersonen erhalten bleiben, aber auch das Recht der Wählbarkeit und Wahlausübung in den Fällen gewahrt wer­den soll, in denen die Gemeindeumlage auf Grundeigentum, Gebäude und Gewerbe weniger als 2 o/g der betreffenden Kataster beträgt, an­genommen. Einige von Frhr. v. Palm gestellten Abänderungsanträge fanden keine Unterstützung und wurden abgelehnt. Die Besteuerungsrechte der Amtskörperschaften wurden ohne Debatte angenommen, ebenso die Uebergangs- und Schluß- bestimmungen des Gesetzes. Die zum Gesetz ein- getaufenen Petitionen wurden für erledigt erklärt. Die Schlußabstimmung wird erst morgen vorge­nommen. Außerdem ist auf die Tagesordnung der morgigen Sitzung die Volksschulnovelle gestellt.

Stuttgart, 11. Juli. Heute war in der Abgeordnetenkammer der erste Tag der großen Volksschuldebatte, die durch den Gesetz­entwurf betr. die Abänderung einiger Bestimm­ungen der Gesetze über das Bolksschulwesen veranlaßt wurde. Kultusminister v. Weizsäcker führte in längerer Rede den Gesetzentwurf ein und bat das Haus um eine liebevolle Berück­sichtigung desselben. Er begründete von allge- meinen Gesichtspunkten aus die einzelnen tief­einschneidenden Aenderungen, insbesondere bezüg­lich der Vermehrung der Lehrfächer, der Herab- setzung der Schülerzahl in überfüllten Klassen, der Trennung der Oberschulbehörde vom Kon­sistorium und der Bezirks- bezw. Ortsschulaufsicht. Von Hieber, Schmidt-Maulbronn, v. Sandberger

und Kloß wurde der Antrag gestellt, den Ent­wurf der Volksschulkommisston zur Berichterstatt­ung zu überweisen. Schmidt-Maulbronn äußerte sich zu dem Entwurf, wenn er auch nur einen kleinen Fortschritt bringe, nicht ablehnend und hoffte, daß sich aus demselben in der Kommission etwas brauchbares gestalten werde. Prälat von Sandberger erklärte sein Einverständnis mit dem Entwurf, dessen einzelne Bestimmungen er be­sprach. Eine scharfe Kritik ließ dem Entwurf der Abg. Hildenbrand angedeihen, der namens seiner politischen Freunde erklärte, daß sie dem Entwurf nur dann ihre Zustimmung werden geben können, wenn er aus der Kommission ganz wesentlich anders herauskomme als er jetzt sei. Hier wurde die Beratung abgebrochen und die Schlußabstimmung über das Gesetz betreffend die Besteuerungsrechte der Gemeinden und Amts­körperschaften voraenommen. Dasselbe wurde in namentlicher Abstimmung mit 64 gegen 9 Stimmen angenommen. Der Entwurf einer Gemeineordnung, sowie einer Bezirksordnung ist nunmehr dem Hause zugegangen. Derselbe wird einer morgen zu wählenden 16gliedrigen Kom­mission überwiesen werden.

Zum Volksschulgesetz. Der württemb. Volksschullehrerverein hat eine Eingabe an die Stände gerichtet, in welcher er bezüglich der Unterrichtsfächer fordert, daß der Unterricht in weiblichen Handarbeiten fakultativ sein, aber die obligatorischen Fächer in den für sie nötigen Unterrichtsstunden nicht beschränken soll. Hand­fertigkeitsunterricht für Knaben und Haushaltungs­kunde für Mädchen sollen selbst als freiwillige Unterrichtsgegcnstände nicht in den Lehrplan der Volksschule gehören. Die in dem Entwurf angenommenen Höchstzahlen der Schüler in einer Klasse seien noch viel zu groß. Die geistliche Ortsschulaufsicht sei als überflüssig zu beseitigen. Die Bezirksschulaufsicht sei in sämtlichen Bezirken im Hauptamt einzuführen und als Bezirksschul­aufseher sollen in erster Linie bewährte Bolks- schullehrer ernannt werden. Für alle Schulen sei nur eine Oberschulbehörde mit einer besonderen Abteilung für das Volksschulwesen zu schaffen. Die schultechnischen Mitglieder dieser Abteilung sollen in genügender Zahl den Reihen der zur Bezirksschulleitung befähigten Schulmänner ent- nommen werden.

Stuttgart, 11. Juli. Der Zentralverband der Maurer Deutschlands (H. Stolle) tritt in derSchwäb. Tagwacht" den Rückzug an. Er giebt folgende Erklärung ab:Der Baugewerk­verein Stuttgart hat die Einleitung von Einig- uugsverhandlungen von der Zurücknahme der groben AusdrückeWortbrüch",schamloser Wortbruch" abhängig gemacht. Um diesen letzten Stein des Anstoßes aus dem Wege zu räumen und damit alles gethan zu haben, was unserer­seits gethan werden konnte, den Frieden im Bau­gewerbe zu ermöglichen, kommen wir diesem Verlangen hiemit umso lieber nach, als sich ja inzwischen herausgestellt hat, daß der ganze Streitpunkt in dem Fehlen eines anerkannten Protokolls seinen Ursprung hat."

Stuttgart, 8. Juli. Für die Sängerfahrt nach Graz sind bis jetzt 170 Mitglieder des Stuttgarter Liederkranzes und 485 Sänger aus dem Lande angemeldet. Der hiesige Liederkranz hat einen Extrazug bestellt, für welchen bis jetzt 330 Anmeldungen vorliegen. Die Abfahrt er­folgt am 25. Juli. In Salzburg wird übernachtet.

Stuttgart, 10. Juli. Der Lehrling des Stuttgarter Bankgeschäfts August Fritsch verlor heute vormittag 2 Wechsel im Betrag von 17 000 die noch nicht beigebracht sind.

Rottenburg, 7. Juli. Der bei dem hies. kgl. Landesgefängnis Rottenburg errichtete Ge­fängnisbau für jugendliche Personen männlichen Geschlechts ist am 1. ds. in Betrieb gesetzt worden. Von diesem Zeitpunkt an sind diejenigen gegen jugendliche Personen gerichtlich erkannten Strafen, welche bisher in der Abteilung der jugendlichen

Gefangenen bei dem Zellengefängnis Heilbronu zu vollziehen waren, in der bei dem Landes­gefängnis Rottenburg eingerichteten Jugend­abteilung zu vollstrecken.

Oberndorf, 11. Juli. Die vorgestern abend einberufene Bürgerversammlung hat ein­stimmig den vom Stadtvorstand, bezw. Gemeinde­rat geplanten Verkauf eines der Stadt gehörigen Hofguts abgelehnt. Dasselbe wird nun weiterhin verpachtet.

Unterboihingen, 10. Juli. Unterhalb des Wehrs der Ottoschen Fabrik badeten drei Knaben; sie gerieten in den reißenden Sprudel und versanken. Aufseher Haußmann, der das Geschrei hörte, eilte herbei und rettete zwei Knaben, während der dritte, sein eigener Sohn, ertrank.

Biber ach, 8. Juli. Die Kunstmühle von Joh. Straub zur Unteren Mühle hier ist für 76000 -/A, ohne Landgut, an die Firma H. Pfähler und Cie. hier übergegangen, welche eine Metalldrückerei und Metallwarenfabrik großen Stils darin einrichten wird. Es ist dies die zweite größere Mühle, die innerhalb 5 Jahren hier eingeht und zu einem Fabrikbetrieb um­gewandelt wird. In solch fruchtreicher Gegend und am zweitgrößten Schrannenplatz des Landes auch ein Zeichen der Zeit.

Biberach, 11. Juli. Heute wollte sich der etwa 50 jährige Schreinermeister Hirschmann mit seiner Tochter vom nahen Attenweiler zu einem Gerichtstermin wegen eines Alimenten- Prozesses nach Biberach begeben. Der Weg von Attenweiler nach Biberach führt durch den Burrenwald. Als die beiden eben den Waldteil Bildhau Passierten, fielen 2 Schüsse, von denen der eine den Vater, der andere die Tochter niederstreckte. Hirschmann verschied nach einer halben Stunde, die Tochter ist schwer verletzt. Kurz darauf fiel noch ein dritter Schuß. Man vermutet, daß sich diesen der Thäter, in dem man den Prozeßgegner in der Alimentensache vermutet, selbst beigebracht hat.

Vom Schwarzwald, 9. Juli. Auf der Höllenthalbahn, Strecke Freiburg bis Donau- eschingen, wird die Fahrgeschwindigkeit sämtlicher Züge der Richtung Neuftadt-Freiburg etwas erhöht. Immerhin aber beträgt die Fahrzeit beispielsweise auf der Schwarzwaldbahn-Höllen- thalbahn von Konstanz bis Freiburg im günstigen Falle nahezu 5 Vs Stunden, während man den Rhein hinunter über Basel, wo die Strecke 40 Kilometer länger ist, nur 4 V/i Stunden braucht.

Ausland.

Der Sultan hat der Tochter unseres Kaiserpaares, Prinzessin Viktoria Luise, in Ca- dinen ein Ponygespann übergeben lassen.

Der neue französische Finanzminister Rou- vier kann einen ersten bedeutsamen Erfolg ver­zeichnen. Die von ihm dem Parlament am Dienstag unterbreitete Vorlage über die Kon­version der 3 '/s prozentigen französischen Rente, ist in beiden Häusern glatt und rasch und so gut wie einstimmig genehmigt worden. Natür­lich sind die Franzosen furchtbar stolz auf ihren schneidigen Finanzminister, der den Ruhm des seligen Miguel zu verdunkeln droht.

Die Russen wollen einstweilen die Mand­schurei noch nicht räumen, wenigstens werden die Zeitungsnachrichten, daß die russischen Truppen bereits mit der Räumung der Mandschurei be­gonnen hätten, von russischer offiziöser Seite als unzutreffend bezeichnet.

London, 40. Juli. Die 3 Millionen Pfund Sterling, welche den Buren zum Wiederaufbau ihrer Farmen überwiesen werden sollen, werden von dem Ergebnis der Steuern auf die Gold­minen gedeckt und nicht von den englischen Steuerzahlern entrichtet werden. Diese Nach­richt hat in den Minenkreisen zu Bloemfontein große Aufregung verursacht.

Kapstadt, 10. Juli. Der Burengeneral Lukas Meyer ist von hier nach England abgereist.