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Aeilcrge zu Wr. 160 des Knztbäl'ers.

Neuenbürg, Donnerstag den 10. Oktober 1895.

Ausland.

Paris, 6. Okt. Aus Epernay wird be­richtet: Ein hier lebender pensionierter Maschinist der Ostbahn gewann den Haupttreffer des Pariser Stadtanlehens im Betrage von 100000 Franken. Der glückliche Gewinner hat seinem im Elsaß wohnhaften Bruder hiervon 50000 Franken überlassen.

Paris. 8. Okt. Die Brüder Rothschild spendeten 100000 Frs. sür die aus Madagaskar heimkehrendcn Kranken und Verwundeten.

London, 8. Okt. Wie dem Reuterschen Bureau aus Port Louis gemeldet wird, trafen am 30. September Kuriere der Königin der Hovas in Vätomandry mit der Meldung ein, daß die Franzosen am 27. Sept. Antananarivo eingenommen hätten. Der Premierminister und der Hof seien nach Ambosimtra in der Provinz Betstleos geflohen. Aus Tamatave wird ge­meldet, Farafatra sei am 3. Oktober beschossen worden.

New-Jork, 7. Okt. Einer Meldung aus Havanna zufolge sind bereits 45 Leichen im Ueberschwemmungsgebiet aufgefunden worden. > Der Schaden beträgt Millionen; die Eisenbahnen haben stark gelitten. In Lornin (Ohio) brach während der Grundsteinlegung einer Kirche die Zuschauertribüne zusammen; 5 Personen sollen getödet, viele verletzt worden sein, 11 davon tödlich. Auch bei der infolge des Unglücks aus­gebrochenen Panik wurden einige Personen ge­tötet.

Die mißliche militärische Lage des Congo - staates veranlaßt das Generalgouvernement des Congostaates zu besonderen Anstrengungen behufs Beseitigung dieses Zustandes. Es ist die Aushebung von 6000 eingeborenen Soldaten beschlossen und auch bereits begonnen worden, welche ein vom Baron Dhanis zu befehligendes Expeditionskorps bilden sollen, bestimmt, das infolge der letzten Eingeborenen-Aufstände etwas erschütterte Ansehen des Congostaates an den Ufern des Congos wieder zu befestigen. Der Generalgouverneur des Congostaates, de Wahis, ist zur Zeit mit der Bildung des genannten Expeditionskorps beschäftigt, freilich wäre dessen Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit erst noch zu erproben.

Unterhaltender Heil.

Der gute Onkel.

Humoreske von Georg Grad.

(Nachdruck verboten.)

(Fortsetzung.)

Lieber Paul," entgegnete Franz mit kläg­licher Stimme, indem er seinen Vetter mit einem von Schreck und Erstaunen erfüllten Gesicht ansah.Du weißt, daß ich Dir bisher niemals einen Gefallen abgeschlagen habe, aber ich sollte? . . .«

Du bist meine einzige Hoffnung, Franz, wenn auch Du mir Deine Hilfe verweigerst, bin ich verloren."

Ich bringe cs aber nicht übers Herz", sagte Werner.

Warum denn nicht? Er ist herzensgut und Du bist ja sein Liebling. Hier gilt es, Deinen Vetter aus einer großen Klemme zu befreien, und da wirst Du mir sicher Deinen Beistand nicht versagen. Ich will mich künftighin auch .etwas mehr einschränken, um nicht immer wieder in dieser gräßlichen Finanznot zu sein, gegen welche die der Türkei das reine Kinderspiel ist."

Aber was wird er sagen," fragte Franz kopfschüttelnd,wenn ich ihm mit einem der­artigen Anliegen komme? Er wird sehr böse werden."

Es ist ja das erste Mal von Deiner Seite. Nicht wahr, teuerster Freund und geliebter Vetter, Du reißt mich noch einmal aus der Not? Nun, wenn Du denn durchaus nicht willst," fuhr er fort, als Franz mit der Antwort zögerte,

so muß ich mich ja meinem Schicksal überlassen, mag daraus werden, was da will; meinetwegen." Er sprang hastig vom Sofa auf und trat an sein Wandschränkchen und holte ein zierliches Terzerol hervor, welches er sorgfältig von allen Seiten betrachtete und spielend in der Hand wog Dabei blinzelte er jedoch verstohlen nach seinem Vetter hinüber, der heute aus dem Ent­setzen gar nicht herauskam.

Paul!" rief dieser erschreckt,was hast Du vor?"

Ich? Nichts," antwortete dieser.

Wozu hast Du das Terzerol angeschafft?"

Ach, es ist nur auf olle Fälle," erwiderte dieser mit verblüffender Gleichgiltigkeit.Es könnte ja einmal der Fall cintreten, daß die Umstände es einem wünschenswert erscheinen lassen, eher die Freuden des Paradieses zu kosten, als Freund Hein es bestimmt hat."

Paul, Du willst doch damit nicht etwa andeuten, daß Du jemals auf diesen Gedanken kommen könntest?"

Warum denn nicht? fuhr der Fuchs fort, indem er sich an dem Entsetzen seines Herrn > Vetters weidete.

Paul, bist Du von Sinnen?"

Durchaus nicht; allein, wenn man keine Möglichkeit vor sich sieht, dem Verderben zu entgehen, so ist meiner Ansicht nach ein Schuß das beste Mittel."

Liebster, bester Paul", rief Franz, indem er aussprang und dem Dicken um den Hals fiel, ich will ja alles für Dich thun "

Der Knalleffekt hat also seine Wirkung nicht verfehlt," lachte Franz vor sich hin.

Welche Summe nanntest Du Doch?" fuhr Franz fort.

Netto dreihundert Mark."

Dreihundert Mark? Das ist viel Geld; nun, ich verspreche Dir, alles aufzubicten, um das Geld von ihm zu erhalten. Hoffentlich wird er meine Bitte nicht abschlagen."

Selbstredend nicht."

Aber was soll ich ihm denn sagen, wofür ich das Geld brauche? Er weiß doch, daß ich bisher immer sehr sparsam war."

Eine lobenswerte Eigenschaft, die Du Dir hoffentlich auch fernerhin erhalten wirst," scherzte Paul.

Ich weiß wirklich nicht, was ich ihm gegen­über zur Motivierung Vorbringen soll. Du weist, es wird mir sehr schwer, die Unwahrheit zu sagen."

Halt, ich hab's!" rief Paul aus.Du schützt die Bezahlung von Ehrenschulden vor, giebst an, daß Du Dich unglücklicherweise hast verführen lassen, Dein Glück im Spiel zu er­proben und daß Du dabei von der launenhaften Göttin schmählich im Stich gelassen worden bist. Du seiest furchtbar erregt gewesen, hättest Dich stark engagiert und cs fehle Dir die genannte Summe zur Deckung der morgen fälligen Ver­bindlichkeit."

Ach, Paul." rief der Lange, dem schon jetzt der Helle Angstschweiß auf der Stirn stand, wenn ich diese Komödie nur glücklich zu Ende bringe; Du weißt, ich bin ein miserabler Schau­spieler. "

Es ist gar nicht schwer, lieber Franz, ich versichere Dir, Du wirst Deine Rolle vortreff­lich spielen, wenn Du Dir die Situation recht deutlich ausmalst. Schildere ihm, wie Du Dich zuerst gesträubt, am Spiel teilzunehmen, wie Du dann mit kleinen Einsätzen pointiert und gewonnen hast, daß Du, durch den Gewinn kühn gemacht, in Deiner Unkenntnis immer größere Summen gewagt, bis schließlich das Glück umschlug und Dir nicht nur den ganzen Gewinn raubte, sondern auch noch einen baren Verlust zufügte, zu d-ssen Deckung Du des Geldes dringend bedarfst."

Paul, da falle ich entschieden aus der Rolle."

Wenn Du Dir nur ein wenig Mühe

giebst, ist das gar nicht möglich. Male ihm Deine Verzweiflung aus, versichere hoch und teuer, daß Du es Dir nie wieder wirst einfallen lassen, zu spielen, dann wirst Du zwar eine längere Litanei über jugendlichen Leichtsinn, Charakterschwäche und vieles andere mehr mit anhören müssen, allein wir werden unfern Zweck erreichen. Er wird brummen, aber mit den blauen Scheinen Herausrücken, deren ich so dringend bedarf."

Ich will versuchen, die Rolle so gut als möglich zu spielen, aber ich muß Dir aufrichtig sagen, Paul, wenn ich irgend ein anderes Mittel wüßte, Dir Geld anzuschaffcn, würde ich es be­nutzen. Er ist so gut und es ist doch sehr un­recht von mir, ihn so schmählich zu hinter­gehen."

In Deinen moralischen Anwandlungen bist Du schrecklich, mein lieber Vetter," versicherte Paul, der einen Rückfall seines Verwandten in die frühere Opposition befürchtete.Ich ver­sichere Dir. daß alles gut gehen wird, gestalte die Szene nur etwas dramatisch lebendig", und nach dem Grundsätze,Man muß das Eisen schmieden, so lange es warm ist," zog er den langen Vetter, der kopfschüttelnd und seine Rolle memorierend neben ihm hertrottete, nach der Wohnung des bedauernswerten Opfers dieser vetterlichen Jntrigue.

Der scharfe Nordost heulte durch die meist engen Straßen der alten Hansestadt und ließ die Häuser in ihren Grundfesten erzittern. Pras­selnd schlug der Regen gegen die Fensterscheiben und durchnäßte die Passanten, welche ihr Beruf zwang, das Haus zu verlassen. An solchen Abenden, wie sie der Beginn des Winters mit sich bringt, sind Hamburgs Straßen beinahe wie ausgestorben. Das rege Leben und Treiben, welches sich in den verkehrsreichen Straßen der Altstadt, ^>em großen Straßenzuge zwischen Hamburg und Altona und am Hafen entfaltet, ist verschwunden. Die Tausende von Menschen, die sich sonst, ihren Geschäften nachgehend, in buntem Gewoge durcheinander drängen, flüchten, wenn sie noch ein Plätzchen finden, in die Ve­hikel, die unzähligen Pferdebahnen und Omnibusse, welche trotz Regen und Schnee den Verkehr vermitteln.

(Fortsetzung folgt.)

Gegen die SchundUtteratirr.

Das Lesen bildet den Geist lerne lesen!" Diese Mahnung hat man als Kind oft von Eltern und Lehrern hören müssen, ohne daß man sich in jener Unschuldszeit viel Gedanken darüber gemacht hätte; man ging gar manches Mal leicht darüber hinweg und dachte einfach: ob Du das kannst oder nicht.

Das Lesen bildet den Geist! Allerdings; doch kann es auch das Gegenteil bewirken und anstatt bilden, verbilden. Zum Beispiel: ein für alles Gute und Schöne empfänglicher Mensch, dem ein lehrreiches Buch gewiß auch gute Dienste leisten würde, erhält von einem Austräger Hefte, deren Inhalt ein sinnlich erregendes Erzeugnis eines gewissenlosen Litteraten ist. Ein ver­lockender Titel, ein abgeschmacktes, buntes Bild, mit wenigen, den Inhalt der Geschichte andeut­enden Worten, fallen ihm in die Augen, Er blättert das Heft durch. Schmutzige Anspielungen, Mord, Brand, Ehebruch und brutale Charaktere bannen den Sinn. Der Leser wird, je jünger, je schneller von einer Art seelischer Lähmung erfaßt. Lauter und lauter verlangt eine Stimme, die ungewöhnlichen, meist aus dem Rahmen der Natürlichkeit heraustretenden Zustände weiter mit zu durchleben. Das Heft wird lange ange­sehen, um und umgewendet; es ist, als könne er sich davon nicht trennen.

Ach, nur zehn Pfennig alle Woche? Ich lese es!" Der Entschluß ist gefaßt. Der Austräger erscheint wieder. Mit einer an Gier grenzenden Hast wird nun der Inhalt der kom­menden Hefte verschlungen. Das Blut fängt