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Die deutschen anarchistischen Blätter fahren fort, die Thal des Angiolillo zu ver- herrlichen, dazu gesellt sich jetzt der „Schrei der Rache gegen seine Mörder." Die spanische Regierung wird beschimpft, weil sie in der Notwehr gegen den Verbrecher Angiolillo der Gerechtigkeit freien Lauf ließ. Der „Sozialist", das älteste der deutschen Anarchistenblätter, bringt zur Würdigung des Mörders die stenographische Wiedergabe der konfusen Rede, die er vor dem Kriegsgericht gehalten hat und worin er sich prahlerisch als Werkzeug der Gerechtigkeit bezeichnet.
Mit dem Staatshaushalts-Etat für die Schutzgebiete werden gegenwärtig vom Bureau des Reichstages an die Empfangsberechtigten Nachbildungen der vom Kaiser im Mai d. I. persönlich angefertigten Zeichnungen, auf denen die englische Flotte als F l o t t e ersten Ranges dargesteüt ist, versandt. Diese Zeich- nungen veranschaulichen in dankenswerter und übersichtlicher Weise die enorme Ueberlegenheu Englands und indem sie einerseits darthun, daß Deutschland nicht daran denken kann, diese Ucberlegenheit auch nur annähernd zu erreichen, enthalten sie eine klare deutliche Mahnung, wenigstens das Dringliche und Erreichbare nicht zu versäumen.
Kassel, 1. Sept. In dem Städtchen Jesberg brach gestern Großfeuer aus, durch welches 16 Häuser eingeäschert wurden.
Weingarten (A. Durlach), 1. Sept. Die alte Unsitte, bei Gewittern sich unter Bäume zu stellen, hat wieder ein Menschenleben gefordert. Ein 14jähriges Mädchen, die Tochter des Landwirts Rentschler, flüchtete sich, als sie sich kürzlich während eines Gewitters auf freiem Felde befand, unter einen Kirschen- bäum. Dort wurde sie vom Blitzgetroffen und getötet.
Weißenburg. 27. Aug. Die Steinobstfrüchte sind sehr gesucht. Für Mirabellen wird für den Zentner 12 bezahlt. Zwetschgen giebt es in unserer Gegend in Menge, und es kostet der Zentner 2—2,20 Sehr reichlich fällt auch die Ernte einiger Birnensorten aus. Besonders gut sind die Mostbirnen geraten, was man schon daraus erkennen kann, daß ein hies. Käufer die Lieferung von 20 Waggon zu 2000 Zentner Mostbirnen, also im ganzen 40 000 s Zentner, an einen Händler in die Schweiz über- ^ nommen hat. Er bezahlt für den Zentner 3 ^ Weniger gut sind die Aepsel geraten, und man bietet jetzt schon 10 für den Zentner. Der Preis dürfte jedoch aller Voraussicht nach noch höher steigen.
Württemberg.
Seine Majestät der König wohnt den großen Kaisermanöoern an der preußisch.bayri- schen Grenze, wobei 2 preußische gegen die beiden bayrischen Armeekorps manöverieren, als Gast des deutschen Kaisers bei. Die württ. Truppen haben ihre Manöver in den Oberämter Ell- Wangen und Neresheim, wobei die Leute mit starken Einquartierungen bedacht werden, manch- mal aber etwas gar zu stark in Anspruch ge nommen werden sollten, weshalb infolge von Reklamationen einiger Gemeinden die Truppen auch noch in weitere Gemeinden dislociert wer- den mußten, als ursprünglich beabsichtigt war.
Der S t u t t g a r t e r Gemeinderat hat beschlossen, die Maime.sse, soweit sie nicht die Mövelmesse betrifft, von jetzt an eingehen zu lassen. Gerade bei den sog. Krämermärkten nistet sich immer mehr Schundware ein, mit welcher, wenn sie auch noch so billig ist, das kaufende Publikum doch betrogen ist. Die ansässigen Kaufleute, bei denen doch alles Menschen- mögliche zu kaufen ist, können doch wahrlich die Ansprüche des Publikums vollauf befriedigen und sind deswegen mit dem Beschluß des Stuttgarter Gemeinderats sehr einverstanden.
H e i l b r o n n, 30. Aug. Ein heute Nachmittag niedergegangener schwerer Wolkenbruch, der von einem heftigen Sturm begleitet war, richtete in Stadt und Flur nicht unbedeutenden Schaden an. Viele Odstbäume sind ihres Ertrages beraubt; auch die Weinberge haben stark gelitten.
Kornthal, 1. Sept. Auch in unserem fast weit über Deutschlands Gauen bekannten Orte macht sich die allerorts aufblühende Industrie fühlbar, indem 2 hiesigen Bürgern von der Gemeindeverwaltung ein großes Areal zur Verfügung gestellt wurde, welches vorzügliches Material zur Fabrikation von Gyps enthält. Dieselben haben daher in einer Entfernung von nur ca. 50 m von den Gypslagern ein Gyps- werk erstellt, welches gegen keine Konkurrenz- Anlage auf diesem Gebiete zurückstehen dürfte. Die Steine werden mittelst Drahtseilbahn zu den Brennöfen und zu dem Brcchwerk befördert. 4 Brennöfen sind fertig gestellt und 4 weitere im Bau begriffen, von denen jeder durchschnittlich ca. 30000 Kilo Steine faßt.
Stuttgart, 2. Sept. Kartoffelmarkt am Leonhardsplatz. Zufuhr 700 Ztr., Preis per Ztr. 2 «tL 80 ^ bis 3 20 — Krautmarkt am Marktplatz.
Zufuhr 2400 Stück Filderkraut, 18 bis 20 per 100 Stück.
Ausland.
Pest, 1. Sept. Heute Vormittag wurde die Tel ep h 0 n l i n i e Pest-Berlin mit einem freundschaftlichen Gespräch zwischen den Chefs der beiderseitigen Telegraphenverwaltungen und einem Hoch auf die beiden Monarchen eröffnet.
Paris, 1. September. Der heutige Ministerrat beschloß, zahlreiche von den bürgerlichen und militärischen Gerichten Verurteilte anläßlich der Reise des Präsidenten Faure nach Rußland zu begnadige r. Nach der Sitzung des Ministerrates reiste der Präsident nach Havre ab. — Der Dankgottesdienst in der Kirche Sacro Coeur war von ungefähr 8000 Personen besucht. Faure vermiet also alle Gepflogenheiten heimkehrender Triumphatoren, trotzdem wird ihm heute wieder von verschiedener Seite ein persönliches Regiment nahegelegt. Der „Gaulois" schreibt: Wir begrüßen die Rückkehr des persönlichen Regiments, von dem die Huldigungen Zeugnis ablegen. Das Volk ist einer unpersönlichen, unverantwortlichen, ungreifbaren Regierung müde, es will eine Autorität von Fleisch und Blut. Das bedeutet die Rückkehr zu monarchischen Ideen. Eine persön'rche Gewalt bereitet die Monarchie vor. Allerdings ist der Faurismus gleich dem j Boulangismus nur ein Plagiat der Monarchie, aber man muß abwarten. Der „Eclair" ver- öffentlich! einen Leitartikel unter der Ueberschriftf: Imi. Er weist auf Boulanger, Gambetta und den ersten Napoleon. Jetzt sei Faure dieser Imi. Das gute Volk Frankreichs, das naivste aller Völker, brauche immer Jemanden. Rochefort im „Jntransigeant" schließlich schleudert wiederum gegen Faure und dessen Cabinet den Borwurf des Betrugs. Sie wollten die angebliche Allianz, die nichts weiter sei als eine einfache Mllitärkonvention, zu Wahlzwecken ausbeuten. Sicher ist, daß die Stellung des Präsidenten und seines Ministeriums Meline sehr befestigt worden ist. Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, kann uns der viel erörterte Zarentoast sogar angenehm sein, weil mit einer stetigen Regierung viel besser zu verkehren ist, als mit einer beständig wechselnden. Dem Ministerium Meline mag der Zarenloast auch aus dem Grunde willkommen kein, weil das rasche und wohl auch vielfach künstlich hervorgerufene Steigen der Getreidepreise die Gegner des Ministeriums Melinä zu einem Ansturm gegen dasselbe veranlaßt. Melin« ist bekanntlich der Urheber der französ. Schutzzölle, auch auf Getreide, und wenn ganz Frankreich mit dem Präsidenten Faure und seinem Ministerium wegen des Petersburger Erfolges zufrieden ist, so können die französ. Sozialdemokraten, die, gleich den unseligen, auch dann noch über Brotverteurung schreien, wenn man es einmal allen Leuten gratis verabreicht, nicht mehr gegen den z. Zt. eingetretenen Brotaufschlag sich auflehnen.
Ein französischer Diplomat äußerte zu einem Mitarbeiter des „Gaulois" über das Bündnis mit Rußland: Die Zustimmung des Zaren zur Proklamierung der Allianz ist ganz besonders deshalb charakteristisch, weil sie unmittelbar auf den Besuch Kaiser
Wilhelms erfolgte. Wenn der deutsche Kaiser eine Annäherung an Rußland suchte, so geschah dies weniger, um uns von Rußland zu trennen, als aus Sorge um die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands. Was die Worte „fustiee, equitä" anlangt, so glaube ich nicht, daß sie auf Elsaß» Lothringen, sondern auf die Regelung der Orientfrage sich beziehen. Das bemerkenswerteste und erfreulichste Resultat der jüngsten Ereignisse ist. daß durch die neue Gruppierung der Mächte England, welches ein gefährlicher Gegner ist. und mit dem wir in allen Weltgegenden Schwierigkeiten haben, der vollständigen Isolierung anheimsällt.
London, 1. Sept. Der „Standard" schreibt, um auch einen Hieb gegen Deutschland zu führen, heute in einem Leitartikel über Faures Rückkehr, die deutsche Politik und die deutschen Manieren hätten der Regierung den Zaren ebenso sehr entfremdet, wie sie die französische Empfindlichkeit verletzt hätten.
Paris, 1. Sept. Gegen 12 */, Uhr nachts rotteten sich auf dem Opernplatz etwa 150 Burschen zusammen, die unter verschiedenen Hohnrufen die Absicht kundgaben, vor dem deut- schafterpalais Unfug zu veranstalten. Die Polizei trieb die Bande auseinander und verhaftete 10. Mehrere Burschen wurden hiebei leicht verwundet.
Die Pforte hat neuerdings um Beschleunigung der Friedensoerhandlungen ersucht unter Hinweis auf die außerordentliche Höhe der täglichen Kosten für die Qperations- armee.
Der Verband der Gastwirte Nordböhmens, der 1600 Mitglieder zählt, beschloß den Boykott des Pilsener bürgerlichenBrauhauses.
Der Sturz des Rapoleonischeu Kaisertums.
4. September 1870.
Als bei Sedan Mac Mahons ganzes Heer und mit ihm Kaffer Napoleon III. gefangeu war, rief König Wilhelm prophetisch aus: „Ich fürchte, dieses weltgeschichtliche Ereignis bringt uns den Frieden noch nicht'." Den Frieden brachte es nicht, aber über Paris und Frankreich Umsturz und Verwirrung.
Am 3. September hatten die Pariser noch keine sichere Kunde von der furchtbaren Katastrophe. Erst am Abend verbreitete sich mit unheimlicher Schnelligkeit die Nachricht von einem schrecklichen Unglück, das Mac Mahon und sein Heer betroffen habe. Am 4. September, 1 Uhr morgens, «öffnete der Präsident Schneider die Sitzung des gesetzgebenden Körpers. Jules Favre stellte folgenden Antrag: „Louis Napoleon und feine Dynastie sind der Befugnisse, welche ihnen die Verfassung übertragen hat, für verlustig erklärt. Es wird eine Kommission ernannt, welche die Aufgabe hat, die Verteidigung des Vaterlandes bis zum äußersten forlzusetzen und den Feind zu vertreiben. General Lrochu wird als General-Gouverneur von Paris bestätigt!" Unter eisigem Schweigen gehen die Abgeordneten auseinander. Nach 1 Uhr mittags wurde die Sitzung von neuem eröffnet. Doch wenige Minuten später eilen die Zuhörer von den Tribünen aus die Straße und rufen der Menge zu: „Die Absetzung ist ausgesprochen!" Nur einen Augenblick schwanken die Massen, dann wildes Drängen und Rufen; in unaufhaltsamen Wogen stürmen das Volk und die Nationalgarde in den Sitzungssaal, und alsbald wird jede geordnete Beratung unmöglich. Präsident Schneider erklärt die Sitzung für aus- gehoben; der gesetzgebende Körper hat sich ebenso ohnmächtig erwiesen, wie das Ministerium. Nun ziehen Gambetta und seine Genossen, die Abgeordneten der Stadt Paris, begleitet von lautem Beifall erhitzter Volksmassen, welche die Republik leben lassen, nach dem Sladthause, und dort wird unglaublich rasch, ohne irgend eine gesetzliche Form die Absetzung der Dynastie, die Republik proklamiert und ein neues Ministerium gebildet.
Gambetta und die Abgeordneten von Paris, die sich auf die Bevölkerung der Hauptstadt, d. h. nur auf den revolutionären Teil derselben stützen, werfen sich auf als Herren von ganz