Meitcrge zu Ar. 5 des Knzthäters.
Neuenbürg, Sonntag den 10. Januar 1897.
Die Börse.
Am 1. Januar 1897 ist das neue Börsen« gesetz in Kraft getreten. Die Börsenordnungen, welche die Organisation der Börsen regeln, sind vom Handelsminister rechtzeitig erlassen worden. In Berlin steht die Aufsicht der Börse den Nettesten der Kaufmannschaft zu. Die Leitung der Börse besorgt ein aus zweiunddreißig Mit- gliedern bestehender Vorstand; vierundzwanzig Mitglieder davon werden von der Korporation der Kaufmannschaft, acht von den Nettesten derselben gewählt. Der Börsenvorstand gliedert sich in zwei Abteilungen, den Vorstand der Fondsbörse und den Vorstand der Produktenbörse. Für die den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten betreffenden Angelegenheiten treten dem Vorstande der Produktenbörse noch hinzu fünf Vertreter der Landwirtschaft, die der Landwirtschaftsminister auf drei Jahre ernennt, und zwei Vertreter der Müllerei oder anderer zur Börse in Beziehung stehender Gewerbe, die vom Handelsminister auf ebenso lange Zeit ernannt werden.
Diese Bestimmung entspricht den berechtigten Wünschen der Landwirtschaft, sie soll allen beteiligten Kreisen einen Einfluß auf die Preisbildung an der Produktenbörse sichern. Bei der Feststellung der Preise für landwirtschaftliche Produkte sind nämlich nach der neuen Börsen- oidnung mindestens zwei der als Vertreter der Landwirtschaft, der landwirtschaftlichen Nebengewerbe oder verwandter Berufszweige ernannten Mitglieder des Börsenvoistandes zur Mitwirkung zu berufen. Nur die wirklich gezahlten Preise dürfen notiert werden; die Notierung eines nur auf Schätzung beruhenden Preises ist unzulässig. Beachtenswert ist auch die Bestimmung, daß in den amtlichen Preisüotierungen die bei den verschiedenen Getreidegatlungen (Weizen, Roggen, Gerste rc.) an der Börse hauptsächlich in Betracht kommenden Sorten noch Ursprung, Gattung, Qualitätsgewicht, Beschaffenheit. (Farbe, Trockenheit, Geruch) und Erntezeit (alte oder neue Ernte) bezeichnet werden müssen. Für jede dieser Getreidesorten sind außer dem höchsten und dem niedrigsten Preise, srweit es möglich ist, auch die gehandelte Menge anzugebev.
Der Streik der Getreidespekulanten.
Die Getreideipckulonten in Berlin, Stettin, Köln, Braunschweig, Holle und andern Orten haben als Grund für die Auflösung der Frucht- börsen und die Bildung von „freien Vereinigungen für den Getreide, und Produktenhandel" angegeben, die Bestimmungen des neuen Börsen- gesktzes seien mit ihrer Ehre unvereinbar. Die Börsenblätter sind voll von Klagen und suchen die Sache so darzustellen, als ob es sich dabei um einen unberechiigten Eingriff in die Rechte des Kaufmannsstandes handle. Ein Berliner freisinniges Blatt meint sogar, „diese Fehde sei in letzter Line nichts anderes, als eine neue Form des alten Kcmpfes des Landadels gegen das Bürgertum." ^«p.st dies eine Verdrehung der Thaljachcn.
Nicht um einen Kampf der Agrarier gegen den Kavsmannsstand handelt cs sich. Die Lage wird vielmehr durch die Thatsoche charokteri ifiert, daß der Durchführung eines Gesetzes, das verfassungsmäßig durch Mehrheitsbeschlüsse des Bundcsrates und des Reichstages zustande gekommen und vom Kaiser vollzogen ist, von einer Gruppe von Spekulanten Widerstand entgegen« gesetzt wird. Und warum? Weil noch dem neuen Börsengesetze auch ein paar Landwirte und Müller in den Börsenvorstand eintreten sollen. Das bisherige Verfahren, wonach die Spekulanten allein die Preise an der Börse fest- setzcn, ist aus Billigkcitspründcn beseitigt; nunmehr kommen auch die Müllerei und die Land- Wirtschaft zu ihrem Rechie, welche das allergrößte Interesse daran hoben, daß sic auf die Festietz ung der Preise einen entsprechenden Einfluß
nehmen dürfen. Das ist olles. Darum das I Aufbäumen des „gekränkten Ehrgefühls", darum der Streik und der Versuch, das Gesetz zu um- gehen
Es ist klar, daß sich das Verhalten der Getrcidespckulanteri vor dem umbefangenen Urteil nicht rechtfertigen läßt. Die Mär von der „gekränkten Ehre" findet keinen rechten Glauben; soll doch gerade das neue Börsengesetz dazu dienen, durch Ausscheidung unlauterer Manipulationen im Börsenhandel den Stand der Börscnbesucher zu heben und somit auch deren Ehre zu verbürgen. Man meint vielmihr, daß die Börsenspekulanten sich nicht in die Karten sehen lassen wollen. In der That ist es mit Jobdcrei unter dem neuen Börsengesetze vorbei. Die vielen Millionen, die die Börse in jedem Jahre durch Terminspekulationen und unlautere Preisnotierungen cingeheimst hat, werden jetzt den Produzenten, also den Landwirten, und den Konsumenten, also der großen Masse des Volkes, zu Gute kommen. Auch der reelle Handel wird besser als bisher gedeihen können.
Wie wird das Ende des Streis sein? Daß die Spekulanten mit ihrem Versuch, in den „freien Vereinigungen" das alte Spiel fortzu- sitzen, kein Glück haben, darüber herrscht eine Meinung; denn lediglich der wirtschaftliche Charakter des Geschäftes begründet die Anwendung des Gesetzes. Die Einrichtung der Börse bleibt aber stehen. Es werden also ehrliche Kauflcute die Stellen der unproduktiven Spieler an den Börsen einnehwcn. Letztere werden sich ein neues Feld ihrer Tyätigkeit suchen muffen, falls sie nicht vorziehen, zur altgewohnten Arbeitsstätte zurückzukehren und sich dem Gesetze zu fügen.
Sozialdemokratische Wandkalender.
Wie in srühern Jahren, so hat auch diesmal der „Vorwärts" seinen Abonnenten einen „historischen Wandkalender" als Angebinde gespendet, dessen blosse Röte nur zart seinen Inhalt andeutet. Das ganze ist ein mit rasfi- vierter Verschmitztheit ongefertigtcs Agitations- blatt, zu welcher der Kalender nur die Folie bildet. Denn unter einer Anzahl gleichgiltiger und unverfänglicher Daten ist alles Mögliche verzeichnet, was dazu geeignet erscheint, die Erbitterung großzuzsihcn oder den bösen Trieben der urteilslosen Massen Vorschub zu leisten.
So sind die gegen die Sozialdemokratie verhängten Maßregeln der Behörden, wie die Auflösung von Arbeitervercinigungen und die Schließung des Allgemeinen Arbeitervereins, so wie die Arbeitslosen-Demonstrationen gewissenhaft angeführt. Auch fehlen nicht die Attentate auf Monarchen, wie die auf Kaiser Wilhelm I., König Friedrich Wilhelm IV., Alexander II. von Rußland und Gustav III. von Schweden, die Ermordung Casars, Wilhelms von Oranien, Heinrichs IV., Peters III., Stambulows und des Präsidenten Carnot, die Hinrichtung Orsinis. der Bastillensturm in Paris, der Zeughoussturm in Berlin, sowie der Barrikadenkampf in Berlin, Frankiurt, Dresden und Paris. Ebenso wenig sind die Gedenktage der Mörder Hödel, Nobiling, Caserio, die Hinrichtung der Könige Karl I. von England und Ludwig XVI. von Frankreich, die Ermordung des Polizeirats Rumpf in Frankfurt a. M. unbeachtet geblieben — kurz alle die Akte der Blutgier und Grausamkeit, welche die entfesselte Leidenschaft charakterisieren, sind mit geflissentlicher Sorgfalt dem bunten Durcheinander von andern, harmlosen Notizen ungerecht worden.
Von den vaterländischen Gedenktagen ist natürlich gor keine Notiz genommen. Beispielsweise sucht man vergebens unter dem 22. März die Bemerkung, daß vor nunmehr 100 Jahren Kaiser Wilhelm der Große geboren wurde; statt dessen findet sich die für einen Sozialdemokraten weit wichtigere Nachricht: „1794 Hebert und
seine Anhänger guillotiniert" Daß am 2. Sept. 1870 183 000 Franzosen in Sedan die Waffen streckten und Kaiser Napoleon sich gefangen gab, hält die Sozialdemokratie nicht für bemerkenswert ; dafür stehen die Worte: „1895 Wilhelms II. Rottenrede beim Gardesestmahl." Der beklagenswerte Fall Brüsewitz durste unter dem Hetzmaterial selbstverständlich nicht fehlen. Unter dem 12. Oktober heißt es: „1896 Lieutenant Brüsewitz sticht in Karlsruhe Mechaniker Siep- mann von hinten nieder."
Es erweist sich dieser Kalender als ein Machwerk der Umstürzler, welches die Phantasie der Leser mit Gewaltthätigkeit, Blutthaten und revolutionärem Skandal erfüllen will. Das bringt besser noch, als viele Leitartikel es können, die innersten Absichten und Empfindungen der Sozialdemokratie zur Anschauung. Der Kalender enthält eine ernste Lehre für alle diejenigen, welche noch immer in dem Wahne befangen sind, die Sozialdemokratie sei keine Revolutionspartei, sondern eine friedliche Neformpartei.
Unterhaltender Heil.
Mit dem letzten Zug.
Novelle von Curt Heibrich.
(Schluß.)
Lena wischte mit dem Handschuh an den betauten Festen Aber ihre Gedanken waren nicht bei ihr. Sie waren nicht standhafter als die braunen kahlen Föhrenstämme da draußen, die in einem wilden rasenden Reigen den Bahndamm entlang zu tanzen schienen.
Sic bemerkte daher auch nicht gleich, daß oben von dem hintern Teile ihres amerikanischen Wagens, ein Herr vorgekommen war und mit einer leichten Verbeugung ihr gegenüber Platz genommen hatte.
Kurz vor elf würde sie zu Hause sein, sie hatte den letzten Zug genommen. Jetzt fuhren sie in Berlin ins Theater, Hertha mit ihrem Mann und Hauptmann v. B„ der in demselben Hause wohnte.
- Sie blickte bei diesem Gedanken müde auf. Ihr Gegenüber hatte sie schon eine Zeit lang still beobachtet.
„Guten Tag, gnädiges Fräulein," sagte er jetzt, „hätte ich geahnt, daß wir uns so nah wären, ich hätte mich schon früher in ihren Bannkreis begeben."
„Das wäre sehr schön gewesen. Herr Doktor, man wird leicht ein wenig melancholisch auf diesen einsamen Eisenbahnfahrten, besonders in diesen Gegenden". Der junge Arzt nickte zustimmend. „Und besonders gnädiges Fräulein, wenn man schon so allerhand melancholisches Gepäck in sich mit herumschleppt."
Lene antwortete nicht gleich.
Sie hatten sich Beide in Berlin öfters getroffen und sie war immer gern mit ihm zusammen gewesen.
„Sie machen nur eine kleine Reise, Herr Doktor?" fragte sie dann.
„O nein, ich habe Berlin so ziemlich Valet gesagt. Ich will mein Licht einmal in einem bescheideneren Kreise leuchten lassen. Und dann — ich bin müde."
„Müde? Das glaube ich nicht, das bilden Sie sich ein!"
Sic halte sich bei diesen Worten aufgerichtet und blickte ihn fast zornig an, so daß er sie er- staunt betrachtete.
„Sie glauben das nicht," sagte er lächelnd, „aber ich —"
„Nein, jetzt, wo ich wieder in meine Ver. bannung kehren muß. weiß ich, waS es heißt, in einer Weltstadt zu leben".
„Sie in Ihre Verbannung zurückkehren? Sie fahren noch Hause, gnädiges Fräulein?"
„Ja — aber lassen wir das!"
„Wie Sie wünschen." —
Sie fuhren dann weiter, schweigend, in das Land hinaus; immer dunkler wurde es; auf der