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die Anwesenheit von sozialdemokratischen Vertretern in einem Parlament nur im Sinne der Ermöglichung einer potenzierten Kritik Wert hat. jedoch allemal dann sich als außer praktischen Betracht kommend herausstellt, wenn es sich um positive Thaten handelt. Se. Majestät der König versprach eingehende Prüfung der Wünsche des Abgeordnetenhauses und fügte ausdrücklich hinzu, er hoffe, daß das Abgeordnetenhaus in allen seinen Anliegen ihm offen und vertrauensvoll entgegenkommen werde. Wie sein erster Minister in der Adreßdebatte, so hat sich auch unser König der Lage vollkommen lgewach- sen gezeigt, und der Wunsch des Königs, es möge durch redliches Zusammenarbeiten zwischen Regierung und Volksvertretung das Wohl des Landes erblühen, wird sicher von allen Württem- bergern ohne Unterschied der Parteistellung geteilt werden. Bezüglich der Verfassungsänderung bleibt jetzt die Hauptfrage die. welcher Ersatz für die ausscheidenden Privilegierten in der 2. Kammer kommen und auf welche Art derselbe gewählt werden soll, ferner, ob und inwieweit die ausgeschiedenen Privilegierten der zweiten Kammer Aufnahme in der Kammer der Standesherrn finden können. Das Wort hat jetzt letztere, freilich aber erst dann, wenn die Regierung, welche unter dem Beifall der Volkspartei übrigens die Weiterführung der Verfasfungsreform in der Hand behalten zu wollen erklärt hat, eine diesbezügliche Vorlage an die erste Kammer gebracht haben wird.
Untertürkheim. 14. März. Die Eisdecke des Neckars ist verflossene Nacht ganz gefahrlos abgegangen. Der Wafferstand ist hoch, läßt jedoch eine Ueberschwemmung nicht befürchten.
Unterhaltender Heil.
Am zerbrochenen Kreuz.
Eine Geschichte von der Grenze von Hans Richter
(Nachdruck verboten.)
(Schluß.)
Von dem, was am Kreuze vorgefallen, erfuhr niemand etwas. Marysia schwieg aus Stolz, Jagusia aus Furcht, und Jan war spurlos verschwunden.
„So mußte es ja kommen!" sagten die Klatschmäuler. „Weshalb nahm der schöne Jan statt dieses stolzen Trotzkopfes nicht die lustige Jagusia oder ein anderes, vernünftiges Mädchen, das es ganz selbstverständlich findet, wenn ein verheirateter Mann des Abends in's Wirtshaus geht oder auch manchmal am Tage. Schade um ihn!"
Für die verlassene Frau hatte niemand ein Wort der Entschuldigung oder des Mitleids. Sie würde es wahrscheinlich auch sehr übel ausgenommen haben; sie wollte nicht bedauert sein, das konnten selbst die stumpfsten Bauernweiber aus ihren Zügen lesen, die so hart, kalt und bitter geworden waren. Noch emsiger als zuvor ging sic ihrer Arbeit nach, als ob sie nie einen Gatten besessen und beantwortete jede Frage nach diesem mit einem stummen Achselzucken oder einem so abweisenden Blick, daß der Frager genug daran hatte. In Erregung geriet sie überhaupt nur noch, wenn in ihrer Gegenwart das Kreuz erwähnt wurde. Es hieß jetzt nicht mehr Jan's Kreuz wie früher, sondern das zerbrochene Kreuz.
Nach etwa einem Vierteljahr tauchte Jan in der Nachbarschaft wieder auf. Zugleich hieß es, er habe sich dem Schmugglergewerbe ergeben, was niemanden überraschte. Denn das „Schwärzen" ist öort gewöhnlich die letzte Zuflucht schiffbrüchiger Existenzen und gilt als ein ganz ehrenwertes Handwerk, das außerdem noch mit einem Schimmer volkstümlicher Romantik umkleidet ist.
Mit der Zeit gewann Jan einen außerordentlichen Ruf als Schwärzer. Seine Ver- wegenheit und List wurde an allen Wirtshaustischen gefeiert, und wenn nur ein Drittel von dem, was der Volksmund über ihn zu berichten wußte, auf Wahrheit beruhte, so wäre der weiland berüchtigte Karl Stümpner des sächsischen Erzgebirges ein harmloses Kind gegen ihn ge
wesen. Thatsache war, daß die Kosaken und Strazniks ihn nie erwischen konnten. Sie hatten ihm. der sie beständig narrte, den Tod geschworen, und das war keine leere Drohung. Mancher Schwärzer verschwindet eines Tages, und niemand weiß, wo seine Gebeine bleichen. Aber wie schon die schlauen Nürnberger keinen henkten, bevor sie ihn hatten, so erging es auch den russischen Grenzsoldaten. Und Jan war schlau genug, nur nach Rußland hinüber zu schwärzen und nichts mit herüber zu bringen, so daß ihm sein Vaterland stets als eine sichere Zufluchtsstätte blieb.
Fast die ganze Grenze entlang, von Sos- nowice bis Thorn hinunter, führte ihn sein gefährlicher Beruf; nur nach Obrowo kam er nie. Der alte, Halbbinde Nachtwächter behauptete zwar, er habe ihn schon mehrere Male zu mitternächtiger Stunde um Marysias Haus herum- schleichen sehen; da aber die ganze Dorfbewohner- schaft mit seltener Uebereinstimmung annahm, daß der Wächter seit dem letzten Brande vor elf Jahren keine Nacht außerhalb seines Bettes zugcbracht habe, so wurde jene Behauptung einfach als lächerlich verworfen.
Scheinbar den wenigsten Anteil an Jan's abentreuerlichem Leben nahm seine Frau. Sie führte die Wirtschaft in musterhafter Weise weiter, ging nie aus, als in die Kirche oder auf ihr Feld, und erzog ihren Knaben, auf welchen allein sie den ganzen reichen Schatz ihrer Liebe übertragen zu haben schien. Stundenlang konnte die sonst rastlos Thätige mit dem Kinde scherzen und es leidenschaftlich liebkosen.
Jahrelang kam Marysia nicht an das zerbrochene Kreuz, bis eines Tages der Zufall sie wenigstens in die Nähe desselben führte. Der kleine Jan hatte seinen Geburtstag. Er war jetzt vier Jahre alt, ein bildhübsches Kind mit den schönen, reinen Zügen der Mutter und den übermütigen, dunklen Augen des Vaters. Zur Feier des Tages wurde die Arbeit eine Stunde früher beendet und dann ein Spaziergang in den Wald unternommen. Marysia ging, wie stets, am Fluß entlang, so daß sie nicht direkt am Kreuz vorüberkem. Durch den starken Regen der letzten Tage war das Flüßchen zu einem reißenden Strom angeschwollen, welcher fast die Höhe des Deiches erreichte. Sorgsam führte die junge Frau ihren Kleinen, der, wie alle Kinder, gar zu gern dicht an's Wasser gegangen wäre. Erst als sie einige verspätete Blumen zu pflücken begann, ließ sie ihn los; es waren Vergißmeinnicht darunter — just an derselben Stelle hatte Jan solche oft für sie gepflückt. Sie war hier kaum zwanzig Schritt vom Kreuz entfernt, doch wurde es durch das Gebüsch ihren Blicken entzogen; nur die Eiche, an welche es sich lehnte, sah sie. Lang heftete sie ihr Auge auf die vom Blitz verstümmelte Baumkrone. Noch einmal zog jene selige Zeit an ihrem Geiste vorüber und dann auch jene finstere Stunde, welche ihr Vas Glück raubte. Hatte sie recht gehandelt, als ihr tief verwundeter Stolz den Gatten verstieß? War er wirkich untreu gewesen oder...
Ein Heller Angstschrei ertönte. Die Blumen fielen ihr aus den Händen.
„Allmächtiger, erbarme dich! Heilige Gnadenmutter hilf!" Das dunkele Lockenköpfchen tauchte aus den gelben Fluten empor. Sie wollte sich in's Wasser stürzen, aber ihre Glieder waren wie gelähmt. Sie öffnete den Mund, um nach Hilfe zu schreien, und brachte keinen Ton über die Lippen. Da raschelte es im Gebüsch, ein Mann flog blitzschnell an ihr vorüber und stürzte sich kopfüber in den Strom. Marysia faltete die Hände; nie war ein innigeres Gebet aus ihrem Herzen emporgestiegen. Es wurde erhört. Der Kühne erreichte das Kind, ergriff es und schwamm mit ihm dem Ufer zu. Mit einem Dank- und Jubelschrei stürzte ihm Marysia entgegen und prallte zurück: sie schaute in das bleiche abgemagerte Gesicht ihres Gatten.
Er drückte das Kind, das ihn, noch halb bewußtlos, fest umklammerte, an sich und schritt langsam an Marysia vorüber. Sie folgte ihm, obwohl sie sich kaum noch auf ihren zitternden Knwen zu erhalten vermochte. Am zerbrochenen Kreuz hielt er an und sagte finster: „Gönnst
du mir mein Kind nicht einmal diese wenigen Augenblicke? Jahrelang sehne ich mich nach seinem Anblick; wie ein Dieb bin ich des Nachts an euer Fenster geschlichen und habe mein Ohr an die Scheibe gepreßt, nur um sein Atmen zu hören. Freilich, was kümmert's dich, ob ich elend bin, ob ich lebe oder sterbe! Ungerecht hast du mich hinausgestoßen in ein unstätes, erbärmliches Leben; nicht einmal der Vater meines Kindes darf ich mehr sein."
Eine unsägliche Bitterkeit klang durch die Worte des Mannes, dessen vergrämte Züge kaum noch an den „schönen Jan" erinnerten. Unter seinem Blick schlug Marysia ihre Augen zu Boden; es war ihr, als sei ihr Herz jahrelang mit stählernen Fesseln umspannt gewesen und wolle dieselben nun sprengen. Da erwachte der kleine Jan zum völligen Bewußtsein. Den einen Arm noch um seines Vaters Hais geschlungen, streckte er den andern der Mutter entgegen und rief: „Mutter, willst du nicht auch zu dem fremden Manne kommen? Sieh' doch, er ist so stark und gut!"
Das Wort aus dem Kindesmunde übte eine gewaltige Kraft. Eine weiche, warme Flut stieg in ihr empor, immer höher, allen Trotz und Haß hinwegspülend; sie rang nach Atem, dann brach sie in die Knie und schluchzte: „Jan, mein Jan, verzeihe mir! Hier am Kreuze Gottes, wo ich weit mehr gefehlt als du, im Angesicht unseres eben dem Tode entrissenen Kindes flehe ich dich an: vergieb, sei wieder mein, und ich werde dir fortan ein demütiges, gehorsames Weib sein!"
Halb ohnmächtig umschlang sie ihn und den Knaben mit verlangenden Armen und zog sein Haupt zu sich herab, bis seine Lippen die ihren berührten.
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Ganz Obrowo hätte sich vor Verwunderung fast auf den Kopf gestellt, als die Nachricht von Jan's Heimkehr sich verbreitete. „Sie halten's doch nicht mit einander aus", sagte man sich nach der ersten Ueberraschung; „er kann sein leichtes Blut eben so wenig verleugnen, wie sie ihren starren Trotz; in einem Vierteljahr ist er wieder fort."
Diesmal täuschten sich die wohlwollenden Dorfpropheten. Jan hatte allen Leichtsinn für immer abgestreift, und ebenso Marysia ihre herrschsüchtige Strenge. Sie waren einig und deshalb glücklich und sind es noch. Droht aber je eine Wolke an ihrem ehelichen Himmel, so wandeln sie des Abends in den Wald zum zerbrochenen Kreuz, und immer kehren sie in neuer Eintracht ruhig und zufrieden in ihr stilles Heim zurück.
Telegramme.
Berlin, 15. März. In dem Befinden des vierjährigen Sohnes des Kaisers, Prinzen Joachim, ist seit gestern Abend 11 Uhr eine kleine Wendung zum Bessern eingetrelen.
Berlin, 15. März. Der „Ostpreußischen Zeitung" zufolge hat der Kaiser den Fürsten Bismarck telegraphisch von der Ernennung des Grafen Wilhelm Bismarck zum Oberpräsidenten von Ostpreußen benachrichtigt. Die „Berl. N. Nachrichten" bestätigen dies mit dem Zusatz, daß die Benachrichtigung in Form eines Glückwunsches gekleidet war.
Essen a. d. Ruhr, 16. März. Auf der Zeche Bonifazius wurde 200 Arbeitern gekündigt.
Rom, 16. März. Bei Chrestino wurden 6 Zollbeamte durch eine Lawine getötet.
London, 16. März. Durch Explosion eines Gasballons wurde ein Mann auf dem Bahnhof Fen-church-street in Stücke gerissen. Der Verunglückte trug den Ballon bei sich.
London, 16. März. Einer Meldung aus Shanghai zufolge ist der chinesische Generalissimus Sungching vom Pferde gestürzt und war sofort tot.
London, 15. März. 3000 Chinesen griffen am Morgen des 11. die japanischen Streitkräfte an der koreanischen Grenze an. Die Angreifer erlitten schwere Verluste und wurden schließlich zurückgeschlagen. Die Japaner zählten nur 6 Verwundete.
Redaktion, Druck und Verlag von C. Meeh in Neuenbürg.