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eitage zu Ar. 64 des Knzthäters
Neuenbürg, Donnerstag den 26. April 1894.
Ausland.
Abbazia, 23. April. Das Schulschiff „Moltke" verläßt am28. d. M., der „Christable" am 30. den hiesigen Hafen. Die deutsche Kaiserin reist am 27. über Wien ohne Aufenthalt daselbst nach Berlin.
Petersburg, 24. April. Die Verlobung des Thronfolgers hat hier allgemeine Freude hervorgerufen; ganz besonders, wie verlautet, auch bei seinen kaiserlichen Eltern, zumal da behauptet wird, grade die nächsten Angehörigen des Thronfolgers seien bei seiner Abreise der nunmehrigen Verlobung noch keineswegs so ganz sicher gewesen. Die Hochzeit des Zarewitsch soll im Spätherbst, frühestens im Oktober stattfinden. Die Prinzessin Al ix. heißt es, werde zu ihrer Schwester, der Großfürstin Sergei (Moskau) reisen und soll vielleicht jetzt schon dort zum Uebertritt zur orthodoxen Kirche vorbereitet werden, da sich der Glaubens- und der damit verbundene Namenswechsel bereits vor der Hochzeit vollziehen muß. Der neue Vorname muß dem einer russischen Heiligen entsprechen. Die russische Presse begrüßt die Verlobung des Cäsarewitsch ungemein sympathisch und hebt dabei die staatliche Bedeutung der „Sicherstellung der direkten Thronfolge" hervor.
Griechenland ist wieder einmal von einer jener elementaren Katastrophe betroffen worden, welche das Land der Hellenen schon während der letzten Jahre in Gestalt von Erdbeben wiederholt schwer heimgesucht hatten. - Das diesmalige Erdbeben wütete hauptsächlich in der Provinz Larissa, also im nördlichsten Teile Griechenlands, doch litten auch die Provinzen Theben, Lokris u.s.w. heftig unter den Wirkungen des Erdbebens, dessen Stöße man selbst in dem viele Meilen vom Zentrum der Katastrophe entfernten Athen spürte. Obwohl der angerichtete Schaden und die Zahl der getöteten und verwundeten Opfer der Katastrophe noch nicht genau ermittelt ist, so steht doch schon fest, daß das Erdbeben in seinen verheerenden Wirkungen das ähnliche elementare Ereignis, welches seiner Zeit die Insel Zante traf, noch übertrifft.
Athen, >23. April. Die neueren Nachrichten aus den Provinzen über das fortgesetzt periodenweise auftretende mitunter mehrere Sekunden anhaltende Erdbeben lauten sehr betrübend. Bis jetzt wurden über 300 Todesfälle bekannt. Strichweise sind alle Häuser zertrümmert, die Bewohner befinden sich in großem Elend und ohne jegliche Nahrung nackt und bloß auf freien Feldern. Von der Regierung wurde schleunige Hilfeleistung und die Verteilung von Nahrungsmitteln angeordnet.
Telegramme an den Enzthäler.
Berlin, 25. April. Der Reichstagsabgeordnete v. Plötz veröffentlicht in der Kreuzzeitung einen langen Artikel über die Stellung des Bundes der Landwirte zur Regierung, worin er die Angriffe gegen den Bund und hauptsächlich die Aeußerungen Caprivis zurückweist, die Not der Landwirte schildert und Ordnung, der Steuerpolitik verlangt. Der tiefere Grund dafür. daß das Vertrauen des Landes zum neuen Kurse geschwunden, sei in der allgemeinen Bahnbrechung der Gefühle zu suchen, daß es die Ratgeber der Krone an der nötigen Orientierung über den landwirtschaftlichen Notstand an höchster Stelle fehlen lassen.
Prag. 25. April. Montag Nacht explod. in Liebshausen bei Bilin vor dem Hause des Hauptmanns Steiner eine Bombe, welche das Haus, die benachbarte Kirche und Schule, sowie andere Gebäude stark beschädigte. Menschenleben wurden nicht gefährdet. Der Urheber ist noch nicht ermittelt.
Jassy, 24. April. Das kleine Städtchen Oegresci wurde durch eine große Feuersbrunst vollständig eingeäschert. Mehrer hundert Familien müssen im Freien übernachten.
Unterhaltender Heil.
Das Sumpfhauslenerl.
Eine Dorfgeschichte von A. v. Hahn.
(Fortsetzung 3.)
(Nachdruck verboten.)
Und die Tage vergingen. Die Sonne ging auf und unter, es wurde Sommer und Winter und endlich konnte Lenerl, als sie eines Morgens auf ihrem Strohlager erwachte, jubelnd konstatieren. daß es nur noch einmal Winter zu werden brauchte und sie war wieder frei.
Zärtlich preßte sie die Hand auf die liebeatmenden Briefe, die sie am Herzen trug und die Franz immer rechtzeitig, allmonatlich, wie sie es verabredet hatten, in ihr Exil sandte. Erstickend heiß quoll es in ihrem Herzen auf, wenn sie sich der Vorstellung hingab, wie er sie bei ihrem Austritt aus den engen Kerkermauern empfangen würde, wie er sein ganzes Leben nur zu einer großen Danksagung werde gestalten wollen und wie sie diese überschwänglichen Aeußerungen werde abwehren müssen, denn er sollte es nicht so tief empfinden, sollte sich nicht dadurch bedrückt fühlen, sondern nur glücklich, unendlich glücklich in ihrer Liebe werden.
Wieder waren ein paar Wochen in öder Langeweile in unendlichem Sehnen, in Bangen und Verzagen für sie dahingegangen. Wer nie die goldene Freiheit entbehrt hat, er kennt sie nicht, die bleierne, niederdrückende, entsetzenbringende Mutlosigkeit, die den Gefangenen Stunde um Stunde verzehrt.
Eines Morgens wurde Lenerl zum Strafanstaltsdirektor geführt und mit freundlicher Miene machte er ihr die frohe Verkündigung, daß ihr der viermonatliche Rest ihrer Strafzeit in Anbetracht ihrer tadellosen Führung erlassen sei.
Mit einem Freudenschrei fiel Lenerl auf die Knie.
„Heilige Muttergottes, wie bist Du gnädig!" rief sie jauchzend, während sie die abgemagerten Hände emporsteckte und ein heißer Thränenstrom ihr blasses Antlitz überflutete. „Heut noch soll i wieder fort?"
Als der ernste Mann ihr bewegt zunickte, da fuhr sie jubelnd wie ein Kind mit freudebebender Stimme fort: „i soll die Sonne heut noch seh'n? — den blauen Himmel — soll die Vögel sing'n hör'n — denn s'ist ja Sommer
— Sommer ist's und mein' Berge, meine grün'n Berg' soll i seh'n!"
Aevgstlich, wie ein Kind die ersten Schritte macht, trat sie mit beklommenem Atem über die Gefängnisschwelle hinaus in die Freiheit. Ihr dürftiges Auge umfaßte groß und weit mit einem unendlichen Liebesblick die ganze Welt.
— Oben blauer Himmel — rechts und links freie Luft, Alles groß und weit. Keine Schranke war ihren Schritten gesetzt, sie konnte nach freiem Ermessen nach allen Richtungen hinstreben. Wohin sie schaute, war die Welt, wohin sie ging, Freiheit, überall um sie her dasselbe Herrliche, die große, schöne Schöpfung gehörte ihr, — „ich bin die Welt," — kam die philosophische Erkenntnis über sie.
Jauchzend und erschüttert, von Seligkeit übermannt, trat sie den Weg zum Bahnhof an. Ihr Entzücken über die wiedergewonnene Freiheit war so groß, daß sie erst jetzt, als sie, von ihren überwältigenden Gefühlen wie auf Flügeln dahingetragen, auf dem Bahnhof anlangte, an Franz und die Wonnen des Wiedersehens dachte.
Was sie zuerst versäumt, dem widmete sie sich aber nachher mit um so beglückenderer Hingabe. Jede Gefühlsphase des bevorstehenden Wiedersehens zauberte sie in entzückender Detailmalerei vor ihr geistiges Auge. Jeder Blick, jeder Händedruck sollte ja ein Ereignis werden,
— sein Jubel — sein Staunen, o Gott, o Gott, welche Ueberfülle von Glück!
Berauscht drückte sie beide Augen zu und überließ sich ihren beseligenden Betrachtungen,
die ihr freudelechzendes Herz in erstickendem Wonnegefühl wollustartig schwellten.
Aber die Freude und Ungeduld, als das Lenerl die Eisenbahn im Rücken hatte und in die Post gestiegen war. die sie nach dem Heimatsdorf bringen sollte! sie wußte nicht ein, nicht aus mit ihren Gefühlen. Unruhig auf dem Polstersitz hin und her rückend, blickte sie bald links bald rechts zum Wagenfenster hinaus. Ach, es ging so langsam vorwärts und so viele Ortschaften waren zu passieren, ehe sie in das Thal einbogen, in dem ihre Heimat lag. Der Postillon blies, der Karren hielt vor der Schenke, dessen Wirt zugleich Postverwalter war, ein Passagier stieg aus und ein neuer kletterte ein. Dann gings weiter, langsam aber sicher immer dem Glück entgegen, dachte Lenerl innerlich frohlockend.
Sie hatte sich's so zurecht gelegt. Vor dem Dorfp wollte sie dort, wo sich der Weg abzweigt, der nach dem Sumpfe führt, aussteigen. Wozu sollte sie sich erst im Dorfe verletzenden Blicken und dem scheuen Ausweichen Bekannter aussetzen. Dort am Wege wollte sie warten, bis der Geliebte kam, den der Postillon Hinbescheiden sollte; da er sie nicht kannte, würde er dem Liebsten ja nicht verraten können, wer auf ihn harrte. Und wenn er dann gekommen war und wenn sie einander lachend und weinend in die Arme gesunken waren, dann gingen sie nach dem Sumpfhaus. Dort konnten sie sich aussprechen und dort wollte sie sich so lange aufhalten, bis er reisefertig war und mit ihr hinauszog in die schöne, große Welt, zw neuem Leben, zu Freiheit und Glück.
In seliges Sinnen versenkt, achtete sie weder auf die Mitreisenden noch deren Gespräche, bis ein bekannter Laut, der wiederholt mechanisch an ihr Ohr schlug, sie aufrüttelte:
„Sie wollte erst nicht," sagte der eine Fremde, „aber er hat ihr kein' Ruh' g'lasf'n und am End' hat er a recht, daß er d' Heimat verläßt, eh' dös Unglücksmadel zurückkehrt."
„War er denn wirkli mit ihr versproch'n?"
„Man sagt ja, daß sie den Bauern in da Aufregung, weil er ihr erklärte, aus ihrer Heirat mit dem Huberfranz könnt' nix werd'n, an da Brust packte und niederstieß."
„Da ist's also nur an unglücklicher Zufall g'wes'n?"
„Weiß man's?" meinte der Andre achselzuckend. „Zeug'n waren net bei und blaue Flecken hat d'Leich a am Hals g'habt."
„Schade um den schönen Hof, wann's da Bauer selig müßt, im Grab thät a sich umdreh'n."
,,D' Toni soll sich a d'Aug'n ausg'weint haben, eh' sie ihr' Einwilligung gab, aber da Hubersranz ist hart, was der si in' Kopf setzt, führt er a durch."
Mit umflortem Blick, zwei brennende Flecken auf den Wangen, war Lenerl der Auseinandersetzung atemlos gefolgt.
„Bon wem sprecht Ihr?" fragte sie aller Selbstbeherrschung baar, drohend mit heiserer Stimme.
Die beiden wohlhäbigen Bauern sahen das ärmlich gekleidete Mädchen erst eine Weile hochmütig, prüfend an, ehe ihr der eine gezwungen den kurzen Bescheid gab: „Vom Huberfranz."
„Was ist's mit ihm?" fuhr Lenerl bebend fort, sie hatte die aufgeblasene Zurückhaltung, die dem bäurischen Dünkel eigen ist, gar nicht bemerkt. „Was ist's mit ihm, sprecht!" wieder- holte sie ihre Frage heftig.
Die beiden Bauern sahen einander verwundert an und hüllten sich dann in noch vornehmere Reserve.
„Um der Barmherzigkeit Gottes wegen sprecht, gebt mir Bescheid!" rief Lenerl verzweifelt.
„Was willst' denn wissen, Madel?" bekam sie endlich ungeduldig zur Antwort.
„Was habt Ihr von ihm derzählt?"
„Doaß a den Hof verkauft hat und nach Amerika geh'n wird."