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von Stöcker, von Majestätsbeleidigung (was hier auch nicht vorkommt), vom württ. Landtag, Hegelmaier u. a. Das Schlimmste, was Herrn v. Gültlingen vorgeworfen wurde, war. daß er von Adel sei und auf dieses Geburtsrecht nicht freiwillig verzichte. Daß er am 10. März 1893 für Reform einer Militärstrafprozeßordnung auf Grund des öffentlichen und mündlichen Verfahrens im Reichstag als Redner eingetreten sei, konnte auf Vorhalt nicht geleugnet werden. Zum Schluß wandte sich Redner in dichterischem Schwung an die Nagolder, sie möchten den demokratisch-freiheitlichen Gedanken auch zum Durchbruch bringen, wie in Hirsau der junge, schöne Baum die Decke des Klosters durchbrochen habe. Schade, daß nicht die Ulme, sondern die — Franzosen einst das Dach dorr abgedeckt haben! — Bon dem, was die Wähler in unseren ländlichen Verhältnissen am allermeisten bewegt und bedrückt, von der wirtschaftlichen Not der Landwirtschaft und des Gewerbes sprach Herr Haußmann keine Silbe. Darauf kam dann in sehr verständlicher, zu Herzen gehender Weise Landtagsabgeordneter und Redakteur Schrempf zu reden. Er hatte sich auf Einladung verschiedener Bürger zur heutigen Wahlversammlung eingefunden. Die Demokratie sei, sagte er, im Grunde ihres Herzens frei- händlerisch und gegen den Zollschutz der Produkte des Bauern und Gewerbetreibende«. Herr v. Gültlingen sei für den Schutz der Landwirtschaft eingetreten. — Herr Fabrikant Schaible gab kurz und eindrucksvoll namens der national fühlenden Bürgerschaft die Erklärung ab, daß die Wähler des Hrn. v. Gültlingen mit ihm als einem überaus fleißigen, gewissen- haften, volksfreundlichen und erfahrenen Vertreter des Wahlkreises durchaus zufrieden seien und daß sie treu bleiben werden. Professor Wetzel verlas noch aus dem „Beobachter" Nr. 177, 31. Juli d. I. das Zugeständnis der demokratischen Presse: „Im Landtag galt Frhr. v. Gültlingen immer noch als einer der wenigen Privilegierten die noch die Selbstständigkeit der Ueberzeugung entschieden vertreten usw." Zugleich berichtigte er die Behauptung der Demokratie, daß die meisten Angehörigen der Reichspartei, der Hr. v. Gültlingen angehört, „Adelige" wären, dahin, daß thatsächlich unter 28 Mitgliedern 7 Adelige und 21 Bürgerliche seien.
Pforzheim, 5. Nov. Nachdem jüngst der hiesige Verein „Vorwärts", welcher treu zu seinem Führer Dr. Rüdt hält und nun aus der sozialdemokratischen Landesorganisation ausgetreten ist, in einer Versammlung hierüber öffentliche Erklärung abgegeben hatte, hielt nun auch der sozialdemokratische Verein, welcher zu Dreesbachs Fahne schwört, eine Versammlung, in welcher die Herren Opificius von hier und Keil von Mannheim gegen Rüdt und den Verein Vorwärts Stellung nahmen. Wer in dem Streit Recht behält, läßt sich vom unparteiischen Standpunkt schwer entscheiden. — Das Musikvereinskonzert, welches am letzten Montag im großen Museumssaale stattfand, führte ein hervorragendes Künstlertrio vor, bestehend aus den Herren Pauer, Zajic und Grünfeld, drei Namen, welche in der musikalischen Welt einen gar guten Klang haben. Noch besseren Klang als ihr schon berühmter Name hatte ihr grandioses Spiel, worin sich jeder der drei Künstler als Meister seines Instruments (Klavier, Violine und Cello) erwies. Musikdirektor Mohr, welcher das Konzert arrangierte, erwarb sich den lebhaftesten Dank der hiesigen Musikfreunde.
Pforzheim, 6. Novbr. In der heute Vormittag in der Schloßkirche stattgehabten Pfarrwahl wurde auf Vorschlag der Abhörkommission Stadtpfarrer van der Floe aus aus Schopsheim mit 66 Stimmen gewählt.
Pforzheim. 6. Nov. Der am vergangenen Montag hier abgehaltene Monatsvieh- und Pferdemarkt war mit ca. 70 Ochsen, 200 Kühen, 40 Kalbinnen, 90 Stück Jung- und Schmalvieh, 30 Kälbern, sowie 138 Stück Pferden beschickt. Von letzteren wurden 36 Stück verkauft und stellt sich der Durch- schnittspreis auf ca. 360 Mk. per Stück. Für einige Stücken zum Schlachten wurden bezahlt
80, 85 und 110 Mk., für einige Reit- und > Chaisenpferde wurden 580. 650 und als höchster Preis 910 Mk. per Stück bezahlt. Verkauft wurden weiter 18 Stück Ochsen und stellt sich der Zentner lebend Gewicht auf ca. 42 Mark. 34 Kühe (Durschnittspreis 260 Mk. per Stück.)
8 Kalbinnen a 200, 240 und 275 Mark per Stück, Jungvieh sind 30 Stück als verkauft notiert (Durchschnittspreis per Stück 165 Mk.) Für die verkauften 22 Kälber wurden per Stück im Durchschnitt 42 Mk. bezahlt. — Der heutige Schweinemarkt war mit 160 Ferkeln und 1 Läufer befahren; hiervon wurden 80 Ferkel zu einem Durchschnittspreis von 14 Mk. das Paar verkauft; für Läufer fanden sich keine Abnehmer.
Deutsches Weich.
Berlin, 6. Nov. Der Kaiser hat anläßlich des Besuchs des Königs von Portugal denselben in jeder Weife ausgezeichnet. Daß die Reise des Königs Carlos einen politischen Zweck hat, liegt auf der Hand. Ob es sich dabei blos um koloniale Angelegenheiten Portugals in Afrika rc. gehandelt hat, oder auch um eine eventuelle Unterstützung des Königs gegen die portugiesischen Republikaner wird sich später einmal zeigen.
Die Konferenz zur Beratung der Revision des Alters- und Jnvaliditätsgesetzes ist am Montag durch Staatssekretär Dr. v. Bötticher mit einer Begrüßungsansprache eröffnet worden Geheimrat v. Wödtke führte aus, die Selbstverwaltung der Berufsgenossenschaften habe sich sehr gut bewährt. Auch Präsident Bödiker erklärte, die Berufsgenoffenschaften und der Grundsatz der Selbstverwaltung hätten die Probe gut bestanden. Redner sprach sich gegen das Markenkleben aus und entwickelte die Ansicht, die Berufsgenossenschaften könnten den größten Teil des Alters- und Jnvaliditätsgesetzes dahin übernehmen, daß ein bestimmter Prozentsatz, etwa 1 Prozent, am Jahresschlüsse umgelegt und von den Genossenschaften eingezogen werde. Auch die meisten übrigen Redner sprachen sich über die Berufsgenossenschaften günstig aus.
Herr v. Hanneken, früher preußischer Offizier und seit einer langen Reihe von Jahren in einflußreicher Stellung in chinesischen Diensten, befindet sich seit einiger Zeit in Berlin. Wie verlautet hat er eine außerordentliche Mission und ist von seiner Regierung mit ausgedehnten Vollmachten versehen. Wie die „Voss. Ztg." erfährt, soll die chinesische Armee von Grund aus neu organisiert werden, und es erscheint als eine Frage kürzester Zeit, ob dies nach russischem, französischem oder deutschem Muster geschehen wird. Soviel steht fest, daß ein vor etwas über Jahresfrist aus dem deutschen Heere ausgeschiedener jüngerer Offizier dort bereits mit der Führung eines Truppenkörpers betraut ist, der etwa unserem Lehr-Jnfanteriebataillon gleicht.
Auswärtige, namentlich einige englische Blätter hatten es der deutschen Diplomatie zum Borwurf gemacht, daß sie in Konstantinopel auch gar nichts gethan habe, um die Pforte zu Reformen in Armenien zu bewegen. Darauf wird von deutschen Blättern offiziös geantwortet, daß Deutschland schon längst auf solche Reformen bei der Pforte hingearbeitet habe, wenn auch nicht in lärmender Weise, wie es die Engländer für gut befanden. Das Hauptbestreben Deutschlands in Konstantinopel gehe darauf hin, daß die dortigen Wirren ohne Einmischung einer fremden Macht durch die Pforte beigelegt würden, weil andernfalls der Anstoß zu unabsehbaren europäischen Konflikten gegeben werden könnte.
Berlin, 6. Nov. Der heutige „Vorwärts" , Nr. 270, wurde durch das Polizeipräsidium beschlagnahmt.
Prenzlau, 5. Nov. Der Kaufmann Springstein und dessen Schwester, Frau Bock, sind vom hiesigen Gericht zum Tode verurteilt worden und zum Verluste der bürgerl. Ehrenrechte. Die Verurteilten waren beschuldigt, die Ehefrau Springsteins und sechs nahe Verwandte, darunter die eigenen Eltern, vergiftet zu haben.
Karlsruhe, 7. Nov. Die „Karlsruher Zeitung" meldet: Der amtliche Bericht über die Krankheitsvorgänge und über die Sterblichkeit im Großherzogtum Baden für das 3. Quartal
1895 stellt die segensreichste Wirkung des Heilserums sowohl bezüglich der außerordentlichen Abnahme der Todesfälle als auch dadurch fest, daß das Serum auf die Ausbreitung der Krankheit von schwächender und herabsetzender Bedeutung zu erachten sei.
Mannheim, 5. Nov. Eine vom sozialdemokratischen Verein „Vorwärts" abge- haltene außerordentliche Mitgliederversammlung nahm nach kurzer Debatte folgende Resolution an: „Der sozialdemokratische Verein „Vorwärts" Mannheim erklärt sich mit dem Genossen Dr. Rüdt solidarisch, erklärt ferner die Anklage gegen denselben als persönliche Feindschaft, ebenso die Aburteilung Rüdts als Gewaltakt und .Ungerechtigkeit des Breslauer Parteitages, dessen Beschluß wir uns niemals unterwerfen, vielmehr uns veranlaßt sehen, unseren Austritt aus der sozialdemokratischen Partei zu erklären." (Die Freiburger Sozialisten wollen Rüdt auch nicht ganz fallen lassen).
Bruchsal. Vor einigen Tagen wurde aus dem hiesigen Männerzuchthans ein daselbst 32 Jahre lang eingesperrt gewesener Schwarzwälder entlassen, der jetzt 59 Jahre alt ist und demnach 27 Jahre zählte, als er ins Zuchthaus kam. Der Mann war seiner Zeit wegen Mord zum Tode verurteilt, vom Großherzog jedoch zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt worden, und jetzt, nach 32jähriger Zuchthaushaft wurde ihm durch die Gnade unseres Landesherrn die Freiheit geschenkt. Man kann sich vielleicht vorstellen, was der Mensch für Augen machte, als er nach so langer Abgeschlossenheit wieder ins Leben heraustrar. Am meisten soll ihm, wie man dem „Bruchs B." erzählt, ein an ihm vorüberjausender Velozipedist ausgefallen sein, bei dessen Anblick er in seinem Entsetzen einen Seitensprung machte; nicht minder auffällig erschienen ihm auch die vorübergehenden Damen mit ihren modernen Hüten, so etwas hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen.
Württemberg.
Stuttgart, 6. Novbr. Das königl. Hoflager wird am 14. November auf einige Wochen von Marienwahl nach Bebenhausen verlegt. Der dortige Aufenthalt wird zumeist zur Abhaltung von Jagden in den umliegenden Revieren benützt. Am 18. Nov. wird Se. Maj. der König von Sachsen in Bebenhausen ein- treffen und einige Tage Jagdgast Sr. Maj. des Königs sein.
Stuttgart, 6. Nov. Mit dem Herannahen des Spätherbstes machen sich einige Stuttgarter Zeitungskorrespondenten regelmäßig das Vergnügen, auf eigene Faust den württemberg- ischen Landtag einzuberusen und zwar immer wieder auf andere Termine, ohne daß die Staatsregierung irgend etwas davon wüßte. So ist kürzlich in verschiedenen Blättern der 26. Nov. als der Tag des Wiederzusammentritts unserer Stände bezeichnet worden. Die Slaatsregierung hat aber über diese Angelegenheit noch gar keinen Beschluß gefaßt.
Aus Stuttgart wird geschrieben: Während im 12. württ. Reichstagswahlkreis der demokratische Kandidat Augst aus Gerabronn bis jetzt noch keinerlei Gegenkandidat gefunden hat, ist der Kampf im 7. württ. Wahlkreis Herrenberg, Calw, Nagold und Neuenbürg umso heftiger entbrannt. Das Zentrum hat Herrn Gröber als Zählkandidaten ausgestellt unv so hat der 7. Wahlkreis nicht weniger als 5 Kandidaten. Im 12. Wahlkreis Crailsheim, Gerabronn, Künzelsau und Mergentheim ist der demokratische Kanbididat Augst seines Zeichens eigentlich Kupferschmied, hat aber längst sein Geschäft in der Richtung der Gas- und Wasserleitungs- Technik erweitert und nach seinen eigenen Angaben oft an vier und noch mehr verschiedenen Orten seine Arbeiter in Thätigkeit, nach Venen er selbstverständlich immer wieder sehen muß. Wie der Mann bei einer derartigen Geschäftsüberhäufung auch noch dem Reichstag in Berlin soll anwohnen können, ist nicht recht klar. Nun, zu Hause kann er mindestens ebensogut bleiben, als sein Vorgänger Kaufmann Pflüger von Creglingen.