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der Petersburger Reise plötzlich von Ende Juli auf Ende August verschoben worden ist, giebt der französischen Presse Anlaß zu allerhand Be­trachtungen über das signalisierte Ereignis, da­zwischen spielt eine lebhafte Polemik über die Reiseroute und die Begleitung Faure's hinein, außerdem werden von manchen Seiten konsti­tutionelle Bedenken gegen dies Reiseunternehmen des Staatsoberhauptes laut. Offenbar wird von offizieller französischer Seite mit dem Peters­burger Reiseprojekt des Herrn Faure eine merk- würdige Geheimniskrämerei getrieben.

Die englische Presse beschäftigt sich mit dem Urlaub des deutschen Staatssekretärs der auswärtigen Angelegenheiten, Frhr. v. Mar­schall. den dieser in voriger Woche auf vor­läufig 2 Monate angetreten hat. Der ehrlichen Wellpolitik Marschalls zollt sie alle Anerkennung, ebenso auch seinem kräftigen Auftreten zur Schadlosmachung der politischen Polizei in Berlin; aber sie benützt diese Lobessprüche nur dazu, um den ihr verhaßten deutschen Kaiser zu verdächtigen, als wäre dieser des Frhrn. von Marschall überdrüssig geworden. Bekanntlich ist letzterer aber in seiner Gesundheit schwer er­schüttert, so daß man diesen Urlaub durchaus nicht als den Vorläufer des Rücktritts zu be- trachten hat. Seitdem die Engländer merken, daß Rußland ihnen in Egypten zu Leibe gehen will, ziehen sie der Transvaalrepublik gegenüber etwas gelindere Seiten auf. Der englische Bot­schafter in Konstantinopel führt allerdings noch eine ziemlich schroffe Sprache gegenüber den türkischen Friedensbedingungen, was aber nur den Erfolg haben kann, daß die Türken nach er­folgtem Friedenschluß erst recht auf die Räumung Egyptens durch die Engländer drängen wird.

Unterhaltender Heil.

Falsche Spuren.

Criminal-Novelle von Ferdinand Hermann' (Fortsetzung.)

Da geschah es zum ersten Mal, daß den Elenden seine Geistesgegenwart und Selbstbe­herrschung verließ, und gerade diesmal sollte ihm seine Fassungslosigkeit verhängnisvoll werden. Hätte er sich nur noch einmal zu­sammen zu raffen vermocht hätte er die Stirn gehabt, den Erstaunten und Entrüsteten zu spielen und eine jene Komödienszenen auf­zuführen, zu denen er sich seit Wochen unaus­gesetzt vorbereitete und übte hätte er Kraft genug dazu besessen, so wäre er wahrscheinlich gerettet gewesen; denn der Beamte, welcher sich nur durch die dringenden, unwiderstehlichen Bitten des jungen Mädchens nach langem Sträuben sehr widerwillig hatte bewegen lassen, mit ihr zu gehen, würde sicher bei vem Mangel aller positiven Verdachtsmomente sehr leicht zu veranlassen gewesen sein, sich wieder zu entfernen und den eleganten jungen Mann unbehelligt seines Weges gehen zu lassen. Aber Paul hat Nichts von Alledem! Eine wahnsinnige Angst bemächtigte seiner. Es war ihm, als gäbe es für ihn kein anderes Rettungsmittel mehr als die Flucht, und ohne Besinnen warf er sich unter Zurücklassung seines Hutes auf die Thür, um die Straße zu gewinnen. Ein so unverkennbares Zeichen bösen Gewissens aber war für den Konstabler ein viel triftigerer Grund zum Einschreiten, als alle Erzählungen der Apolhekerstochter, und da er fast noch auf der Schwelle gestanden hatte, wurde es ihm nicht schwer, den unsinnigen Fluchtversuch des Doktors zu vereiteln. Mit starker Faust packle er ihn am Kragen seines Rockes und riß ihn in den Laden zurück. Der Ergriffene fuhr mit der rechten, verwundeten Hand nach der Brusttasche seines Rockes, derselben Tasche, aus welcher er vorhin das unselige Messer zu Tage gefördert. Auch diesmal hatte er einen kleinen Gegenstand ergriffen, der offenbar irgend eine verhängnisvolle Bedeutung hatte.

Aber der Verband des Apothekers hatte seine Finger steif und ungelenk gemacht, und als das mutige junge Mädchen rasch nach seinem Arme griff, fiel das kleine längliche Fläschchen, das er in der Hand gehalten, auf den Boden nieder. Es war auf die Strohmatte vor dem Ladentisch gefallen und war unversehrt geblieben.

Die Tochter des Apothekers hatte es auf­gehoben und war damit unter die Gasflamme getreten, um die Aufschrift auf dem mit drei Kreuzen versehenen Eliquette zu lesen. Paul stieß einen Schrei aus wie ein zum Tode ver­wundetes Raubtier und strengte alle seine Kräfte an, um sich von dem festen Griff des Polizei­beamten zu befreien. Der aber war ein ent­schlossener Mann. welcher längst gelernt hatte, wie mit solchen Widerspenstigen umzugehen sei, und in einem Ton, dessen Aufrichtigkeit wohl nicht angezweifelt werden konnte, rief er ihm zu:

Wenn Sie nun nicht auf der Stelle gut­willig und ohne jeden Versuch des Widerstandes mit mir zur Polizeiwache gehen, so rufe ich mir mit der Signalpfeife Hilfe herbei, und wir transportieren Sie gefesselt über die Straße. Ich denke es liegt in Ihrem eigenen Interesse, jegliches Aufsehen zu vermeiden."

Aber ich verlange mein Eigentum zurück, jene Fische dort!" knirschte Paul.Wer gab Ihnen ein Recht sie mir zu nehmen?"

Was ist in der Flasche?" wandte sich der Beamte gegen das zunge Mädchen. Der Apo­theker aber, welcher über die Schulter seiner Tochter hinweg die Aufschrift gelesen hatte, ant­wortete statt ihrer mit dem Ausdruck tiefer Erschütterung in der bebenden Stimme:

Blausäure, das entsetzlichste aller Gifte!"

Auf der Polizeiwache war Paul einem ersten Verhör unterworfen worden. Er hatte Nichts eingestanden und Nichts geleugnet. Ec hatte überhaupt jegliche Auskunft verweigert, und der erste Beamte des betreffenden Reviers, welcher dem sonderbaren Fall ziemlich ratlos gegenüberstand, befahl, den Arrestanten zunächst unter sicherer Bedeckung in seine Wohnung zu führen, um die näheren Umstände seiner Ent­fernung aus derselben festzustellen.

Das heftige Zittern, welches bei diesem Befehl den Körper des Verhafteten überltef, und der Widerspruch, welchen er dagegen zu erheben suchte, waren Beweis genug dafür, daß der Beamte das Rechte getroffen hatte, und bald darauf rollte eine geschlossene Droschke vor dem Hause vor, welches Paul erst kurz vorher mit dem festen Entschluß verlassen hatte, es nicht wieder zu betreten. Zwischen zwei Kriminal­polizisten, welche jede seiner Bewegungen mit Argusaugen verfolgten, verlies er das Gefährt und stieg mit schlotternden Knieen und mit stieren, verglasten, weit aus ihren Höhlen her­vortretenden Augen die Treppe, empor.

Kaum fünf Minuten nach dem Eintritt der Beamten in die Wohnung der Frau Hauptmännin wurde das ganze Haus durch das Weinen und Jammern dieser Dame und durch das Gekreisch ihres Dienstmädchens alarmiert. Nach allen Richtungen hin liefen Boten, um einen Arzt herbeizuschaffen, und in einem schwellenden Sessel seines Salons saß Paul Rellinghausen mit auf dem Rücken zusammengeschnürten Händen.

In der Stadt aber verbreitete sich mit Blitzesschnelle das Gericht, der Mörder des Fräulein Hegemeier sei entdeckt und ergriffen, nachdem er noch eine zweite Mordthat verübt und dieser Mörder sei kein Anderer gewesen, als der eigene Neffe der alten Dame.

Wenn sich aber die sensationslüsternen Einwohner der guten Stadt H. auf ein spannendes Prozeßverfahren und eine aufregende öffentliche Gerichtsverhandlung gefaßt gemacht hatten, so sahen sie sich nun zu ihrem Leidwesen ganz gewaltig enttäuscht; denn als Doktor Paul Rellinghausen am folgenden Morgen dem Untersuchungsrichter vorgeführt werden sollte, fand man in seiner Zelle statt eines bußfertigen Sünders nur noch eine Leiche.

Ein mitleidiger Wärter hatte ihm am Abend die Handschelle abgenommen und ihn mit Tinte, Feder und Papier versehen, weil er ihm zugeflüstert hatte, daß er ein Geständnis seiner Schuld niederschreiben wolle. Das schien er denn auch allerdings gethan zu haben; denn das Papier, welches aus dem Tische lag, war bis in das letzte Winkelchen mit rasch hinge­worfenen, flüchtigen und doch festen Schriftzügen bedeckt. Dann aber hatte der Gefangene von der Freiheit seiner Hände einen Gebrauch ge- , macht, auf welchen der mitleidige Wärter nicht

gefaßt gewesen war. Er hatte sich mit seinem Taschentuch an dem in der Wand befestigten Kleiderhacken erhängt. Als man ihn fand, war er schon seit mehreren Stunden tot. und man gab darum die fruchtlosen Wiederbelebungsver­suche sehr bald auf. Das auf dem Tische liegende Papier aber wanderte in das Bureau des Oberstaatsanwalts und von diesem unver­züglich zu dem Untersuchungsrichter Pürwald, der heute sehr blaß aussah und eine ganz un- gewöhnliche Nervosität an den Tag legte. Er gab den Befehl, die Geschwister Therese und Julius Ulrich gleichzeitig vorzuführen, und fügte, als sich der Gerichtsdiener zur Thür wandte, noch hinzu» dieselben seien mit aller Rücksicht­nahme zu behandeln, da sie nicht mehr als Gefangene angesehen werden könnten.

(Fortsetzung folgt.)

Telegramme.

Berlin, 11. Juni. Die Abendblätter melden, Lützows Verteidiger legten Revision gegen das Urteil des Schwurgerichtes vom 4. Juni d. I. gegen Lützow ein.

Kiel, II. Juni. Der KreuzerKönig Wilhelm" mit Prinz Heinrich an Bord wird morgen früh nach Portsmouth in See gehen.

Cronberg, 11. Juni. Kaiserin Friedrich reist am 16. ds. Mts. mit ihrem Hofstaate nach England, um an den Jubi- läumsseierlichkeiten teilzunehmen.

Konstantinopel, 11. Juni. Die Vertagung der für gestern angcsetzten Sitzung in Sachen der griechischen Verhandlungen auf Samstag wird darauf zurückgeführt, daß der Minister des Aeußeren, Tewfik Pascha, vom Sultan noch keine endgiltige Entschließung bezüglich der Rückgabe Thessaliens gegen das Zugeständnis einer Grenzberichtigung erlangen konnte. Obwohl in dieser Beziehung Schwierig­keiten als nicht ganz ausgeschlossen gelten, so herrscht doch die Hoffnung auf die schließliche Erzielung einer Verständigung vor. Ueber die Frage der Kriegsentschädigung und Kapitulationen kann in der Hauptsache ein Einverständnis fest­gestellt werden. Was die Finanzkräfte Griechen­lands anlangt, will man das Gutachten des am Montag hier eintreffenden englischen Finanz­attaches Loew abwarten.

London, 11. Juni. Nach einem Kon- stantinopeler Telegramm derMorning Post" vom 9. Juni glaubt man, Tewfik Pascha werde in der nächsten Sitzung der Friedens­unterhändler folgende Zugeständnisse vorlegen: Die Türkei überläßt den Griechen Thessalien mit Ausnahme des Bezirkes nördlich vom Peneus. Sie stimmt den Kapitulationen grundsätzlich zu, verlangt aber die Entsendung von Experten zu Erwägung dieser Frage und willigt gern ein in eine Prüfung der Finanz­lage Griechenlands auf die Fähigkeit, erne an­gemessene Kriegsentschädigung zu zahlen. Eia Konstantinopeler Telegramm derCaily News" bestätigt die vorstehende Meldung.

Simla, 11. Juni. Eine Abteilung indischer Truppen von 300 Mann mit zwei Geschützen, welche dem englischen politischen Kommissar Gee zur Bedeckung diente, wurde im Thale des Flusses Toki nahe der afghanischen Grenze während der Nachtruhe in verräterischer Weise angegriffen. Drei englische Offiziere, darunter ein Oberst, und 25 Mann wurden getötet, ebenso viel Offiziere und Mannschaften verwundet. Der Ueberfall geschah bei dem Orte Marza. Die dem Malikstamme angehörenden Feinde waren in überwältigender Anzahl und verfolgten die indischen Truppen, welche aus Mannschaften des ersten Sik- und des ersten Pendschab-Regiments bestanden, nach dem Ueber­fall mehrere Meilen weit. Die Verwundungen der Offiziere sind schwer.

New-Aork. 11. Juni. Nach einer Depesche desNew-Iork Herald" aus Buenos- Aires soll an der argentinischen Küste das uruguaysche KanonenbootJuarez" eine Streitmacht gelandet haben, wobei ein argentin­isches Schiff in den Grund gebohrt wurde. Die argentinische Regierung habe daraufhin eines ihrer Kanonenboote mit dem Befehle ausgesandt, das KanonenbootJuarez" zu kapern. Man befürchtet ernste Verwicklungen.

Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.