im Volke der Aberglaube noch immer wurzelt, das zeigen häufig die Gerichtsverhandlungen. Das sind aber doch nur vereinzelte Fälle, ge' wissermaßen Rückfälle am Ende des 19. Jahrhunderts. Im großen und ganzen hat die Auf- klärung auch auf dem Lande in den letzten 25 Jahren große Fortschritte gemacht. Die Zeit liegt noch nicht so gar weit hinter uns. wo ver Bauer einen Säugling für behext hielt, wenn er die Mutterbrust nicht mehr nahm. Ein Hcxenbanner ermittelte dann durch Zauber- formeln den Urheber der Hexerei und erweckte so Haß und Zwietracht in der Gemeinde. An die Stelle des Hexenbanners ist der erfahrene Arzt getreten, wie der Bauer denn nun auch nicht mehr seine Kuh für behext hält, wenn sie keine Milch mehr giebt. Anstatt dem Beutel- schneider zu vertrauen, der im Viehstalle seinen Hokus-Pokus oufführte und Papierschnitzel mit magischen Zeichen und Zahlen ausstreute, zieht man heute einen erprobten Tierarzt zu Rate. Diesen erfreulichen Wandel bewirkt zu haben, ist nicht zum geringsten das Verdienst der Lehrer, deren segensreichem Wirken der Bauer so viel zu verdanken hat.
8 Württemberg.
Stuttgart, 16. Mai. Das V Große Musikfest, das der Verein zu Förderung der Kunst veranstaltet, hat gestern abend in Anwesenheit Ihrer Majestäten des Königs und der Königin und des ganzen kgl. Hauses sowie der hohen Besuchsgäste unseres Königspaares seinen Anfang genommen. Vor einer die ganze Gewerbehalle füllende Zuhörerschaft gelangte zur Aufführung zuerst das Vorspiel zu „Die Meister- sänger von Nürnberg" von Rich. Wagner, das von der gewaltigen Kapelle mit musterhafter Präzision ausgeführt wurde. Sodann kam das bekannte Halleluja von Händel, welches von 574 Sängern und Sängerinnen und den 113 Instrumenten, darunter 40 Violinen. 13 Kontra- baffen u. s. w. zu einem wahrhaft imposanten Vortrag gebracht wurde. Die Perle des Abends war die 3. Nummer, das Violin-Konzert von Beethoven, vorgetragen von Prof. Heermann aus Frankfurt a. M. mit diskreter Begleitung des Orchesters. Prof. Heermann ist ein wohl nicht mehr zu übertreffender Künstler auf seiner Violine, der er, abgesehen von seiner geradezu verblüffenden Technik, so wunderbare Töne zu entlocken wußte, daß man Engel singen zu hören glaubte. Der Künstler fand denn auch gewaltigen Beifall und mehrmalige Hervorrufe. Im Aufträge des Königs wurde ihm ein prachtvoller Lorbeerkranz mit Schleifen in den württ. Farben überreicht.
Heilbronn, 15. Mai. Heute fand die feierliche Eröffnung der Kunst-, Industrie- und Gewerbe-Ausstellung durch den Ehrenpräsidenten Oberbürgermeister Hegelmaier statt.
Ravensburg, 12 Mai. In Tettnang bestieg ein Ibjähriger Bursche ein Karoussel, wurde aber von einer Schiffsschaukel umgeworfen und erhielt so schwere innere Verletzungen, daß er kurze Zeit darauf starb.
Zum Jnvaliditäts- und Alters- Bersicherungs-Gesetz.
Es ist nun schon eine Reihe von Jahren seit Einführung des Jnvaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes vergangen und doch giebt es in vielen Gemeinden bes Landes immer noch Personen, welche aus Unkenntnis der gesetzlichen Bestimmungen bisher weder Beiträge bezahlt noch sich näher um ihre Versicherungspflicht bekümmert haben.
Gar manchem würde wohl eine Rente gut thun und es soll der Zweck dieser Zeilen sein die Sache jetzt — noch bevor Aenderungen in den gesetzlichen Bestimmungen eintreten — etwas näher zu beleuchten.
Es giebt noch manchen Taglöhner, manche Nähterin, Wäscherin u. s. w., welche begründeten Anspruch auf Alters- und Jnvaliden-Rente hätte, aber teils aus Gleichgiltigkeit, teils in Ver- kennung der wohlmeinenden Gesetzesbestimmungen der Rente verlustig gehen. Was aber jährlich hundert Mark und mehr für ärmere Familien oft bedeuten, wird eines weiteren Erörterns nicht
bedürfen; ist es doch baares Geld, welches ohne viel Zuthun allmonatlich von der Postanstalt des betreffenden Ortes erhoben werden kann; also ein Einkommen, welches sich viele ohne Leistungen dafür thun zu müssen, gewiß wünschen möchten. Es soll deshalb ganz besonders her- vorgehoben werden, daß jetzt noch die Nachzahlung bisher nicht entrichteter Beiträge gestattet ist. daß also Personen, welche versicherungspflichtige Beschäftigung bisher verrichtet haben, ohne daß Beitragsmarken für dieselben verwendet worden sind, den Betrag auf einmal nachzahlen dürfen, um in den Genuß einer Rente zu gelangen.
Bei Ausbezahlung derartiger Renten — welche übrigens vom Tage des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit bezw. vom vollendeten 70 Lebensjahre an nachbewilligt — also oft auf mehrere rückliegende Jahre nachbezohlt werden, macht der Betreffende immer ein gutes Geschäft, denn die Fälle sind sehr häufig, daß als erste Rentenrate 500 ^ und mehr zur Auszahlung gelangen. Kürzlich erhielt sogar ein 78 Jahre alter Taglöhner in Stuttgart das nette Renten- sümmchen von 1028 auf einmal baar ausbezahlt und seine Rente von jährlich 163 dann in fortlaufenden monatlichen Raten.
Der nachzuzahlende Versicherungsbetrag, welcher gewöhnlich zwischen 15 und 40 schwankt, ist ja in allen Fällen mit den paar ersten Monatsraten, welche nach Genehmigung des Gesuchs zur Auszahlung gelangen, völlig gedeckt, es kann also allen Denen, welche glauben, versicherungspflichtig zu sein, nur empfohlen werden, sich bei Zeiten bei der Octsbehörde oder dem Oberamt zu erkundigen. Es ist das Recht jedermanns sich bei den zuständigen Behörden Auskunft zu erbitten.
Bezüglich der Versicherungspflicht im Allgemeinen ist zu bemerken, daß so ziemlich alle Taglöhner, Dienstboten, Wäscherinnen, Nähterinnen u. s. w , welche für fremde Leute arbeiten, auch versicherungspflichtig und somit rentenberechtigt sind. Hierbei ist es ganz gleichgiltig, ob die Beschäftigung bei den einzelnen Arbeitgebern die ganze Woche oder jeweils nur einen Tag dauert.
Das Gesetz schreibt nun zwar eine Wartezeit von fünf Beitragsjahren für die Invalidenrente und eine solche von 30 Beitragsiahrcn für die Altersrente vor, d. h. der Versicherte soll eigentlich eine solche Anzahl von Jahren Beiträge bezahlt haben, um eine Rente erhalten zu können. Da es aber viele Personen giebt, welche schon kurze Zeit nach Jnkraftreten des Gesetzes arbeitsunfähig oder 70 Jahre alt geworden sind und es in der Absicht des Gesetzes liegt, möglichst Vielen die Wohlthat der Renten zuzuwenden, so ist die Bestimmung getroffen, daß unter gewissen Umständen die Wartezeit abgekürzt wird und der Versicherte sofort Rente erhält. Handelt es sich um Invalidenrente, dann zählen für jeden, der vor Ablauf der ersten fünf Kalenderjahre nach Jnkraftreten des Ge- setzes (1. Januar 1891) arbeitsunfähig geworden ist, jene Wochen mit, welche der Betreffende während der vorhergegangenen fünf Jahre nachweisbar in einem Arbeitsverhältnis stand, in welchem er versicherungspflichtig gewesen wäre, wenn das Gesetz schon bestanden hätte.
Bezüglich der Altersrente ist die Sache noch günstiger. War beispielsweise eine an sich ver- stcherungspflichtige Person bei Inkrafttreten des Gesetzes (1. Januar 1891) über 40 Jahre alt, so braucht nur nachgewiesen zu werden, daß dieselbe in den 3 Jahren vor dem 1. Januar 1891 wenigstens 141 Wochen in einem Versicherungs- Pflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden hat, es zählen dann die sämtlichen Jahre, die der Betreffende über 40 Jahre alt ist zur Wartezeit, obwohl Beiträge für diese Zeit nicht entrichtet worden sind.
Kurz gefaßt handelt es sich in Bezug auf Invalidenrente also nur um den Nachweis einer 5jährigen Arbeitsperiode (Krankheitswochen zählen mit) vor Eintritt der Invalidität; bezüglich der Altersrente um den Nachweis, vor dem 1. Jan. 1891 mindestens 141 Wochen lang in einem versicherungspflichtigen Dienstverhältnis gestanden zu haben.
Als invalid wird ohne Rücksicht auf das Lebensalter diejenige versicherte Person betrachtet, welche infolge ihres geistigen oder körperlichen Zustandes nicht mehr als */, des ortsüblichen Taglohns zu verdienen im Stande ist. Daß ein Rentenanspruch solchen Personen nicht zu- steht, welche sich vorsätzlich die Erwerbsunfähig, keil zugezogen haben, versteht sich von selbst.
Zu Jnvalidenrentengesuchen ist ein ärztliches Zeugnis erforderlich (Formulare hierzu hat jeder Arzt) zu Altersrentengesuchcn jedoch nicht, sondern nur ein Geburlszeugnis. Die Gesuche selbst sind bei der Ortsbehörde für die Arbeiter- Versicherung (Schultheißenamt) anzubringen.
Tragen diese Zeilen nun dazu bei, dem einen oder andern zu einer Rente zu verhelfen, so soll es den Verfasser und nicht minder auch den Zeitungsverleger freuen.
Ausland.
An der holländischen Küste hat über die Tage der „3 Gestrengen" ein heftiger Sturm gewütet, welchem zahlreiche Schiffe zum Opfer sielen. Eine große Menge Frauen und Kinder, deren Angehörige ausgefahren waren, stand an der Küste und mußte mit ansehen, wie zwei Fahrzeuge mit je 6 Mann Besatzung an der Küste untergingen.
Die französischen Blätter bringen Einzel- Heiken über das Verhalten der Herren bei dem Brande des Wohlthätigkeits- bazars. Es wird versichert, daß die Männer vor den furchtbarsten Gewaltthaten nicht zurück- schreckten, um sich selbst in Sicherheit zu dringen. Sie hieben mit Fäusten und Stöcken auf die Damen ein, die sich gleichfalls zu retten suchten und ihre rasche Flucht hinderten. Sie warfen sie über den Hausen, stampften sie nieder, traten über sie hinweg und gelangten so ins Freie. Der Ausschuß bestand aus 30 Herren, die alle zur Stelle waren und Dienst thaten; keiner von ihnen ist auf der Wahlstatt geblieben.
Petersburg, 15. Mai. Auf der Eisenbahnstrecke Dorpat - Walk ist am Donnerstag abend ein Militärzug entgleist; 2 Offiziere und 100 Soldaten wurden gelötet, 60 Soldaten verwundet. 16 Wagen wurden zertrümmert. Eine Untersuchungskommiffion hat sich an die Unglücksstätte begeben
Unterhaltender Teil.
Falsche Spuren.
Criminal-Novelle von Ferdinand Hermann.
(Fortsetzung.)
Eine Minute später standen sich die beide« ehemaligen Studiengenosfen gegenüber, und nicht ohne eine gewisse Befangenheit hieß Paul den jungen Referendar willkommen. Der Zufall hatte sie während der letzten Jahre ziemlich häufig in Berührung mit einander gebracht; aber ein eigentlich freundschaftliches Verhältnis hatte sich dessenungeachtet niemals zwischen ihnen herausgebildet. Dazu war die Verschiedenheit ihrer Charaktere, ihrer Lebenserscheinunge« und Gewohnheiten eine zu große, dazu war vor Allem die Art, in welcher Paul ernsteste und heiligste Dinge zu behandeln liebte, eine zu leichtfertige und frivole. Aeußerlich freilich waren ihre Beziehungen immer leidlich geblieben, und Tronow, der den Anderen nur oberflächlich kennen gelernt und die über ihn verbreiteten Gerichte als müßiges Geschwätz angesehen hatte, hielt ihn bei seiner im Allgemeinen sehr wohlwollenden Art, die Menschen zu beurteilen, wohl für einen ziemlich leichtfertigen undunordentlichen, aber keineswegs für einen schlechten Menschen, durch dessen Umgang er sich selbst erniedrigt hätte. So bot er ihm auch jetzt mit dem Ausdruck aufrichtiger Teilnahme die Hand und sprach ihm sein Beileid aus für den schweren Verlust, von dem er unter so überaus schmerzlichen Umständen betroffen worden sei.
Paul drückte ihm statt einer Antwort nur wiederholt die Hand und nickte schwermütig mit dem Kopfe, ohne indessen seine unruhig umherwirrenden Augen zu dem Gesicht des Referendars zu erheben. Dann deutete er auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch, vor welchem er selbst sich wieder niederließ, und während Tronow,