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eitage zu Wr. 74 des Gnzthäters.
Neuenbürg, Donnerstag den 13. Mai 1897.
Deutsches Weich.
Die
Reform der Invalidenversicherung.
Der Reichstag hat die erste Beratung des eine Reform des Jnvalidenversicherungsgcsetzes bezweckenden Entwurfs bewirkt Die Vorlage gehört, weil sie die weitesten Volkskreise un- mittelbar trifft, zu den wichtigsten Gegenständen der gegenwärtigen Session. Die bestehenden Arbeiterversicherungsgesetze haben im Laufe der Zeit erhebliche Mängel hervortreten lassen, deren Beseitigung von der Bevölkerung seit Jahren befürwortet und von den verbündeten Regierungen für sehr nützlich gehalten wird. Von den letzter« sind deshalb dem Reichstage bereits unter dem 26 Februar in einer besondern Novelle zum Jnvaliditäts- und Altersversicher ungsgrfetz zweckmäßige Vorschläge zur Aenderung der empfundenen Mängel unterbreitet worden, die eine engere Begrenzung des Kreises der ver- sicherungspflichtigcn Personen, eine Aenderung der bisherigen Lohnklassen. eine Ermäßigung der Wartezeit für die Invaliden- und Altersrente, sowie eine anderweitige Festsetzung der Rentenbeträge und eine veränderte Verteilung der Rentenlast in Aussicht nehmen.
Trotz der hohen Bedeutung dieser Reformen hat der Reichstag mit der Beratung keine Eile gezeigt. Die Vorlage ist erst nach 2 Monaten zur ersten Beratung gelangt, und in ihr verriet der Gang der Debatte unverkennbar die Absicht der Mehrheit, den Entwurf zum Scheitern zu bringen. Diesem unschwer vorherzusehenden Endresultat hatte noch in letzter Stunde ein Antrag des Abg. Rösicke auf Erlaß eines Notgesetzes über einzelne besonders dringliche und allseitig als unumgänglich anerkannte Reformen Vorbeugen wollen. Aber der Reichstag erwärmte sich weder für diesen Vorschlag noch für die Vorlage im allgemeinen. Die Debatte galt im großen und ganzen gar nicht den leitenden Grundsätzen der Regierungsvorlage, sondern trug ausgesprochen den Charakter einer Absage an den ganzen Entwurf und knüpfte infolge dessen an einen besonders hervorstechenden Dif- ferenzpunkt zwischen den Parteien an, nämlich an die Verteilung der Rentcnlast der Versicherungsanstalten und an einen daraus bezüglichen Antrag des Abg. Plötz.
Bisher waren bekanntlich einzelne Anstalten, vorzugsweise die der ärmeren landwirtschaftlichen Provinzen, durch ihre gesetzlichen Verbindlich, keilen fast dem Bankbruch entgegengetrieben worden, während die der wohlhabender» Gegenden, insbesondere der mit reichen Großstädten, sich einer ganz ungewöhnlich glücklichen Finanzlage erfreuten. Die Regierungsvorlage will diesem unhaltbaren Zustande dadurch ein Ende bereiten, daß die einzelnen Anstalten nicht mehr ihre Einnahmen und Ausgaben für sich allein verwalten, sondern daß die Invalidenrenten zur Hälfte auf alle Versicherungsanstalten nach Maßgabe ihres Vermögensstandes verteilt und nur zur andern Hälfte von der die Rente im Einzelfalle festsetzenden Anstalt getragen werden sollen. Demgegenüber hatte der Abg. v. Plötz den Antrag gestellt, die Versicherungsbeiträge überhaupt auszuheben und die Renten einfach durch Zuschläge zur Einkommensteuer zu decken.
Dieser Antrag rief mit Recht allseiligen Widerspruch hervor, denn er würde, wenn er überhaupt bei dem Mangel einer Reichsein- kommevsteuer durchführbar wäre, lediglich die Mittelklassen zu Trägern der Arbeiterversicherung machen und die Großgrundbesitzer und Großindustriellen zum Nachteile jener auf das erheblichste entlasten. Er gab den Gegnern der Konservativen vorzügliche Handhaben, die letzter» zu verdächtigen. — dem Zentrum Gelegenheit, von einem Fiasko der ganzen Jn- validenversicherungs Gesetzgebung zu sprechen und die Aushebung derselben, wenn auch vergeblich, für die Landwirtschaft zu beantragen. Mit dirjem
Ergebnis hat die erste Lesung des wichtigen Entwurfs abgeschlossen. Kommissionsberatung wurde nicht beschlossen; was weiter aus der Vorlage wird, ist unschwer zu erraten.
Ein e n g l i s ch e r Wutausbruch. „90 Prozent aller deutschen Kaufleute sind Betrüger l" Das ist die neueste Ausgeburt englischen Wahnwitzes, der in der Zeitschrift „Jronmonger" veröffentlicht worden ist und der zeigt, daß gewisse Kreise jenseits des Kanals mit ihrem Verstände dem „Made in Germany" gegenüber zu Ende I sind. „Es giebt deutsche Häuser, welche so ehren Haft wie irgend eine englische Firma sind, aber darüber ist kein Zweifel, daß 90 Prozent des deutschen Ausfuhrhandels auf betrügerischem Wege geschieht." Also steht es wörtlich zu lesen in der Ausgabe des „Jronmonger" vom 6. März 1897 und zwar insbesondere in Bezug auf den Ausfuhrhandel nach Südamerika. Die Erklärung für die Wut der Engländer dürfte in der That- sache liegen, daß es gerade in Südamerika den Deutschen gelungen ist, die Engländer besonders in Eiscnwaren vielfach aus dem Felde zu schlagen, und zwar durch bessere, gefälligere und preis würdigere Ware. Die deutschen Stahlwaren tragen Namen, Zeichen und Wohnort des Fa brikanten. Daß gerade in diesen Artikeln, in denen seither die Engländer die unbestrittene Vorherrschaft auf dem Weltmarkt hatten, die Engländer die Flagge streichen mußten, ist bitter. Wäre aber das, was da in dem englischen Blatte erzählt wird, auch nur zum kleinsten Teile wahr, so würde Deutschland sich niemals die Stellung in Südamerika haben erringen können, welche es heute cinnimmt. Die deutsche Börsenpresse hat, soweit wir sie übersehen können, den deutschen Handelsstand gegen die Angriffe des englischen Fachblattes nicht verteidigt. Und doch wäre hier eine einmütige Entrüstungskundgebung wahr- lich weit mehr angebracht, als dem Börsengesetze gegenüber, das die Ehre des Kaufmanns unan- getastet läßt.
Berlin. 8. Mai. Gestern ist im Treptower Park eine große allgemeine Gartenbauausstellung eröffnet worden, an der auch das Ausland regen Anteil nimmt. Der „Nationalzeitg." wird darüber folgendes mitgeteilt: Der größte Orchideenzüchter der Welt, Herr Sander in St Albans bei London, hat außer seiner reichhaltigen Orchideensammlung noch in letzter Stunde eine größere Sendung kostbarer, in der Laienwelt gänzlich unbekannter neuer Pflanzen angemeldet, die, zum Teil unter Glasglocken, hier zum ersten Mal einem größeren Publikum gezeigt werden sollen. Aus Belgien ist von dem großen Blumenzüchter Vincke Du- jardin in Brügge eine große Sammlung Orchi- deen eingetroffen. Belgien wird außerdem großartig vertreten fein durch Ad. De Clerq van Ghyseghem aus Gent, von dem allein drei Waggons mit Palmen eingetroffen sind. Ein sehr interessanter Ehrenpreis ist von dem Grafen d'Artois in Paris, Professor am Institut der Medizin, gestiftet worden. Er hat eine Büste des Fürsten Bismarck gesandt. Die Büste, vom Bildhauer Schaper modelliert, stellt den Fürsten in Zivil dar und ruht auf einem Ebenholzfockel, an welchem sich eine Silberplatte mit der In- schrift „In trimtatv rvdur" befindet. Einen besonderen Wert erhält dieses Ehrengeschenk noch dadurch, daß sich der Stifter auf der Platte selbst nennt. Er hat bestimmt, daß der Preis, als Huldigung für den Fürsten, dem Aussteller des besten und schönsten Lorbeers zuerkannt wird.
Stettin, 4. Mai. Auf der Werft des „Vulkan" in Bredow bei Stettin fand heute ein Akt von ungewöhnlicher Bedeutung und von besonderer Wichtigkeit nicht nur für die deutsche, sondern für die Handelsmarine aller Völker statt: der Stapellauf des für den Norddeutschen Lloyd in Bremen im Bau befindlichen Doppel
schraubendampfers „Kaiser Wilhelm der Große". Dem Stapellauf wohnte Seine Majestät der Kaiser bei. Eine überaus zahlreiche, glänzende Versammlung hatte sich auf der Werft „Vulkan" vereinigt, darunter die Spitzen der Militär- und Zivilbehörden der Provinz Pommern, eine sehr große Zahl geladener Gäste, ferner Auisichtsrat und Direktion des Vulkan und der Aufsichtsrat und Direktor des Norddeutsche:-: Lloyd in Bremen. Den Taufakt vollzog die Gemahlin des Präsidenten des Aufsichtsrats des Norddeutschen Lloyd, Frau Plate. Der Schnelldampfer „Kaiser Wilhelm der Große" ist das größte Schiff der Gegenwart und wird nach seiner Fertigstellung auch den schnellsten Dampfer der Jetz'zeit darstellen. Die Länge des Schiffes beträgt 648 Fuß, seine Breite 66 Fuß, seine Tiefe vom Kiel bis zum oberen Hauptdeck 43 Fuß. Die Höhe des Dampfers vom Kiel bis zum oberen Rand der 4 mächtigen Dampfschlote wird nicht weniger als 106 Fuß betragen. Die Maschinen des Schiffes sollen 28000 Perdekräfte indizieren und werden dem Dampfer eine Geschwindigkeit von 22 Meilen in der Stunde verleihen. Auf die Sicherheit des Schiffes und der Passagiere ist durch ausgedehnte Schotteinteilung und durch andere Maßregeln in ausgiebigstem Maße Bedacht genommen. Die Anwesenheit Sr. Maj. des Kaisers bei dem Taufakt giebt Kunde von der außerordentlich großen Bedeutung, welche auch von Allerhöchster Stelle diesem Triumph des deutschen Unternehmungsgeistes und deutscher Schiffsbaukunst beigelegt wird. Der Doppelschraubendampfer „Kaiser Wilhelm der Große" wird in die transatlantische Flotte des Nord- deutschen Lloyd eingcreiht und soll im September seine erste Fahrt nach New-Jork an- treten.
Nach den vom „Bureau Veritas" soeben veröffentlichten statistischen Listen sind im Monat März d. I. 92 Schiffe verloren gegangen, und zwar 67 Segelschiffe mit 24739 Registertons und 25 Dampfschiffe mit 21452 Register- tons. Darunter befanden sich 6 deutsche mit 2994 Registertons. Außerdem weist die Statistik noch 541 Schiffe auf, die durch Kollision, Strandung, Feuer u. s. w. Beschädigungen erlitten haben. Unter diesen beschädigten Schiffen befinden sich auch noch 44 deutsche.
Für die Feier von Johann Guienbergs 500jährigem Geburtstag ist von dem engeren Komite in Mainz der Johannistag 1900 bestimmt worden. Die Feier soll international sein.
Leipzig, 10. Mai. Vizefeldwebel Meinecke aus Metz wurde wegen Landesverrats und Diebstahls in zwei Fällen zu sechs Jahren und drei Monaten Zuchthaus, zehnjährigem Ehrverlust und Tragung der Kosten verurteilt.
München, 8. Mai. Das Landgericht München I. verurteilte gestern die ledige Dicnst- magd Heizingcr von Aidenbach, welche bei starker Kälte am 24. Februar ihr neugeborenes Kind auf einem Bauplatz aussetzte und dann zu einer Tanzmusik ging, zu 9'/» Monaten Gefängnis.
Karlsruhe, 7. Mai. Der Vertrag zwischen der Stadt und der Regierung wegen des Rheinkanals und Rhein Hafens ist nun mit einem Nachvertrag ausgestattet, dessen Abschluß notwendig war. wegen der durch die Kammern veränderten Bestimmungen über die Höhe des Staalszuschusses — 2 Millionen statt 2*/, Millionen, worunter eine halbe Million als Entschädigung für die städtische Rheinbahn wegen deren Durchschneidung und der Verkehrs, ablenkung durch die strategische Bahn Graben- Röschwoog. Es fand keinerlei Verhandlung statt, und die Annahme erfolgte durch den Bürger- ausjchuß einstimmig. Wohl mag es noch Zweifler an der Notwendigkeit der Anlage und an deren weittragender Bedeutung geben, aber niemand will doch die Hoffnungen und Erwartungen der großen Mehrheit durchkreuzen, zumal die Wich- ligkeit einer Wasserstraße für das Emporblühen