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MeiLcrge zu Wr. 33 des KnztHcrLers.

Neuenbürg, Donnerstag den 1. März 1894.

Deutsches Weich.

Berlin, 26. Febr. Anläßlich der heutigen Handelsvertragsdebatte war im Rcichstckg ein sehr zahlreiches Publikum anwesend. Lange vor Beginn der Sitzung konnte man keine Tribünen­karlen mehr erhalten, vor dem Reichstagsgebäude hielten Schutzmänner die Ordnung aufrecht. Im Sitzungssaale waren beinahe sämtliche preußische Minister und der Reichskanzler anwesend. Alle Fraktionen waren sehr zahlreich vertreten.

Berlin, 26. Febr. (Deutscher Reichs­tag. Erste Lesung des russischen Handels­vertrages. Am Regierungstische sitzen Caprivi, v. Marschall, v. Bötticher, v. Posadowsky, Thielen, ferner viele Räte. Graf Mirbach (d.kons.) sucht darzulegen, daß die Annahme des rumänischen Handelsvertrages keineswegs die Annahme des russischen Vertrags bedinge. Die konservative Partei stehe in scharfem Gegensätze zu der Wirtschaftspolitik des Reiches, sie pole­misiere nicht gegen Personen, sondern nur gegen deren Handlungen. Der russische Handelsver­trag bedeute eine wirtschaftliche Stärkung Ruß lands. Der Vorteil für die Industrie werde viel geringer sein als der der Landwirtschaft zugesügte Schaden. Die Aufhebung des Iden­titätsnachweises sei ja wertvoll; aber eine Com­pensatio» für den russischen Handelsvertrag sei sie nicht. Seine Partei Halle an der kraftvollen Politik Bismarcks fest. Redner beantragt Ueber- weisung der Vorlage an eine Kommission. Staatssekretär v. Marschall empfiehlt die Vor­lage vorurteilslos zu beurteilen. Was die Einzelheiten des Vertrages betreffe, hätten wir erreicht, was wir erreichen konnten. Das Wert­vollste am Vertrage sei seine Stabilität der Zollsätze für unsere Industrie. Er bittet den Vertrag anzunehmen. Moltke (kons.) spricht gegen den Vertrag, weil er die Landwirtschaft und auch die Industrie schädige. Wenn der Vertrag auf 3 Jahre gebunden wäre, hätte ein Teil seiner Freunde dafür gestimmt. Rickert (frei,.) spricht sich gegen eine Kommissions­beratung aus und ist im Interesse unseres Ostens für den Vertrag. Redner polemisiert gegen die Konservativen, welche so schwere Vorwürfe gegen Caprivi und seine Mitarbeiter erheben. Hätte Bismarck den Handelsvertrag eingebracht, so würden ihn die Konservativen als staatsmänni- sches Machwerk gepriesen haben. Die Partei des Redners stimme für den Vertrag, weil sie hoffe, er werde weitere segensreiche Folgen haben. Morgen Fortsetzung. 27. Febr. Die Tribünen sind überfüllt, der Sitzungssaal ist ziemlich gut besucht. Am Bundesratstifch: Caprivi. v. Mar- schall, v. Bötticher, Miguel u. a. Kardorff (d.-kons.) begründet seinen neben dem Handels­vertrag auf die Tagesordnung gesetzten Antrag auf Einführung der gleitenden Zollskala. Der Vertrag werde in dem Moment illusorisch, wenn die Valuta im Sinken sei. Unsere Ostseepro­vinzen eigneten sich vor allem zum Roggenbau und würden sich beim Aufhören der Roggen­konsumtion in Wildnisse verwandeln. Der Schutz­zöllner Meline sei der klügste und bedeutendste lebende Staatsmann. Reichskanzler Caprivi hebt hervor, der vorliegende Vertrag empfehle sich von sich selbst aus wirtschaftlichen Gründen und bedürfe nicht der Unterstützung aus^ politi­schen Gründen. Alle Behauptungen über Streitig­keiten und Meinungsverschiedenheiten auch im preußischen Ministerium und bezüglich der Währ­ungsfrage seien durchaus unbegründet. Die Politik des Dreibundes sei nach wie vor fried­lich, auch dieser Vertrag sei ein Werk des Frie­dens; er beweise, daß wir auf 10 Jahre an die Erhaltung des Friedens glauben. Caprivi zitiert sodann den Bismarck'schen Ausspruch vom Jahre 1879, worin dieser sagt, er werde nicht ablassen, nach einem Handelsverträge mit Ruß­land zu streben und wenn es 50 Jahre dauere und wenn nicht er selbst, so sein Nachfolger. Redner schließt unter brausendem Beifall mit >

den Worten: Der Nachfolger des Fürsten Bis­marck ist bestrebt gewesen, dieses Versprechen ein- znlösen. König (Antis) polemisiert gegen den Handelsvertrag. Man suche die Gegnerschaft gegen die Vorlage als unpatriotisch zu brand­marken. Man möge sich daran erinnern, daß die jetzigen Gegner des Handelsvertrages zur Zeit aus Patriotismus die Militärvorlage an­genommen haben. Zwischenruf Singers: Oder aus Dummheit, wie bei den Antisemiten. (Großer Lärm, Ordnungsruf.) Bennigsen (nat.-lib.) erklärt, der Vertrag sei nicht das letzte Glied in der Entwickelung unseres Handels und unserer Industrie. Rußland besitze eine erstaunliche Ent­wicklungsfähigkeit und biete uns für die Zukunft ungeahnte Vorteile. Redner empfiehlt warm die Annahme des Vertrags, indem er zugleich die Hoffnung ausspricht, das Haus werde der Aufhebung des Identitätsnachweises zustimmen. Letzteres dürfe aber nur unter der Voraussetzung der Aufhebung der Staffeltarife geschehen. Lutz (kons.) verwahrt den Bund der Landwirte gegen den Vorwurf, zerstörende Tendenzen zu besitzen. Der Reichskanzler und nicht der Bund der Land­wirte suche eine Tendenz herbeizuführen von Landwirtschaft und Industrie zwischen den Inter­essen des Ostens und Westens. Da kein Grund vorliege, den Vertrag anzunehmen, bitte er um Ablehnung desselben. Nachdem Caprivi kon­statiert hat, daß er und auch v. Marschall be­reits früher auf die Wahrscheinlichkeit der Ein­bringung des russischen Vertrages hingewiesen hätten, wird die Beratung auf morgen vertagt.

Berlin, 27. Febr. Nach derNational­zeitung" sind die Aussichten vorhanden, daß nur eine kleine Anzahl von Mitgliedern der national- liberalen Fraktion gegen den deutsch-russischen Handelsvertrag stimmt. Infolge der neuer­lichen Fraklionsverhandlungen ist eine diesbe­zügliche Besserung eingetreten und nehmen heute nur noch 12 Mitglieder eine ablehnende Haltung ein. Von der naiionalliberalen Partei sprechen für den Vertrag Bennigsen, Hammacher, Möller und Osann, dagegen Hehl.

Berlin, 27. Februar. Heute Vormittag fand eine Sitzung des Slaatsministeriums unter dem Vorsitze Eulenburgs statt, welcher Ca­privi und Staatssekretär v. Marschall bei­wohnten. DerPost" zufolge dürfte feststehen, daß die preußischen Staffeltarife für Getreide und Mühlenfabrikate aufgehoben werden.

Berlin, 27. Febr. An maßgebender Stelle ist ein amtliches Schreiben aus Stuttgart einge­troffen, daß der bisherige Gesandte v. Moser von seinem hiesigen Posten abberufen ist. Ueber dessen Nachfolger ist noch kein bindender Ent­schluß gefaßt.

Hamburg, 27. Febr. Zwei Czechen, mut­maßlich Führer der hiesigen anarchistischen Be­wegung, wurden verhaftet, weil sie Flugblätter verbreitet hatten. Biel Material wurde be­schlagnahmt.

Leipzig, 27. Febr. In einer gestrigen Versammlung der sächsischen Großindustriellen wurde beschlossen, im Jahre 1895 in Leipzig eine sächsisch-thüringische Gewerbeausstellung zu veranstalten.

Das Ausbleiben des SchulschiffesStosch" an einer bestimmten Station hatte in weiteren Kreisen Besorgnisse hervorgerufen, man fürchtete hie und da sogar schon eine neue Katastrophe für die deutsche Marine. Jetzt teilt indessen das Oberkommando der Marine mit, der am 8. Februar von Havannah nach den Azoren ab­gegangeneStosch" habe laut seinem Reiseplan am 7. März an der genannten Unterwegsstation einzutreffen, das Schiff befindet sich also zur Zeit noch auf der Reise nach den Azoren.

Metz, 24. Febr. Ein schrecklicher Un­glücksfall ereignete sich heute Nachmittag in der Wohnung eines Offiziers. In Abwesenheit des Offiziers gesellte sich zu dessen Burschen nach Kinderart das vierjährige Söhnchen einer in i demselben Stockwerke wohnenden Familie. In l

dem Wohnzimmer des unverheirateten Offiziers soll nun auf einem Tische ein Revolver gelegen haben, mit dem der Bursche hantierte. Plötzlich krachte eine Schuß, und das Knäb lein sank, in den Kopf getroffen, tot zu Boden. Die Verzweiflung der Eltern kann man sich denkeck. Wie viel erschütternder Lehren wird es noch bedürfen, bis man endlich dazu kommt, mit Feuerwaffen so vorsichtig umzugehen, wie es die Notwendigkeit erheischt!

Württemberg.

Aus Württemberg, 24. Febr. Die Bevölkerung der Oberämter Blaubeuren, Mün- singen, Ehingen. Laupheim, Kirchheim, Nürtingen, Eßlingen und Urach empfindet es seit geraumer Zeit als schwere Last, daß sie den Ersatz für das zum XV. Armeekorps abkommandierte, in Straßburg garnifonierende 8. württembergische Infanterieregiment zu stellen hat. Wiederholte Bitten und Vorstellungen haben nun, wie wir in derAllg. Ztg." lesen, dazu geführt, daß schon von dem Jahrgang 1893 eine größere Anzahl Rekruten den einheimischen Garnisonen zugeteilt wurde. Diese Zuteilung soll künftig in noch größerem Maße statlfinden und das Kontingent für das Straßburger Regiment Nr. 126 vom ganzen Lande, namentlich von den Verzogenen", aufgebracht werden. (Str. P.)

Stuttgart, 24. Febr. Die Teilnahme mit den auf derBrandenburg" Verunglückten ist in allen deutschen Landen die gleiche. Auch in Württemberg ist man bestrebt, für die Hinter­bliebenen zu sorgen im Sinne des Aufrufs der Prinzessin Heinrich. Eine Sammlung soll dem Vernehmen nach eingeleitet werden.

Stuttgart, 25. Febr. Zu Ehren des Geburtsfestes des Königs versammelten sich die Präsidialmitglieder des Württ. Krieger­bundes, einem seit Jahren geübten Brauche folgend, gestern Vormittag '/,12 Uhr im Palais des Prinzen Herrmann zu Sachsen-Weimar. In dem ausgebrachten Hoch gab der Prinz der Freude über den heutigen Festtag, aber auch dem Ernst der Zeit, der das Zusammenhalten aller patriotisch gesinnten Männer doppelt nötig mache, Ausdruck. Die Glückwünsche des Bundes sind dem hohen Protektor in einer Adresse dar« gebracht worden.

Stuttgart, 26. Febr. Am Samstag wurden hier vier hiesige Anarchisten verhaftet, Buchbinder Machner, Klaviermacher Meixner, Buchbinder Biel und Buchbinder Hoffmann. Es verlautet, die Verhaftung sei erfolgt wegen Aeußerungen die sie in einer sozialdemokratischen Versammlung über die Propaganda der That gethan hätten.

Ulm, 23. Febr. Der erste Treffer der Münsterbaulotterie ist heute von Stuttgart aus für ein New-Iorker Bankhaus zur Einlösung angemeldet worden. Der Gewinn ist also nach Amerika gefallen.

Laupheim, 24. Febr. Der hies. Ge­werbeverein feiert in diesem Jahr sein 25jähr. Bestehen. Er verfügt über ein eigenes Stamm­kapital von 80000 ^ einen Reservefonds von 25000 hat einen Umsatz von 2 Millionen Mark und zahlt den Mitgliedern für ihre divi­dendenberechtigte Einlage pro 1893 6°/o Zins. Die Bank ist eine Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht, weswegen die Mitgliederzahl im Zunehmen ist.

Tübingen, 18. Febr. Auf Einladung der hies. Ortsgruppe des allgemeinen deutschen Sprachvereins hielt gestern Abend Prof. Erbe aus Stuttgart im unteren Museumssaale vor einem ungemein großen Zuhörerkreise einen sehr anziehenden Vortrag überSchriftdeutsch und Schwäbisch." Er führte aus, daß wir durchaus keinen Grund haben, der schwäbischen Mundart uns zu schämen. Die Bedeutung der Dialekte werde von Jahr zu Jahr mehr erkannt. Wenn auch nicht gerade nach der Forderung eines Schweizers beim deutschen Unterricht von der