Deutsches Weich.

Berlin. 9. Mai. Reichstag. Umsturz­vorlage. §111. Preußischer Justizminister Schönstedt erklärt: Die Regierungen legen auf die Wiedereinfügung der Bestrafung des Anpreisens gewaltsamen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wie der Antrag v. Levetzow will, das größte Gewicht, der Antrag gehört zu den Punkten, von denen das Schicksal der Vorlage abhängt. Die Regierungen hoffen, daß die Nationalliberalen und die Reichspartei für den Antrag v. Levetzow stimmen werden. Hoffent­lich folgt auch das Zentrum, das sich sonst mit sich selbst in Widerspruch setzt und die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgt. Kulturkampf­erinnerungen trübten den Blick des Zentrums in der Kommission (große Heiterkeit), aber der Kulturkampf wird schwerlich wiederkchren. er hat niemanden genützt. Das Zentrum kann heute den bisherigen Standpunkt besser verlassen, als in der dritten Lesung. Li8 ckat qui cito äat. (Beifall rechts.) Abg. Lenzmann (freis. Volksp.) wünscht, daß die Regierungen nach Ablehnung des Z 111 die Vorlage zurückziehen, damit sich der Reichstag nicht noch wochenlang mit dem Leichnam beschäftigen muß. Preuß. Minister des Innern v. Köller bemerkt, Lenz­mann habe die Sozialdemokratie nur aus dem schlesischen Volkskalender studiert, wo steht:Die Sozialdemokratie ist die Liebe!" (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten, große Heiterkeit.) Der Minister fortfahrend:Dieser Satz ist eine ganz gemeine Lüge." Der Minister zitiert auf­reizende sozialdemokratische Aeußerungen und wird mehrfach von den Sozialdemokraten mit der Bemerkung unterbrochen, das hätten die Anarchisten gesagt. Der Minister erwidert:Ob Sie oder Ihre Brüder es sagten ist gleichgiltig." Der Minister zitiert das Wort des sozialdem. Abg. Stadthagen, der gesagt habe, man sollte für den Reichstag die Inschrift wählen:Hier zahlt man die höchsten Preise für Lumpen!" (Lebhafte Pfuirufe.) Der Minister schließt: Man wird schließlich im Lande Ansehen, daß es so im Lande nicht weitergehen kann; wir machten Ihnen die Vorlage, jetzt geben Sie die Ant­wort! (Beifall.) Abg. Bebel (Soz.) kritisiert auf das eingehendste den Z 111. Die Sozial­demokraten könnten aus den Reden nichtsoziali­stischer Männer weit schlimmeres Material bei­dringen, als das Regierungsmaterial sei. Die Konservativen verträten den nakten Materialismus und könnten das sozialistische Ideal von der Bruderliebe nicht verstehen. Wenn man der höheren gesellschaftlichen Schicht angehöre, komme man nicht vor den Staatsanwalt, wie der Fall v. Kotze beweise. Redner schließt: Wer es ehr­lich mit dem Volke meint, muß die ganze Vor­lage in den Orkus senden. Justizminister Schön­stedt weist entrüstet die Behauptung parteilicher Justizpflege zurück. Die Herren v. Kotze und Frhr. v. Schräder feien wegen Zweikampfes an­geklagt, Frhr. v. Stumm sei wegen Heraus­forderung zum Zweikampf bisher nicht angeklagt, weil Frhr. v. Stumm als Abgeordneter von der Strafverfolgung befreit sei. Die Anklage werde aber später erfolgen. Abg. Frhr. v. Hoden­berg (Welfe) verwirft die ganze Vorlage. Abg. Schall (d. k.) verteidigt das Christentum gegen Bebels Angriffe und wrrd wegen eines Ausfalles gegen die Sozialdemokraten zur Ordnung ge­rufen. Redner bespricht die Duellsrage und er­wähnt einen Fall, in dem ein Offizier im Duell gefallen, zu dem er durch das Ehrengericht ge­zwungen worden war. Kriegsmiuister Bron- sart v. Schellendorff bemerkt, seit dem Bestehen der Ehrengerichte sei nie ein Offizier zum Duell gezwungen worden. Nach einer Reihe von persönlichen Bemerkungen, wobei Abg. Stadthagen und Minister v. Köller aus die Aeußerung des elfteren bezüglich der In­schrift für das Reichstagsgebäude zurückkommen, wird die Weiterberatung auf morgen vertagt.

Berlin, 10. Mai. Nachdem Gröber heute im Reichstag erklärt hat, das Zentrum stimme unwiderruflich gegen den Antrag Levetzow, gilt die Umsturzvorlage endgiltig als gefallen. Gröber sprach mit ungewöhnlicher Schärfe gegen Köller.

Berlin, 10. Mai. In der Kommission

des Reichstags für den Antrag Kanitz brachte Abg. v. Kardorff (Reichsp.) für den Fall der Ablehnung des Antrages Kanitz eine Resolution ein. die Regierungen zu ersuchen, bis zum Ab­schluß einer internationalen Regelung der Währungsfrage das seewärts cingeführte Brot- getreide vom 1. Juli ab mit einem Zuschlagszoll von 3 Mk 50 Pfg. zu belegen. Darauf begann die Beratung durch die praktische Durchführbarkeit des Antrages Kanitz, für die Graf Kanitz in längerer Darlegung eintrat.

Berlin, 10. Mai. Das Leichenbegängnis des Generalobersten v. Pape fand heute Nach- mittag 4 Uhr statt. Hinter vem Sarge schritt der Kaiser, darauf die Ritter des Schwarzen Adlerordens, das gesamte Hauptquartier, zahl­reiche Abordnungen von Offizierkorps und Krieger- vrreine.

Berlin, 10. Mai. Die Gesuche wegen nachträglicher Prüfung von infolge des Krieges bezw. des Militärdienstes entstandenen Schäden und Krankheiten, die zum Teil wegen Frist­versäumnis nicht berücksichtigt wurden, sind von der Petitionskommission des Reichstags der Regierung als Material überwiesen worden.

Klengen, Amt Villingen. 6. Mai. Ueber einen Akt scheußlicher Roheit seitens eines 15jährigen Dienstmädchens ist zu berichten: Ein hiesiger Bauer sah sich veranlaßt, eine wertvolle Kuh wegen starker Mastdarmblutung zu schlachten. Als die zweite Kuh wegen derselben Verletzung in tierärztliche Behandlung gegeben werden mußte, lenkte sich der Verdacht auf das Dienst­mädchen und dasselbe gestand endlich zu, mittelst eines spitzigen Steckens die Tiere verletzt zu haben, weil es ihr im Dienst nicht mehr gefallen habe. Das Mädchen ist in das Amtsgericht eingeliefert und soll dem Vernehmen nach auch noch eingeklagt sein, den Tod eines V- Jahre alten Kindes durch Ausrenkung der Glieder verursacht zu haben.

Württemberg.

Stuttgart, 8. Mai. Landtag. Die Kammer der Abgeordneten setzte heute die Be­ratung des Etats des Departements des Innern bei Kap. 34, Tit. 12, Feldbereinigungswesen, fort. Nach 2stündiger Debatte wurde der An­trag, den Revisionsgeometern wenigstens für ihre Person die Pensionsberechtigung zu ge­währen, mit 45 gegen 34 Stimmen abgelehnt. Es folgt die Beratung über die 160 000 Mark zur Förderung der Hagelversicherung (Kap. 35). Dazu spricht zunächst Referent Sachs, das Ab­kommen mit der norddeutschen Versicherungs­gesellschaft oder ein solches mit mehreren be­leuchtend. An der Debatte beteiligen sich Schach (für den Antrag), Rathgeb ebenso aber gegen die Zwangsversicherung, gegen solche ist auch Nieder, der den Weg der Regierung billigt. Schmidt spricht sich gegen die nord­deutsche Hagelversicherung und gegen den Ver­trag aus. Die Sache sei an die Finanzkommission zurückzuweisen, v. Wöllwarth nimmt die Ge­sellschaft in Schutz. Kloß präzisiert den Stand­punkt der Sozialdemokraten. Schließlich wird dieser Antrag ab gelehnt und der Vertrag mit der Norddeutschen Hagelversicherungsanstalt g e- uehmigt. Am Donnerstag den 9. Mai wurde Kap. 36 Landgestüt beraten. Es fand zunächst eine ausgedehnte Generaldebatte statt, in welcher die verschiedenen Anschauungen über die Pferdezucht zu Wort kamen. Sodann wurde das Kapitel unter Ablehnung der 84 000 Mark für einen Stutenstall in Marbach genehmigt, ebenso Kap. 37 Privatpferdezucht. Am Frei­tag den 10. ds. setzte die Kammer die Etats­beratung bei Kap. 38 Zentralstelle für Gewerbe und Handel fort. Es entwickelte sich eine Ge­neraldebatte, bei der die Handwerkerfrage, die soziale Gesetzgebung, die Wohnungsfrage, das Submissionswesen, der Hausierhandel re. zur Erörterung kamen.

Stuttgart, 9. Mai. Die sozial­demokratische Partei hat den Entschluß, den Boykott der Liederhalle dadurch zu ver­schärfen, daß er auf die einzelnen Mitglieder der Liederkranzgesellschaft ausgedehnt wird, haupt­sächlich durchgeführt. Das soz.dem. Parteiblatt, dieSchwäb. Tagwacht", veröffentlicht am 8.

Mai eine lange Proskriptionsliste der Lieder­kranzmitglieder, die übrigens nicht eiumal fehler­los ist und sogar vor Gestorbenen nicht zurück­scheut. Damit hat nun die sozialdemokratische Partei ihr wahres Gesicht gezeigt: wer sich dem Willen der soz.dem. Parteihäupter nicht unter­wirft, wird geächtet. Eine große Zahl der Liederkranzmitglieder ist durch gesperrten Druck hervorgehoben; auf diese, meist Geschäftsleute, scheint es die Sozialdemokratie besonders abgesehen zu haben. Wer die Erklärung des Liederkranz- ausschnsses vom 20. April unbefangen geprüft hat, wird die Gründe, die den Ausschuß zu dem Be­schluß der Verweigerung der Liederhalle geführt haben, nur billigen können. Diese Anschauung besteht innerhalb und außerhalb der Licderkranz- gesellschaft. Die Folge des neuesteu Verge­waltigungsversuchs seitens der Sozialdemokratie, der eine Beleidigung nicht etwa nur der Lieder­kranzgesellschaft, sondern der ganzen Bürgerschaft Stuttgarts mit ihrem Oberbürgermeister, Mit­glied des Liederkranzes, an der Spitze ist, wird die sein, daß der Liederkranz aus den weitesten Kreisen der Bürgerschaft die moralische und that- sächliche Unterstützung und Förderung findet, die seine idealen, der Kunst und dem Vaterland gewidmeten Bestrebungen nach jeder Richtung verdienen.

Stuttgart, 7. Mai. Dem hiesigen Volksschullehrer Rumm wurde von der Univer­sität Bern der Doktortitcl suwma eum laucks verliehen. Rumm war jahrelang Aufseher am königl. Waisenhause hier und besuchte nebenbei das Polytechnikum, wo er sich naturwissenschaft­lichen Studien widmete. Voriges Jahr erstand er die Anstellungsprüfung für Volksschullehrer mit der Note In und ging sodann nach Bern, um dort sein Studium zu vollenden.

In Herrenberg ließ sich ein 24 Jahre alter, lediger, aus Hailerbach, O.A. Nagold, gebürtiger Schneidergeselle von dem um 11 Uhr nachts durchfahrenden Zug Stuttgart-Horb überfahren. Der Unglückliche wurde ca. 50 Schritte geschleift und schrecklich verstümmelt, ehe er sein grauenhaftes Ende fand. Als Motiv zu dem schrecklichen Entschluß wird Lebensüber­druß des körperlich etwas Mißgestalteten ange­geben.

Bon den Geld- und Warenbörsen.

Stuttgart, 9. Mai. Obgleich die politischen Befürchtungen der Spekulation wegen eines möglichen Konfliks europäischer Großmächte mit Japan definitiv geschwunden sind, verkehrten die Geldbörsen in der abgelaufenen Woche in ziemlich geteilter und eher zu Kursabschwächungen geneigter Tendenz, wobei der Anstoß von Wien ausging, wo die überladene Speku­lation die bekannten Vorgänge zwischen dem Ungar. Ministerpräsidenten und dem Grafen Kalnoky als Grund zu Verkäufen ansah. Oesterr. Staatsbahnaktien ver­loren über 1, Lombarden über dagegen gewannen Gotthardaktien Vr°/o- Oesterr. Kredilaktien verloren 11/, Diskonto. Commandit gewann 2 °/g Berl.

Handelsges. konnte sich gut behaupten, Darmstädter Bank gewann IV-, deutsche Bank über 5«/o, Köln-Rott- weiler Pulverfabrik 8 Bochumer Gußstahl ebenso

Dortmunder Union und Lurahütte, Gelfenkirchener gingen um 2°/g zurück, Harpener um über 1°/g. Deut- sche Reichsanleihe verlor nahezu V» °/a- Italiener ge- wannen ebensoviel, Ungar, u. österr. Renten sind un- geändert, russ. Renten u. Obligationen sind um V, 1'/r°/o gebessert, auch russ. Banknoten gewannen über "/,, Geld beginnt etwas anzuziehen, der Privat- diskont stieg in Berlin 1^/, auf 1^/4°/». Nach der überstürzenden Auswärtsbewegung an den Getreide­märkten in der letzten Woche ist nunmehr wieder ein Rückschlag eingetreten und die Preise namentlich für Brotsrüchte sind nicht unerheblich gefallen. Roggen per Mai fiel in Berlin von 135.25 auf 130.50 per Juli von 137 auf 132.50 per Sept. von 137.20 auf 133.50; Weizen per Mai von 155.50 auf 151 und per Sept. von 153.50 aus 149.50; Hafer per Mai hielt sich auf 128.2 und fiel per Sept. von 124 auf 122.70. Das gewaltthätigste Vorgehen des amer. Petroleum­rings, welcher mit dem Pariser Rotschild und dem Engländer Nobel, welche beide die Ausbeutung der russ. Petroleumquellen in Pacht haben, eine Preisver­einbarung getroffen haben, ries bekanntlich vor wenigen Wochen eine ungeheure Preissteigerung des Petroleums hervor und die russ. Regierung beeilte sich durch Er­höhung der Petroleumfracht an dem großen Gewinn ihrer Petroleumpächter zu beteiligen; aber der Petro­leumring hatte diesmal falsch kalkuliert. Eine ganze Reihe amerik. Petrolcumquellen,j die bei den früheren niedrigen Preisen ihren Betrieb einstellen mußten, weil sie keine Röhrenleitungen von der Quelle nach einem Hafen besaßen, fanden bei den enorm gesteigerten Preisen plötzlich ihre Rechnung wieder, setzten die alten Quellen in Betrieb und bohrten neue. Abnehmer für sofort lieferbare Ware, wie aus lange Termine