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Leben suche, finde und stärke, daß er sich fühlt nicht als allein stehend, sondern als ein Glied des großen Volkes, zu dem er gehört, dessen Sprache er spricht, dann aber auch der ganzen Menschheit, als ein solches Glied, das durch eifrige Arbeit und geistige Befähigung, gerade so wie jeder andere Bürger, falls diese Beding» ungen vorhanden sind, sein Los verbessern und seines Glückes Schmied werden kann. Es ist also dieser letzte Gesichtspunkt die geistige Heb­ung vornehmlich des Arbeitervolkes von einer geradezu nationalen Bedeutung, sofern das ganze Volk zu einem gleichartigeren Ganzen gehoben und gemischt werden soll, sofern das Volk in allen seinen Ständen eine höhere Anteilnahme an der Kultur, wie sie durch die Zeiten ge­worden ist, bekommen soll. Das ist ein großes erhabenes Ziel, des Strcbens aller Edlen zu allen Zeilen wert. Ob cs je erreicht werden kann? Aber darf uns dieser Zweifel abhalten, selbst den Versuch zu machen, es zu erreichen oder wenigstens erreichen zu helfen?

Der sozialen Notlage abzuhelfen sind in ihrer Weise die einzelnen Staaten und besonders unser deutsches Reich längst schon bestrebt durch Wohlfahrtseinrichtungen, durch die Kranken», Jnvaliditäts-, Alters- und Unfallversicherung u a.

Aber dürfen wir nur immer alles von dem Staat erwarten? müssen nicht auch wir selbst Hand anlegen zur Besserung in irgend einem Teil? Und giebt es da keinen Punkt, der ohne große Opfer an Geld und Zeit, durch bloßes Anderswerden von uns selbst, eine Besserung er­fahren und dadurch gewiß auch wesentlich bei­tragen könnte zur Gesundung unserer sozialen, nicht blos, sondern Hand in Hand damit unserer politischen Verhältnisse? Ja, gewiß. Und dieser Punkt ist unser Familien- und unser Gemeinde- Zusammenleben. Und da möchte man in Be­ziehung auf das elftere fast sagen, daß der gestrige vomEvang. Arbeiterverein" ver­anstaltete Familien-Abend nicht blos ein Versuch der Ausführung, sondern fast die Ver­wirklichung des Gedankens gewesen ist. Wer es nicht gesehen hat oder nicht hat sehen wollen, der höre und lese, wie der gestrige Abend sich gestaltet hat. Die, welche dabei gewesen sind, haben sich mit Freude und Genugthuung ge­sagt, daß, wie dieses Jahr 1895 auch in anderer, in patriotischer Beziehung einen neuen Gewinn gezeigt und gezeitigt hat, wie auch unsere Kinder in lang entbehrter gemeinsamer Weise ein rechtes, schönes Kinderfest gefeiert haben, daß so auch der Sonntag Abend eine würdige Fortsetzung der Bestrebungen des Zusammengehens und des Zusammenhaltens, des gegenseitigen Vertrauens von hoch und nieder, wie dies ja so schön in jenen Jubeltagen zum Ausdruck gekommen ist. gewesen ist. Also in folgendem eine kurze Schilderung:

Ja, gar vieles Herrliches, Heiteres und Ernstes konnte man an diesem Sonntag Abend im Gasthof zumBären" hören. Nach kurzen Begrüßungs - Worten des Herrn Vorstands, Meisters Kade, und dem Gesang des ersten Verses vonEin feste Burg ist unser Gott" kamen die Glanzpunkte des Abends zwei überaus packende, mit frischer Wärme und oft sprudelndem Witze gehaltene Vorträge, der eine von Herrn Stadlpfarrverweser Löbich: über Luther und sein Familienleben, der zweite von Herrn Schullehrer Braun: über Neuenbürg's Vergangenheit. Als Ge­samtergebnis des ersten Vortrags, der höchst interessante Einblicke in Luther'S Mönchsleben, in sein erstes Eheleben, seinen Haushalt, seine Kinderzucht, seine Gastfreundlichkeit und seine Fröhlichkeit und Frömmigkeit bol, erwähne ich: Luther ist uns ein Vorbild in Gottesfurcht und echter Frömmigkeit, in Fleiß und Verträglichkeit, im Ernst ln der Kindererziehung und zuletzt das Vorbild eines frischen, fröhlichen Sinnes. Der zweite Vortrag zeigte, wie schon in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens kein gütlger Stern über Neuenbürg leuchtete, wie es viel­fach der Streit- und Tauschgegenstand aller möglichen Fürsten und Länder war. Besonders viel machte Neuenbürg im 30jähr. Krieg durch, aber auch von Moreau's Horden hat es, wie bas ganze Enzthal Schreckliches erlitten. Dazu

kam der große Brand im Jahre 1783 am 22-/23. Mai. der 72 Häuser in Asche legte; von diesem Unglück hat sich Neuenbürg lange nicht erholt. In das Jahr 1803 fiel die Gründung der Sensenfabrik u s w. Eingestreute Episoden über das Haugwitz Schlößle. über eine andere Gespenster-Geschichte, über einen Ueberfall der Stadt durch 12 badische Reiter und manches Andere wurden überaus dankbar ausgenommen.

Außer durch diese beiden höchst anregenden Vorträge wurde die Stimmung der Anwesenden durch weitere gemeinsame Gesänge (Deutschland über alles), durch verschiedene Doppelquartette (Heilige Nacht; Im schönsten Wiesengrunde; Nach der Heimat), vorgetragen von Vereinsmitgliedern, welche auch dem Liederkranz angehören, durch Aufführung eines kleinen Luststücks:Die Wette" (durch die Jünglinge Kainer, Essig, Schönthaler, Großmann, Blaich). durch verschiedene Gedicht- Vorträge, wiePrinz Christofs Gehorsam gegen seinen Vater" (durch Mitglied K. Kröner)Der Kaiser und der Abt" (durch Jüngl. Gg Kläger), Der Taucher" (durch Rud. Kainer) und in später Stunde zweier Gedichte in schwäbischer Mundart (durch Mitgl. Fritz Schmid) eine überaus fröh­liche und gemütliche.

Auch der Frauen wurde noch gedacht, welche durch ihr zahlreiches Erscheinen ein richtiges Verständnis für die Bestrebungen des Vereins gezeigt und dem Abend erst die volle Weihe ge­geben hatten. So war der Abend ein in allen Teilen gelungenerFamilien-Abend". Die Be­friedigung der Frauen ist aber auch in doppelter Weise erklärlich: Sonst, bei allen möglichen Feiern zu Hause gelassen, als Hüterinnen des­selben, sollen sie durch diese Familienabende, die natürlich nicht alle 8 Tage stattfinden sollen, hereingezogen werden in das Raten und Thalen der Männer: das ist eine Genugthuung für sie zweitens aber darf man es ihnen wohl zu. geben, daß durch ihre Anwesenheit der Ton vielfach ein besserer wird: das ist eine Freude für sie.

Daß ober durch solches Sich aussprechen und Sichkennenlernen, durch solches gemeinsame, unterschiedslose Mitwirken zum Gelingen eines solchen Volksabends sich auch Früchte zeitigen werden für unser soziales und politisches Leben, wer wollte das bezweifeln? Also Heil u. Segen allen derartigen Bestrebungen, mögen sie nun von evang. Arbeitervereinen, oder sonst einem Verein ausgehen!

Neuenbürg, 1. Okt. In den letzten Wochen ging das Gerücht um, ein Mann namens Praß aus Arnbach mit ganz entsetzlich ver­wildertem Aussehen halte sich in den Waldungen der Umgebung auf und habe da und dort (so z. B. in der Nähe von Waldrennach u. Birken­feld) plötzlich auftauchend, mehrere Personen aufgcschrcckt und dieselben in seinem unglücklichen Dasein um Nahrungsmittel angegangen, um ebenso plötzlich wieder zu verschwinden und sich im Walde zu verstecken. Viele beunruhigte Ge­müter glauben es mit einem unheimlichen Wald­menschen zu thun zu haben; manche wollten ihn nicht nur mit eigenen Augen gesehen, sondern auch wirklich von ihm grauenhaft erschreckt und belästigt worden sein. Da das Gerücht, wie dies immer so geht, in allen möglichen und, unmöglichen Variationen fortgepflanzt wurde, so wurden nalurgemäs immer weitere Kreise davon ergriffen und es wäre in einzelnen Ge­meinden bald so weit gekommen, daß Niemand mehr allein sich in's Freie wagte. Wollte man der Sache auf den Grund gehen, so lauteten die Angaben der Einzelnen ebenso widersprechend wie vielseitig. So kam es, daß es den Polizei- behörden und besonders der Landjägermannschaft, die die Sache mit Energie zu verfolgen sich veran­laßt sah. ihr Amt recht schwer gemacht wurde und daß die Suche resultatlos verlief. Aus dem Grunde der sich so widersprechenden An­gaben, die noch dazu oft widerrufen wurden, konnten wir der ganzen Spukgeschichte keinen ernsthaften Glauben betmessen und nahmen des­halb in unserm Blatt keine Notiz, besonders um nicht auch noch weitere Kreise in Auf- regung zu versetzen. Heute sind wir nun auf Grund amtlicher Benachrichtigung in der Lage , mitzuteilen, daß der fragliche Mann, namens

Proß, nach Mitteilung des Stadtpolizeiamts Tübingen sich bereits seit 15. August ds. Js., also seit vollen sechs Wochen daselbst in Arbeit befindet. Nach- schrift vom 2. Oktober Soeben stellt sich der ver­meintliche Missethäter, dessen Vater auf die obenerwähnte Benachrichtigung hin selbst nach Tübingen gereist ist, um nach dem Sohne zu sehen und ihn mitzubringen, damit er sich zeigen könne, leibhaftig bei uns vor. Es ist der ledige, 22 Jahre alte Ernst Proß, früher Gold­arbeiter, Johann Proß Sensenschmieds Sohn, von Arnbach, der den Eindruck eines durchaus geordneten jungen Mannes macht. Derselbe ist, wie schon erwähnt, seit 15. Aug. bei Bauunter­nehmer Beck in Tübingen beschäftigt und war unmittelbar vorher in Stuttgart. Er begiebt sich zur Beruhigung der Gemüter alsbald wieder nach Tübingen, um dort weiter sein Brot auf ehrliche Weise zu verdienen. Was seine Person anbelangt, so dürfte sich nun der ganze Spuk in der angenehmsten Weise auflösen. (Zur Entschuldigung gewisser Personen, die denUn­heimlichen" wirklich gesehen zu haben angeben, läßt sich vielleicht noch anführen, daß es nicht so ganz undenkbar scheint, daß ein anderes Individuum gerade in Folge der entstandenen Panik zu der unseligen Idee gekommen sein mag,, sich die dem gefürchtetenProß" zuge­dachte Rolle anzueignen und sich so einen schlechten Witz zu leisten.

Deutsches Weich.

Berlin, 30. Sept. DieDeutsche Warte" berichtet über die Bildung eines Bundes der Industriellen, an dessen Spitze bisher etwa 300 angesehene Industrielle aller Berufsarten stehen, die demnächst einen gemeinsamen Aufruf erlassen wollen. Der Bund richte sich keineswegs gegen die Börse oder sonstige Handelsinteressen, son­dern gegen eine einseitige Vertretung der In­dustrie durch einige Großindustrielle.

Die Zeitungsnachrichten über die angeblich geplante Abänderung des preußischen Vereinsgesetzes behufs Bekämpfung der so­zialdemokratischen Ausschreitungen lauten wider­spruchsvoll. Während z. B. dieNat. Ztg." erst kürzlich mit anscheinender Bestimmtheit zu melden wußte, daß man sich in Regierungskreisen durchaus nicht mit dem Gedanken einer Revision der in Preußen bestehenden Vereinsgesetzgebung trage, versichern andere Blätter, es sei ernstlich eine Abänderung des Vereinsgesetzes zu oben genanntem Zwecke beabsichtigt, voraussichtlich werde noch im Oktober ein Ministerrat in dieser Frage stattfinden. Nun, es muß sich ja bald zeigen, wer bei diesen sich entgegenstehenden Be­hauptungen Recht hat.

Von fortdauernd günstigem Einfluß ist, wie Berliner Zeitungen schreiben, die Verkürzung der Dienstzeit auf die Zahl der Bestraf­ungen beim Militär. Das tritt ganz offen­kundig beim Gardekorps zutage. Die Truppen­teile dieses Korps nehmen die mit Festungshaft bestraften Mannschaften, im Gegensatz zu den Linienregimentern, nicht wieder bei sich auf, sondern weisen sie ausnahmslos der Disziplinär- abteilung in Spandau zu, die eigens zu diesem Zweck gebildet ist, und bei der die bestraften , Leute ihre Dienstzeit dann vollenden müssen. Die Disziplinarabteilung war bis vor 2 Jahren immer 90 bis 100 Mann stark; meist waren es Mannschaften im dritten Dienstjahr, die sich zu schweren Vergehen Hinreißen ließen. Seit zwei Jahren, nach Einführung der zweijährigen Dienstzeit, hat die Stärke der Disziplinarabteil- ung beständig abgenommen und letztere zählt jetzt nur noch 40 bis 50 Mann. Die augen­fällige Verminderung der Straffälle wird in militärischen Kreisen rückhaltlos als eine Folge der zweijährigen Dienstzeit anerkannt.

Wiesbaden. Der Kirchenoorstand und die Vertretungen der drei hiesigen evang. Ge­meinden hatten seiner Zeit beim Kultusminister gegen den Erlaß des hiesigen königlichen Kon­sistoriums Beschwerde erhoben, wodurch den Geistlichen verboten wird, im Ornat einer re­ligiösen Beerdigung von Personen beizuwohnen, die ihre Feuerbestattung angeordnet haben. Auf diese Beschwerde wurde nunmehr aus Berlin ein abschlägiger Bescheid erteilt.