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AeUage zu Mr. 90 des Gnzthälers.

Neuenbürg, Sonntag den 9. Juni 1895.

Deutsches Weich.

Münster. Die seit langen Jahren in den Schulen gebräuchliche Schiefertafel soll nach einer Verfügung der hiesigen Regierung vom 17. April allmählich in Wegfall kommen bezw. der Gebrauch derselben nur noch beim Rechnen gestattet sein. Bei allen übrigen schriftlichen Arbeiten der Kinder soll das vorgeschriebene Diarium (Konzeptheft) schon vom dritten Schul­jahre an benutzt werden.

München. Gelegentlich des heurigen Münchener Oktoberfestes soll ein bayerisches Volkstrachtenfest abgehalten werden. Man rechnet auf 15002000 Teilnehmer und sollen die Kosten mindestens 20000°M> betragen, zu denen die Stadt beisteuern soll. Der kürzlich ver- storbene Privatier Stuhlberger vermachte der Stadtgemeinde (städtische Armenpflege) 50000 Mark, deren Zinsen alljährlich an seinem Namens­tage verteilt werden sollen.

Karlsruhe, 25. Mai. Der große Seifenschwindel, dem Ende vorigen Jahres eine bedeutende Anzahl kleinerer Geschäftsleute zum Opfer fielen, hat vor der hiesigen Strafkammer ein gerichtliches Nachspiel gefunden. Angeklagt waren wegen Betrugs der Seifen-Fabrikant Luck- hart in Kassel, die Hausierer Hifferich und Schäfer aus Niederklein. Die beiden Hausierer waren unter Vorzeigung einer Prima Kern- Seife zu den Geschäftsleuten gekommen und hatten den Zentner zu dem außerordentlich billigen Preis von 15 Mk. angeboten. Die Leute bestellten natürlich, da die Seife sonst 22 Mk. per Zentner kostet. Die Ware wurde nur gegen Nachnahme geliefert und gegen Quitt­ung. die von Hifferich mit gefälschter Unterschrft versehen war, weshalb jetzt es auch erst gelang, den Thäter zu erwischen. Die vorgelegte Seife war derart schlecht, daß nichts davon verkauft werden konnte. Nachdem dieselbe einige Tage gelagert war, verdunstete sie derart, daß nur geringe Teile von Salz und Soda übrig blieben. Das in der Verhandlung erhobene chemische Gutachten bezeichnet die Ware als eine Schund­ware ersten Ranges, u. a. als aus 70°/o Wasser­gehalt und 6°/o Fettsäure zusammengesetzt, während der Fcttsäurebestand 60°/» und der Wassergehalt höchstens 7°/« hätte betragen dürfen. Die Angeklagten wurden sämtlich des Betrugs schuldig gesprochen, weil sie unter Vorspiegelung falscher Thatsachen eine Ware, wissend, daß sie schlecht und schädlich ist, als gut in den Handel brachten. Luckhart erhielt 1 Monat Gefängnis und 1000 Mk. Geldstrafe, Hifferich 4 Monate Gefängnis, Schäfer 6 Wochen Gefängnis. Gegen Hifferich war schon einmal von Seiten der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Betrugs eröffnet worden, das aber wegen mangelnder Beweise eingestellt wurde.

laß gefunden hatten.

Innerhalb wie außerhalb des Gerichts-

gebäudes herrschte aber die lebhafteste Unter­haltung. Aus M . .. und der Umgebung waren Neugierige in großen Schare« herbeigekommen, die bis zu dem Momente, wo sie selbst Hörer sein würden, die Rolle der Erzähler übernommen hatten und mit wichtiger Micpe berichteten, was sie von der Jugendgeschichte des Angeklagten wußten, an dessen Schuld niemand zweifelte, für den man aber trotzdem ein aus Grauen und Mitleid gemischtes Interesse empfand.

Die großen Thüren des Gerichtsgebäudes wurden geöffnet. Die glücklichen Eigentümer von Karten beeilten sich, zu ihren Sitzen zu ge­langen, wodurch sich die draußen stehende Menge indeß nicht sichtlich verminderte, und diese unter­hielt sich nun damit, die sich einsindenden Ge­schworenen und Zeugen zu mustern.

Das sind die Eisenbahnbeamten, die auf das Notsignal herbeikamen", hieß es;der Herr dort ist der Arzt, der zufällig im Zuge war; dort kommt die Rehfeld'sche Dienerschaft mit der alten Kammerfrau; und jetzt fährt Frau v. Reh­feld mit ihrer Mutter vor," flüsterte man, als ein Wagen sich im raschen Trabe näherte, war aber sehr enttäuscht, daß nur eine alte Dame ausstieg, welche das bleiche, vergrämte Gesicht zu Boden gesenkt hielt und sich auf den Arm eines Dieners stützte.

Die Mutter kommt allein, wo ist die Tochter?" ging es fragend durch die Reihen.Sie ist die Hauptzeugin."

Sie ist verhaftet, sie ist mitangeklagt," kam die Antwort von der einen Seite.

Nein, sie ist entflohen und wird steckbrief­lich verfolgt," berichteten andere.Ihre Mit­schuld ist so gut wie erwiesen; es wird dem Gerichte zum schweren Vorwurf gemocht, daß man sie so lange auf freiem Fuße gelassen hat."

Die Rehfeld'schen Verwandten haben be­reits den Antrag gestellt, das hinterlassene Ver­mögen mit Beschlag'zu belegen, da man doch unmöglich der Mörderin die Verfügung darüber überlassen könne."

Es war in allen diesen Dingen ein Körnchen Wahrheit. Erna's rätselhaftes Verschwinden hatte ihre Mutter mit der bangsten Besorgnis erfüllt und auch dem bereits gegen sie erhobenen Verdachte neue Nahrung gegeben; besonders war es die alte Dorothea, die mit lauter Stimme ausschrie, die junge Frau sei im Bewußtsein ihrer Schuld entflohen. Es hatte auch seine Richtigkeit, daß Seitenverwandte, die durch das Testament des verstorbenen Herrn v. Rehfeld sich schwer geschädigt glaubten, Versuche gemacht batten, den günstig erscheinenden Augenblick zur Vernichtung des Testaments zu benutzen; noch waren keinerlei Schritte gegen Erna geschehen und konnte nichts gethon werden, da sie nichts begangen hatte, was dieselben zu rechtfertigen geeignet war.

Sie befand sich auf freiem Fuße; sie besaß das Recht sich hinzubegeben und aufzuhalten. wo sie wollte; sie war gesetzlich keinem Menschen Rechenschaft von ihrem Thun und Lassen schuldig. Ihre plötzliche, geheimnisvolle Entfernung mochte unschicklich für eine junge Wittwe sein, die un­längst unter so erschütternden Umständen den Gatten verloren hatte; sie mochte damit rück­sichtslos gegen ihre Mutter, unklug gegen sich selbst gehandelt haben; verdächtig aber und in gewisser Beziehung auch strafbar ward sie erst, wenn sie sich zu der heutigen Verhandlung, zu der sie geladen war, nicht einfand.

Und fast schien es, als sei irgend ein Hinder­nis eingetreten; denn der Beginn der Sitzung verzögerte sich weit über die dafür angesetzte Stunde. Die Zeugen und die Geschworenen waren an ihren Plätzen; aber der Gerichtshof säumte zu erscheinen, und auch der berühmte Verteidiger aus der Residenz, dessen Plaidoyer alle Welt mit so großen Erwartungen entgegen- sah, hatte sich noch nicht cingefunden.

Bon Minute zu Minute stieg die Ungeduld; der weite Schwurgerichtssaal war erfüllt von

einem Summen und Brausen, als wollten sich die Wogen des Meeres darüber hinwälzen; es zischelte und wisperte in den Gängen und Kor­ridoren; selbst in die entlegensten Büreauzimmer drang die Kunde, daß etwas Ungewöhnliches sich zugetragen haben müsse.

Derjenige, welcher der kommenden Stunde von allen am ruhigsten entgegensah, war die Hauptperson, war Benno Treuenfeld selbst. Sein Verteidiger hatte ihn besucht und ihm Kunde gebracht von dem, was Erna für ihn gethan und noch that, und daß man dem wahren Mörder auf der Spur sei. Er war herzlich dankbar dafür; Erna's unwandelbare Liebe und Auf­opferung leuchtete ihm wie ein Stern in der Nacht seines Unglücks; aber er glaubte nicht, daß ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein würden. Das Gefängnis hatte seinen Mut und seine Spannkraft gebrochen; er konnte nicht mehr wünschen, nicht mehr hoffen, eine stumpfe Gleich­giltigkeit hatte sich seiner bemächtigt.

Ihr solltet mich meinem Schicksale über­lassen", erwiderte er Wecker,es hilft alles nichts. Man will mich hier schuldig finden und man wird mich verurteilen."

Aber, wenn wir den Mörder zur Stelle schaffen?"

Ich fürchte, auch das nützt nicht; dann erklärt man mich für seinen Mitschuldigen", ent- gegncte Benno mit bitterem Hohne.Aber sie werden ihn nicht finden."

Ich hoffe, sie finden ihn und selbst wenn dies nicht der Fall ist, haben wir nicht zuletzt ein Zeugnis für die Existenz des Mörders?"

Das Zeugnis eines Sträflings", versetzte Benno achselzuckend; man wird ihn nicht gelten lassen."

Ich werde cs schon geltend zu machen wissen."

Es wird Ihnen nichts helfen; ich habe nur eine Hoffnung

Welche?"

Daß man mich zum Tode verurteilt und das Urteil schnell vollstreckt."

So scharf schießen die Preußen doch nicht", scherzte Wecker,Kopf in die Höhe, Mann! Wer schon so vielen Widerwärtigkeiten mutig in's Auge geblickt und sie besiegt hat, sollte nicht verzagen; verloren ist nur, wer sich selbst ver­loren giebt."

Benno antwortete nur durch einen tiefen Seufzer und versank von neuem in das finstere Brüten, aus dem er nur sehr schwer und für kurze Zeit aufzurütteln war.

Auch am Morgen des für die öffentliche Verhandlung bestimmten Tages hatte er sich in gewohnter Gleichgiltigkeit von seinem Lager er­hoben, sich ongekleidet, mechanisch dos ihm Vor­gesetzte Frühstück verzehrt und des Augenblickes geharrt, wo man ihn nach dem Gerichtssaal führen werde. Aber dieser Augenblick ließ lange auf sich warten; der Vormittag rückte weiter vor und Niemand kam.

Benno wartete, anfänglich gleichgiltig, ge­duldig; aber je mehr Zeit verstrich, desto un­ruhiger, desto aufgeregter ward er. Er lauschte auf jedes Geräusch in den Gängen und glaubte viel Hin- und Herlaufen, viel Reden und Rufen zu vernehmen; Schritte näherten sich seiner Thür; er fuhr auf und sank enttäuscht wieder zu­rück; sie gingen vorüber. Vom nahen Kirchturm hörte er die Uhr jede Viertelstunde schlagen: er vermochte es nicht mehr auf seinem Stuhle auszuhalten; wie ein Löwe im Käsig, so rannte er in der engen Zelle auf und ab.

Warum kommt man nicht!" murmelte er, warum dieser entsetzliche Aufschub!"

Ich habe die Nerven gestählt; ich wollte der gaffenden, der schaugierigen Menge Ruhe, Verachtung zeigen; aber ich fühle es, die letzte Kraft des Grimmes, des Trotzes verläßt mich; ich werde schwach, ich breche zusammen, ich werde winseln wie ein altes Weib!"

Unterhaltender Teil.

Eine Hochzeitsreise.

Erzählung von F. Arnefeldt.

(Fortsetzung.)

8 .

Die Schwurgerichtsperiode in G. . . hatte begonnen und der Tag war angebrochen, an welchem die euuso eelebre derselben, der an Herrn v. Rchfcld auf Rehfelde verübte Mord, zur Verhandlung kommen sollte.

Lange vor der für den Beginn der Sitzung anberaumten Stunde war das Gerichtsgebäude von dichten Menschengruppen umgeben. Der Wunsch, sich einen möglichst guten Platz in dem voraussichtlich überfüllten Saale zu sichern, hatte sie so frühzeitig Hergetrieben, und sie harrten im Sonnenbrände oder unter dem Schutze eines vorspringenden Daches oder Thürbogxns, bis sich ihnen die Pforten aufthun würden, während andere Bevorzugte auf Nebenwegen schon Ein-