Deutsches Aeich.
Berlin. 16. Jan. Die Thronrede, mit welcher der Monarch gestern den Landtag er- öffnete. hat einen ausschließlich geschäftlichen Charakter; sie stellt ein festes Arbeitsprogramm auf, erörtert Zug um Zug, in aller Deutlichkeit und mit allen Einzelheiten, was zu geschehen hat. und hält sich fast ängstlich von allen weiteren Ausblicken fern. Die wiederholte und starke Betonung des Fehlbetrages von 31 Mill. Mark, der im laufenden Jahre freilich „nicht unerheblich hinter dem Anschläge und demjenigen des Vorjahres Zurückbleiben wird", weist auf die Entschlossenheit der Regierung hin, die Reichs- Finanzen so oder so zu ordnen; eine größere finanzielle Selbstständigkeit des Reiches würde in der That die Einzelstaaten, namentlich Preußen, ungemein entlasten und sehr dazu helfen. das Gleichgewicht im Budget wieder herzustellen. Indes bedarf diese Frage sehr eingehender Er- örterung und ausgedehnter Diskussion, die ihr denn auch seitens der zahlreichen Gegner der Miquel'schen Pläne reichlich zu teil werden wird. Was die Thronrede an sonstigen einzelnen Gesetz-Vorlagen erwähnt, sind mehr „Arbeiten des Alltages" ohne besondere politische Bedeutung. Sehr zu beachten ist dagegen die am Schluß energisch ausgesprochene Absicht des Königs, der Landwirtschaft, deren Lage fortdauernd ungünstig ist. helfend beizuspringen. Die entschiedene Abkehr des allerneuesten Kurses vom neuen kann deutlicher kaum zum Ausdruck gebracht werden; stellt man neben dieser Aeußer- ung der Thronrede die Reise des Fürsten Hohenlohe nach Friedrichsruh, die er auf Wunsch des Kaisers unternahm, in Rechnung, so weiß man ungefähr Weg und Ziel der jetzigen Politik Wilhelms II. Die Bismarckischen Ideen gewinnen wieder die Oberhand, und von dem alten Riesen im Sachsenwald holen sich Deutschlands Lenker wieder Rat und Weisheit.
Berlin, 17. Jan. Reichstag. Zweite Beratung des Zentrumsanirages auf Aufhebung des Jdsuitengesetzes. Bei Z 1 begründet Rickert (Frcis. Ver.) seinen Antrag, Bestimmungen aufzunehmcn, wonach die Ausweisung ausländischer Jesuiten, die Wohnsitzanweisung für inländische Jesuiten ermöglicht würde. Friedberg (n.l.) erklärt, die Nationalliberolen stimmen dem Anträge im Ganzen zu. halten aber die Ausweisungsmöglichkeit aufrecht, v. Stumm (Reichsp): Seine Freunde stimmen gegen den Antrag des Zentrums und gegen den Antrag Rickert. Lieber (Zentr.) erklärt, der Antrag Rickert gebe nur eine kleine Erleichterung und lasse eine weitgehende Beschränkung der persönlichen Freiheit bestehen. Das Haus beschließt, über den Zentrumsantrag Hompesch zuerst abzustimmen. Z 1 sowie die übrigen Paragraphen des Zentrumsantrages werden mit den Stimmen des Zentrums, der Freis. Volkspartei, der Sozialdemokraten, der Polen uud Elsässer angenommen; dagegen stimmten die Konservativen, die Reichspartei außer Krupp, die Nationalliberalen, die Freisinnige Vereinigung. Die Anträge Rickert und Förster (dieser hat sich Rickert angeschlossen) sind damit erledigt. (Der Zentrumsantrag, der jetzt in zweiter Lesung an- genommen ist und noch eine dritte Lesung erfordert, weil er die Form eines Gesetzentwurfs hat, lautet: Z 1. Das Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu, vom 4. Juli 1872 (R.G.B. S. 253) wird aufgehoben. A 2. Die zur Ausführung und zur Sicherstellung des Vollzugs des im Z 1 genannten Gesetzes erlassenen Anordnungen verlieren ihre Giltigkeit, ß 3. Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem Tage seiner Verkündigung in Kraft.) Es folgt die erste Lesung der Novelle zur Gerichtsverfassung und Strafprozeßordnung. Staatssekretär der Justiz Nicb erding begründet die Vorlage und bespricht namentlich die Einführ, ung der Berufung gegen erstinstanzliche Strafkammerurteile. Mit der Entschädigung unschuldig Verurteilter wollten die Regierungen den wiederholten Wünschen des Reichstages entsprechen. Die Regierungen hoffen eine wohlwollende Prüfung der Vorlage. Rintelen (Ztr.) hebt den unpolitischen Charakter der Gesetze hervor und
spricht seine Befriedigung über die Wiedereinführung der Berufung und die geplante Entschädigung Unschuldiger aus.
Berlin, 17. Jan. In der heutigen Sitzung der Kommission des Reichstages zur Beratung der Umsturzvorlage wünscht Spahn, Zentrum, die Vorlegung von Material seitens der Regierungskommissare, namentlich betreffs der Gestaltung des diesbezüglichen Strafrechts in anderen Staaten. Bebel verlangt noch eine Zusammenstellung der bezüglichen Rechtsprech- ungsgrundsätzc des Reichsgerichts. Staatssekr. Nieberding meint, die Gesetzgebung kleiner und außereuropäischer Staaten sei für Deutschland nicht maßgebend, aber er sei bereit, in verständigen Grenzen dem gestellten Ersuchen zu entsprechen. Enneccerus (n.l.) erklärt sich durch diese Bemerkungen befriedigt und wünscht das Eintreten in die erste Lesung, welchem Wunsche Lenzmann sich anschließt. Bei der Abstimmung wird der Antrag Spahn mit 14 gegen 13 Stimmen angenommen, der Antrag > Bebel mit allen gegen 3 Stimmen abgelehnt. Die nächste Sitzung der Kommission wurde sodann auf den Montag vertagt. — Die Budget kommission des Reichstags setzte heute die Beratung des Militäretats fort und nahm einstimmig eine Resolution Dr. Lieber's an. Es möge die Bestimmung getroffen werden, daß der erfolgreiche Besuch eines Lehrerseminars die Berechtigung zum Einjährig-freiwilligen - Dienst einschließe. Bezüglich der Erkrankungen in der Garnison Glogau erklärte Generalmajor von Gemmingen, die Ursache derselben sei noch nicht ermittelt, die Erkrankungen seien jedoch nicht erheblich.'
Berlin, 12. Jan. Vor etwa hundert Abgeordneten wurde am Dienstag im Reichstage die Handwerkerdebatte fortgesetzt. Professor Hitze, der Nationalökonom des Zentrums, begrüßt mit warmen Worten die Hand- wcrkerkammcrn, von denen er nur hofft, daß sic den Zwangsinnungen, die er für notwendig hält, nicht nn Wege ständen. Der Abgeordnete Richter war dafür mit der staatlichen, gesetzgeberischen Hilfe für den Mittelstand umsoweniger einverstanden, solche Mittelchen brächten den verlorenen goldenen Boden des Handwerks nicht zurück. Ihm antwortete in sehr flüssiger, angeregter Rede der preußische Handelsminister von Ber- lepsch, der die Handwerkerkammern gleichfalls nur für einen Anfang auf dem Wege der Mittelstandsgesetzgebung hielt und im Uebrigen für die Not der Handwerker viel wärmere Töne fand, als Staalsminister von Bötticher, mit dem er aber vollständig einverstanden sein wollte, obwohl er selbst gewisse Unterschiede in der beiderseitigen Auffassung zngeben mußte. Aus den Reihen der Konservativen trat ein Handwerksmeister, der Schneidermeister Jakobskoetter aus Erfurt mit Feuer für die Innungen ein, während der Sozialdemokrat Bock, der Führer der deutschen Schuhmacherbewegung, em Paar Stiefel auf den Tisch des Hauses legte, von denen das eine in der Fabrik, das andere bei dem Jnnungs- meister gemacht sei und die doch nur im Preise zu unterscheiden seien. Das Handwerk müsse zu Grunde gehen, ihm sei nicht mehr zu helfen.
Berlin, 17. Jan. Gestern abend fand in den Festräumen des Reichskanzlerpalais der erste palamentarische Empfangsabend des Fürsten Hohenlohe statt, zu dem Abgeordnete aller Parteien, sofern sie ihre Karten beim Reichskanzler abgegeben hatten, geladen waren, außerdem viele Vertreter der Presse und eine große Anzahl höherer Beamten, namentlich solcher, die durch ihre dienstliche Stellung mir den parlamentarischen Körperschaften Berührung haben.
Mainz, 17. Jan. Den 100. Geburtstag feierte gestern im nahen Bodenheim Christine Codini in geistiger Frische und körperlicher Gesundheit.
Ausland.
Versailles, 17. Jan. Als Challemel- Lacour mit der Verkündigung des Abstimmungsergebnisses beginnt, tritt tiefe Stille ein, aber im Augenblick, als er sagt: Felix Faure 435 Stimmen! ertönten Beifallsrufe auf der rechten
Seite, dann erheben sich die Sozialisten und schreien: Nieder mit den Dieben! Nach Mazas mit ihnen! Es herrscht ein unbeschreiblicher Tu- mulr. Auf der rechten Seite ruft man: Nieder mit der Commune! Als Challemcl-Lacour erklärt, Faure sei gewählt, erheben sich die Mitglieder der äußersten Linken und die Sozialisten und riefen ungestüm Brissons Namen. Hierauf ließ Challemel-Lacour das Protokoll der Sitzung verlesen. Die Sozialisten beharren bei dem Protest gegen die Wahl. Baudry d'Asson besteigt die Tribüne und verliest den Vertrag über die Verfassungs-Revision. Auf der linken Seite ruft es stürmisch: genug! Challemel-Lacour entzieht dem Redner das Wort. Die Sozialisten protestieren gegen die Ausschließung zweier, im Gefängnis sitzender Abgeordneter. Challemel erklärt die Sitzung für aufgehoben. Die Sozialisten protestieren heftig und rufen: Es lebe die soziale Revolution! Nach der Sitzung begaben sich die Mitglieder des Bureaus des Kongresses > und die Minister in das Kabinet des Kongreß- Präsidenten, wo sie Faure erwartete. Dupuy verlas das Protokoll der Sitzung und hielt ebenso wie Challemel-Lacour eine kürzere Ansprache, welche Faure erwiderte.
Frankreich hat nun einen neuen Präsidenten in der Person des seitherigen Marineministers Felix Faure. Unter den drei Bewerbern, die nach der Durchsiebung in den verschiedenen Vorbesprechungen allein auf der Bildfläche zurückblieben, war er der am wenigsten bekannte. Sein Name ist erst in die Weite gedrungen, als er am 30 Mai v. Js. in das letzte Kabinet Dupuy eintrat, in dem er das Marineministerium übernahm. Er war damals einer der Vizepräsidenten der Kammer, und vorher hatte er bereits mehrmals das Unterstaatssekretariat der Kolonien bekleidet. Faure ist kein Studierter, er ist ganz und gar ein Mann der Arbeit, alle Stufen, die er emporgestiegen, hat er sich selbst zugerüstet und gelegt. Jahrelang hat er mit der Kraft seiner Arme in den Gerbereien der Touraine gearbeitet, und ausschließlich durch eigenes Verdienst hat er später in Havre ein Handelshaus gegründet und zur Blüte geführt. Dann wurde er während des deutsch-französischen Krieges dem Bürgermeister von Havre beigeordnet und übernahm das Kommando der Mobilgarden der Seine-Jnferieure, wobei er sich das Kreuz der Ehrenlegion erwarb. Nach dem Kriege widmete er sich mit neuem Eifer seinem Geschäfte und den Werken der Menschenfreundlichkeit im weitesten Sinne, bis er im Jahre 1881 als Mitglied der republikanischen Partei in die Abgeordnetenkammer eintrat. Politisch steht der neugewählte Präsident seinem zurückgetretenen Vorgänger sehr nahe — wie sehr er sich als Mensch von ihm unterscheidet, geht schon aus dem Gesagtem deutlich hervor. Der ausgezeichnete Empfang, der gestern abend dem neuen Präsidenten der Republik in Paris bereitet worden ist, galt sicherlich nicht allein seiner Person, sondern es kam ihm zugleich die Bedeutung einer Kundgebung gegen den fahnenflüchtigen Casimir-Perier zu. Vom internationalen Standpunkt ist es vor allem zu begrüßen, daß wieder ein Mann der Mittelpartei an die Spitze Frankreichs gestellt worden ist, nicht der radikale Brisson, dessen Wahl vielfach für wahrscheinlich gehalten wurde.
P ar i s, 18 . Jan. Das Ministerium übergab gestern abend Felix Faure sein Entlassungsgesuch, doch führte es vorläufig die Geschäfte fort. Bei der Uebergabe der Gewalten sprach Challemel-Lacour den Wunsch aus, die neue Präsidentschaft möge durch einen Triumph der Ideen der Duldung und der Freiheit allen Menschen Frieden bringen. Faure versicherte, er werde sich leiten lassen durch das Beispiel und die Erfahrung derjenigen, die ihr Leben der Republik gewidmet haben. Die Sozialisten protestieren in einem Manifest gegen die Wahl des Kongresses und beschuldigen die Gegner, den Kampf gegen die Demokratie fortsetzen und die soziale Reform verzögern zu wollen.
London, 17. Jan. Die „Times" meldet aus Bu enos-Ayres, das Kabinet habe nunmehr definitiv demissioniert, weil der Präsident sich anhaltend weigerte, die Amnestie zu erlassen.